Ich will mich ja nicht einmischen, aber hast du eigentlich Zeit, diesen Text zu lesen?
Ich wette, nein. Auf deiner To-do-Liste warten wahrscheinlich zwanzig Punkte darauf, abgearbeitet zu werden (auf meiner übrigens auch). Aber halt, bevor du dich jetzt davon machst: Genau darum geht es heute in meinem Newsletter. Darum, dass du an deiner To-do-Liste scheitern wirst. Egal, wie viele Produktivitätstools du nutzt. Und das ist nicht nur okay – es geht gar nicht anders.
Oliver Burkeman kam diese Einsicht an einem Wintertag auf einer Parkbank. Burkeman hat vierzehn Jahre lang für die britische Zeitung The Guardian eine Kolumne mit dem bescheidenen Titel „This Column Will Change Your Life“ geschrieben. Er war, wie er selbst sagt, ein Produktivitätsnerd – immer auf der Suche nach den besten Tools, um seine Zeit zu optimieren und sie möglichst effizient zu nutzen.
Die Zeit melken müssen
An jenem Tag im Winter 2014 also saß er mit einer besonders irrsinnigen To-do-Liste auf einer Parkbank in Brooklyn und erkannte, dass es hoffnungslos war. Er würde es nie, niemals schaffen, so produktiv zu werden, wie er es müsste, um seine Liste abzuarbeiten.
Dieser Krise folgte eine Erkenntnis: Er begriff, dass der Versuch, immer noch mehr aus der ihm verfügbaren Zeit herauszumelken, eine Strategie war, um etwas anderes zu vermeiden: jenes nagende, drängende Gefühl, sich beweisen zu müssen, sich seine Existenz auf dem Planeten verdienen zu müssen.
Das hat, meint er, nicht zuletzt mit unserem modernen Verständnis von Zeit zu tun. „Sobald ein Arbeitgeber die Zeit eines Arbeitnehmers kauft, gibt es einen massiven Anreiz, der im Herzen des wirtschaftlichen Wettbewerbs verankert ist, immer mehr und mehr Arbeit aus der Person herauszuholen, für dessen Arbeit man bezahlt“, sagt Burkemann in diesem Interview. Dies führt, verkürzt gesagt, zu einem allgemein verankerten Gefühl, dass Zeit nicht verschwendet werden darf – im Job, aber auch in der Freizeit. Warum sonst gibt es ein Wort wie „Freizeitstress“?
Viele Menschen, meint Burkeman, machen das Gefühl ihres Selbstwerts von ihrer Produktivität abhängig. „Die Suche nach dem perfekten Produktivitätssystem ist die Suche nach der Rechtfertigung unserer Existenz auf diesem Planeten.“
Wenn man ein schickes Label dafür finden wollte, könnte man es den „Produktivitätskult“ nennen. Und dann feststellen, dass Wilhelm Röpke, einer der Theoretiker der Sozialen Marktwirtschaft, schon 1958 darüber gesprochen hat. „Ökonomismus, Materialismus und Utilitarismus haben unsere Zeit zu einem Kult der Produktivität, der materiellen Expansion und des Lebensstandards geführt“, schrieb er damals. Dieser Kult des Lebensstandards sei „ein Sehfehler von geradezu klinischem Charakter“, „eine unweise Verkennung der wahren Rangordnung der Lebenswerte.“
„Der Utilitarismus bezeichnet eine einflussreiche philosophische Strömung, die menschliches Handeln nicht nach den Motiven, sondern danach beurteilt, welche Folgewirkungen es hat. Utilitaristische Handlungen sind solche, die das Gesamtwohl einer Gesellschaft erhöhen, das heißt für alle (oder zumindest viele) Menschen mehr Nutzen schaffen bzw. deren Glück mehren.“ (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung)
Die Sache geht aber noch tiefer: Produktivitätsmanagement gibt das illusionäre Gefühl von Kontrolle in einem, mal ehrlich, ziemlich unkontrollierten Dasein. Wir wissen nicht, wie lange wir überhaupt leben werden. Wie so viele Einsichten, die erst mal banal klingen, ist diese sehr wichtig.
Eine gute Niederlage
Denn dieser existenzielle Stress – wie viel Zeit haben wir und wie zur Hölle machen wir das Beste daraus? – lässt sich nicht vermeiden. In dem Versuch, immer besser, immer effektiver zu werden, steckt die Hoffnung, immerhin etwas im Leben kontrollieren zu können. „Es ist das Gefühl, dass du immer kurz davor bist, einen perfekten Zustand zu erreichen, in dem du die Dinge endlich unter Kontrolle hast und dich sicher fühlst“, sagt Burkemann.
Die Sache ist nur: Es ist hoffnungslos. Unsere Zeit ist begrenzt. Unsere Energie ist begrenzt. Wir können uns immer viel mehr Aufgaben vornehmen, als wir schaffen können.
Die gute Nachricht ist: Wer einmal diese Niederlage akzeptiert hat – die, dass sich Zeit nicht unendlich ausquetschen lässt – kann sie besser nutzen. Und sich fragen: Was ist wirklich wichtig?
Wie bei jedem Job sind manche der wirklich wichtigen Aufgaben solche, die man lieber nicht erledigen würde. Aber immerhin kann man sich ordentlich auf sie konzentrieren, wenn nicht noch ein Rattenschwanz unerledigter weniger wichtiger Aufgaben wartet. Es ist extrem unangenehm, ungeliebte Arbeit zu verrichten und dabei noch unter Druck zu sein.
Natürlich setzt Prioritäten setzen können voraus, dass man überhaupt einigermaßen selbstbestimmt arbeiten kann. Viele Menschen haben diesen Luxus nicht. Aber egal, ob man arbeiten muss, um seine Miete zahlen zu können oder ob es um eine weitere Million auf dem Konto geht: Niemand kann Unmögliches leisten.
Um es noch einmal zusammenzufassen:
- Wir sollten Selbstwert und Produktivität nicht miteinander verknüpfen.
- Ein Schlüssel für weniger Stress bei der Arbeit ist nicht, alles oder mehr zu schaffen – sondern den Anspruch aufzugeben, alles schaffen zu können.
- Wer diesen Anspruch aufgibt, wird ironischerweise produktiver.
Miese Chefs verschwinden nicht durch Gedankenkraft
Um das klarzustellen: Die Idee hier ist auf gar keinen Fall, dass man bloß seine innere Einstellung ändern muss, um keinen Stress bei der Arbeit mehr zu haben. Der Druck, Geld verdienen zu müssen, ist real. Lange Arbeitszeiten, schlimme Arbeitsbedingungen und miese Chefs und Kolleg:innen sind real. Dass wir von unseren Apps und sozialen Medien ständig mit Nachrichten bombardiert werden, die uns ablenken, ist real.
Es geht auch nicht darum, gar keine Produktivitäts-Apps oder To-do-Listen mehr zu haben. Wenn sie etwas bringen, bestens.
Oliver Burkemann rät sogar dazu, zwei To-do-Listen zu führen. Eine grenzenlose und eine stark begrenzte. Auf der grenzenlosen steht alles, was man gerne erledigen würde, auf der begrenzten stehen fünf Aufgaben, auf die man sich konzentriert. Wenn eine erledigt ist, kann man eine weitere Aufgabe aus der grenzenlosen Liste hinzufügen. Eine einzige, nicht mehr.
Übrigens: Seine Kolumne schreibt Burkemann nicht mehr. Dafür hat er im vergangenen Jahr ein Buch herausgebracht: „4.000 Wochen“ heißt es. Etwa so viel Zeit hat ein Mensch, der 80 Jahre alt wird. Der sympathische Untertitel auf Englisch lautet „Time Management for Mortals“ – also Zeitmanagement für Sterbliche.
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In meinem Newsletter schreibe ich jede Woche über die wichtigsten Dinge, die ich gelernt habe. In der ersten Staffel des Newsletters geht’s ums Arbeiten: um Stress und das Ende des Burnouts, den Sinnkult, den Produktivitätskult und um die Frage, warum To-do-Listen oft so schlecht funktionieren. Beruhend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, meiner Erfahrung und mithilfe von Expert:innen. In der letzten Folge ging es darum, warum Multitasking fast immer eine schlechte Idee ist – und um eine Regel, wie es trotzdem klappen kann. Hier kannst du die erste Folge nachlesen.
Redaktion: Esther Göbel, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger