In meinem Newsletter schreibe ich jede Woche über die wichtigsten Dinge, die ich gelernt habe. In der ersten Staffel des Newsletters geht’s ums Arbeiten: um Stress und das Ende des Burnouts, den Sinnkult, den Produktivitätskult und um die Frage, warum To-do-Listen oft so schlecht funktionieren. Beruhend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, meiner Erfahrung und mithilfe von Expert:innen. In der letzten Folge ging es darum, warum Produktivitäts-Apps oft das Gegenteil von dem bewirken, was sie sollen. Hier kannst du den letzten Beitrag nachlesen.
Heute geht es um Zeit – deine Zeit – und um Gerechtigkeit. Die Journalistin Teresa Bücker hat darüber ein kluges Buch geschrieben, das gestern erschienen ist, es heißt „Alle Zeit“. Bücker schreibt darüber, dass Zeit in unserer Gesellschaft ungerecht verteilt ist – viele Menschen sind zeitarm. Sie haben in ihrem Leben zu wenig Platz für all die wichtigen Dinge, mit denen man kein Geld verdient: für die Liebe zu anderen Menschen, für Sorgearbeit, aber auch für Erholung. Zeitarmut macht uns erschöpft, zerstört Beziehungen und überlasst politisches Engagement denen, die es sich leisten können, sagt Bücker.
Ich habe sie um einen Auszug aus ihrem Buch für die Leser:innen dieses Newsletters gebeten. Ich freue mich sehr über den, den sie ausgewählt hat. Es geht darum, dass selbst unsere Freizeit oft einem Job gleicht, weil wir meinen, etwas erreichen zu müssen. Mein Lieblingssatz: „Freizeit lässt sich nicht daran erkennen, was eine Person tut, sondern wie sie sich dabei fühlt.“ Und damit übergebe ich an Teresa Bücker.
Warum Erwachsene spielen müssen
Wann haben Sie das letzte Mal die Zeit vergessen? Und was bedeutet es, wenn das passiert? Wenn uns die Uhrzeit präsent ist, wir die Dauer von etwas abschätzen können, erleben wir das, was wir tun, anders, als wenn Zeit keine Rolle spielt. Das Bewusstsein der Endlichkeit einer Situation setzt dem inneren Erleben eine Grenze. Bei unangenehmen Ereignissen ist dieser Effekt nützlich, da der Ausblick auf das Ende beruhigt und Erleichterung verspricht. Die feinen Stiche einer Tätowiernadel lassen sich aushalten, weil wir wissen, dass der Schmerz abebben wird, sobald das Muster in die Haut gestochen ist. Bei Berührungen, die sich gut anfühlen, wünschen wir uns, dass sie länger dauern und denken bereits mit Wehmut daran, dass sie gleich vorbei sein werden. Um die Zeit vergessen zu können, muss das, was wir erleben, länger andauern als nur ein paar Minuten.
Wenn wir die Zeit vergessen, fühlen wir uns leicht, frei und entfesselt. Der Fokus liegt dann auf dem Erleben selbst, seine begrenzte Dauer wird unwichtig. Oft sehnen wir uns nach mehr Zeit, aber erst wenn wir ihr Verstreichen nicht bemerken, erfahren wir sie als üppig und offen. Ein ungezwungenes Verhältnis zu unserer Zeit entsteht dann, wenn wir sie vergessen können, weil die Situation es erlaubt. Wenn die Grenzen der von uns erschaffenen artifiziellen Uhrenzeit gerade nicht spürbar sind. Diesen Zustand beschreiben wir auch als Versunkensein, wir wenden uns dem inneren Erleben zu, unseren Emotionen. Wir blenden das Äußere, das Rationale, die vielen Gedanken ein Stück weit aus. Wir spielen.
Echte Freizeit ist frei von Erwartungen
Wenn Kinder eine Beschäftigung aufnehmen, um dafür von ihren Eltern Anerkennung zu bekommen, entfernen sie sich vom puren Spiel. Das ursprüngliche freie Spiel ist intrinsisch motiviert. Kinder beginnen es aus sich selbst heraus, aus der Freude am Entdecken und an Interaktion. Wir alle können spielen, in jedem Alter, wenn wir aufhören, die eigene Zeit ausschließlich instrumentell zu nutzen. Die Spielzeit stellt sich gegen das Gebot der herrschenden Kultur, Zeit effizient zu nutzen und mit jeder Tätigkeit bereits etwas zu verfolgen, das noch in der Zukunft liegt. Spielen braucht keinen anderen Zweck als das Spiel selbst. Spielen zu können und die Zeit zu vergessen, heißt, frei zu sein.
Der deutsch-amerikanische Psychologe John Neulinger hat diesen Zustand als „pure leisure“ bezeichnet und die pure Muße als Gemütsverfassung definiert, als „eine Art zu sein, mit sich selbst und mit dem, was man tut, im Frieden zu sein“. Freizeit lässt sich also nicht daran erkennen, was eine Person tut, sondern wie sie sich dabei fühlt. Neulinger zufolge ist es der Grad der „wahrgenommenen Freiheit“, der die unterschiedlichen Dimensionen des Zeiterlebens voneinander unterscheidet. Pure Freizeit sei frei von Erwartungen anderer, frei von Zwängen, wie zum Beispiel sozialen Normen oder Zielen, die man mit einer Tätigkeit erreichen will. Pure Freizeit entstehe dann, wenn man sich innerlich völlig freimachen könne von dem, was andere möglicherweise über den eigenen Zeitvertreib denken, und wenn man selbst dabei keinerlei andere Zwecke verfolge als schlicht das, was man gerade tue, bewusst zu erleben.
Wer sich zum Sport zwingt, erlebt keine Freizeit
Nach dieser Definition handelt es sich bereits dann nicht mehr um pure Freizeit, wenn die Zufriedenheit nicht unmittelbar durch die Beschäftigung selbst entsteht, sondern durch deren Ergebnis. Als Beispiel nennt Neulinger Sport, den wir treiben, um etwas für unsere Gesundheit zu tun oder uns danach gut zu fühlen. Einen noch niedrigeren Grad an Freiheit hat diese Aktivität, wenn zunächst innere Widerstände überwunden werden müssen und man sich quasi dazu zwingt, Sport zu treiben. Würde man hingegen wirklich frei wählen, wäre es egal, welche Effekte durch den Sport zu erwarten sind, und man würde sich vor allem aus Freude daran bewegen. Die sozialen Normen, die zu sportlichen Aktivitäten auffordern, kommen einer Fremdbestimmung gleich. Andere Beispiele für unfreie Freizeit könnten sein, wenn man zu einem Treffen mit Freund:innen nur geht, weil man befürchtet, beim nächsten Mal nicht mehr eingeladen zu werden. Oder man bepflanzt den Balkon, um mit dem Blumenaufgebot der Nachbar:innen mithalten zu können. Neulinger schreibt, dass eine Aktivität, wenn die Belohnung vorrangig extrinsisch erlebt wird, einem „Job“ gleiche und somit ihren Freizeitcharakter verliere.
Im Deutschen gibt es die Wendung, etwas „aus Lust an der Freude“ zu tun, die vielleicht nachvollziehbarer macht, was John Neulinger mit „pure leisure“ meint. In diesem Gemütszustand tue ich etwas allein aus dem Grund, weil es mir Spaß bereitet, ich es genießen kann, weil ich dabei alles um mich herum vergesse. Diese Tätigkeit ist wertvoll aus sich selbst heraus. Ich muss niemandem davon erzählen, sie wirkt auf nichts hin, ich brauche sie nicht als Ausgleich und nicht für meine Zukunft. So gesehen ist das, was man in Zeiten purer Muße tut, etwas Zeitloses.
Könnten Sie auf Anhieb sagen, was für Sie diese zeitlosen Beschäftigungen sind? Schaffen Sie es, gleich an etwas zu denken, das mit keinem anderen Zweck als dem puren Vergnügen verbunden ist? Ich selbst musste länger überlegen, um die Freizeitaktivitäten zu entdecken, mit denen ich keinerlei Ziel verfolge. Tatsächlich war ich überrascht festzustellen, wie viele Dinge, die ich sogar genieße, ich nicht allein um ihrer selbst willen tue. Ich gehe gern laufen, aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich meinen Körper in Bewegung setze. Ich lese gern, aber mit manchen Büchern beschäftige ich mich auch nur, weil ich mitreden oder klüger werden möchte. Vielleicht sehne ich mich deshalb so oft nach dem Meer. Am Strand zu sitzen und auf die Wellen zu schauen, Steine ins Wasser zu werfen und Muscheln zu sammeln, ist kostbar und magisch, weil ich in dieser Zeit tatsächlich einfach nur sein kann.
Für Mädchen ist Zeitstress eine „Pflichtnorm“
Als ich mit Mitte 30 las, wie stark der gesellschaftliche und familiäre Einfluss darauf ist, ob Frauen sich Freizeit zugestehen, dämmerte mir, woher meine eigenen Prägungen stammen und welche Verantwortung ich als Mutter nun habe, damit meine Tochter einen freien Zugang zu ihrer Zeit finden kann. Im Heranwachsen, das für die meisten Kinder noch immer bedeutet, geschlechtsspezifisch sozialisiert zu werden, verinnerlichen als Mädchen erzogene Kinder Selbstausbeutung und Zeitstress als „Pflichtnorm“, so die Soziologin Jenny Shaw. Das bedeutet, dass sie permanent für andere verfügbar zu sein als Teil der weiblichen Rolle sehen und um das „Frausein“ möglichst gut zu erfüllen, sich keine Zeit für eigene Bedürfnisse zugestehen. Die Freizeitwissenschaftlerinnen Charlene S. Shannon und Susan M. Shaw, die in einer Studie gezeigt haben, dass Töchter ihr Freizeitverhalten vor allem von ihren Müttern lernen, vermuten daher: „Den Kreislauf von Müttern zu durchbrechen, die sich keine Zeit für persönliche Freizeit nehmen, könnte herausfordernd werden.“
Mädchen sollten frühzeitig lernen, dass ihnen genauso viel freie Zeit zusteht wie anderen Menschen. Sich möglichst gut um Kinder zu kümmern, heißt daher besonders für Mütter, sie regelmäßig in der Obhut anderer Menschen zu lassen, pure Freizeit zu verbringen und ihnen später zu erzählen, was sie getan haben, um Freude zu empfinden und sich frei zu fühlen. Die Autorin Alexandra Zykunov hat beispielsweise mit ihrem Partner die Absprache getroffen, sich gegenseitig Wochenenden ohne Familie zu ermöglichen. So bekommen beide regelmäßig zwei Tage ganz für sich. Sollten wir nicht Wege finden, diese kleinen Freizeiten auch Alleinerziehenden zu ermöglichen?
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man zunächst einmal überfordert sein kann, wenn man nach einer langen Phase mit wenig Eigenzeit plötzlich viel davon hat. Als erwachsener Mensch nicht auf Anhieb zu wissen, bei welchen Tätigkeiten man pure Muße empfindet, ist völlig normal, wenn dafür im Alltag lange Zeit kein Platz war. Wenn man freie Zeit mit Erholung von der Arbeit verwechselt oder vielleicht dazu neigt, sich eher mit materiellen Dingen zu belohnen – Stichwort Frustshoppen. Catherine Price gibt in „The Power of Fun“ einige Anregungen, wie man die eigenen Freizeitvorlieben wieder- oder neu entdecken kann. Dafür sollte man zunächst Zeitspannen für „Stille und Offenheit“ in den Alltag integrieren, um Dinge ausprobieren zu können und dabei festzustellen, bei welchen Tätigkeiten man „Verspieltheit, Verbindung und Flow“ erlebt. Diese drei Aspekte müssen laut Price zusammenkommen, damit Menschen „wahre Freude“ empfinden, die auch langfristig ihr Wohlbefinden verbessert. Um mental für neue Erfahrungen Platz zu schaffen, planen die Wissenschaftsjournalistin und ihre Familie mittlerweile feste Zeiten ein, die sie ohne ihre Smartphones verbringen. So vereinbaren ihr Mann und sie ab und an einen „digitalen Sabbat“, verzichten also von Freitag- bis Samstagabend auf ihre digitalen Geräte. Das nervöse Verlangen danach höre meist etwa Samstagmittag auf und verwandle sich in eine Art Erleichterung, die beinahe körperlich spürbar werde, so Price: „Am Nachmittag stellen wir oft fest, dass wir unsere Freiheit so sehr genießen, dass wir die Bildschirme gar nicht mehr anschalten wollen.“
Auch seichtere Unterhaltung einfach genießen
John Neulinger hat darauf hingewiesen, dass Freizeitaktivitäten einem Job ähneln können, wenn die dadurch erlangte Zufriedenheit sich über ein Ziel ergibt, das man mit ihnen verfolgt. Sogar Tätigkeiten, die man auf den ersten Blick mit Erholung und Unterhaltung verbindet, wie Serien zu schauen, können einen solchen Jobcharakter annehmen. Insbesondere Menschen mit höherer formaler Bildung nutzen diese Verschiebung hin zur Nützlichkeit sogar dazu, den eigenen Medienkonsum zu rechtfertigen. Die Kenntnis neuer Serien oder der weltweiten Nachrichtenlage wird von ihnen als kulturelle oder politische Weiterbildung betrachtet und ist dann ein Must-have, um in ihren Peergroups oder beruflichen Kontexten mitreden zu können. Man hört einen Podcast also nicht, weil man sich wirklich für ein Thema interessiert, sondern aus dem Gefühl heraus, ohne das darin vermittelte Wissen nicht mehr mithalten zu können. So arbeiten wir teilweise in unserer Freizeit an unserer sozialen Position. Seichtere Unterhaltung wird dann als „guilty pleasure“ entschuldigt, statt sie einfach zu genießen. Wie selbstbestimmt ist also Mediennutzung, wenn man dabei sozialen Normen folgt oder an den Job denkt? Wie freizeitlich fühlt sie sich an, wenn sie einer To-do-Liste gleicht?
Wie manche Menschen ihren Medienkonsum begreifen, zeigt, dass Zeit von uns als Ressource betrachtet wird, „die ausschließlich instrumentell als Mittel zum Erreichen von Zwecken“ dient. Auch während der Freizeit müssen wir Ziele erreichen, die in unserer Kultur als erstrebenswert gelten. Auf diese Weise nimmt Arbeit (an uns selbst) immer größere Teile unserer Zeit ein. Es ist gar nicht notwendig, nach Feierabend noch berufliche E-Mails zu bearbeiten oder für den Job zu netzwerken: Entgrenzte Arbeit bedeutet, dass wir kontinuierlich an uns selbst arbeiten, zum Nachteil unserer souveränen Eigenzeiten.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert