Auf einmal kam der Moment, in dem ich an einem ganz normalen Tag durch mein normales Wohnzimmer ging und nicht fassen konnte, wie mein Körper das hinkriegt: diese Bewegung von meinem Sofa zur Tür.
Ich muss das vielleicht erklären.
Mein Körper und ich hatten bisher ein Verhältnis, das ich okay nennen würde. Ich fand es lästig, dass man sich ständig um irgendetwas kümmern muss – Nägel schneiden, Abendessen, Bauchmuskelübungen. Und wieso kann man sich eigentlich nicht zwanzig Jahre lang über Schreibtische krümmen oder schwere Gegenstände heben, ohne Rückenschmerzen zu kriegen? Natürlich schätze ich die angenehmen Seiten der Körperlichkeit: den Geschmack von Mangosorbet, eine warme Dusche, Sex. Aber wirkliche Wertschätzung für meinen Körper hatte ich vor allem dann, wenn ich krank war und gesund wurde.
Der Körper, diese irre Wundermaschine
Das ist jetzt anders. Denn ich habe, wie manche meiner Leser:innen bereits wissen, in letzter Zeit sehr viel über die Forschung zur Extendend-Mind-These gelesen: Das ist die Annahme, dass das menschliche Denken nicht da aufhört, wo das individuelle Hirn endet, sondern über die Körpergrenzen hinaus mit der Welt verbunden ist. Wer das für esoterisch hält, sollte meinen Text darüber lesen (hier für die nächsten 24 Stunden ohne Bezahlschranke).
Ich weiß nicht mehr, an welchem Punkt der Recherche es passierte, aber als ich an jenem Tag durchs Wohnzimmer ging, war mir plötzlich sehr bewusst, dass diese Bewegung von unzähligen Prozessen in meinem Körper ermöglicht wurde, von denen ich nichts merkte – geschweige denn, dass ich Kontrolle über sie hatte. Es mag vielleicht banal klingen, aber in diesem Moment war es das nicht, ganz und gar nicht. Und eigentlich ist es nie banal. Man ist halt nur sehr daran gewöhnt, dass der Körper diese irre Wundermaschine ist. (Bevor sich jetzt jemand aufregt: Ich weiß schon, dass der Körper keine „Maschine“ ist.)
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Das bringt mich zu euch, der KR-Community. Denn ich habe anschließend auf Twitter eine Frage gestellt: „Was ist das Erstaunlichste, das euer Körper je gemacht hat?“ Ich hätte nie damit gerechnet, aber es kamen 767 (!) lustige, verblüffende und manchmal ehrfurchtgebietende Antworten. Hier ist eine Auswahl der schönsten.
Elternsuperkräfte und Alltagsakrobatik
Ich bin einmal vor einem Wildschwein davongelaufen und überwand einen Zaun, der mindestens 2,50 Meter hoch war, die Latten so dicht beieinander, dass kein Fuß dazwischen passte. Ich weiß nicht, ob ich kurzzeitig meine Flügel nutzte.
Kirschenpflücken. Ich bekam die Treppenleiter. Die kippte natürlich, ich machte einen Riesensatz über den Zaun und den vollen Eimer mit den Kirschen hab ich dabei ganz ordentlich an den Zaunpfosten gehängt. PS: bin das Gegenteil von sportlich.
Im Herbst auf nassen Blättern weggerutscht, aber so abgesprungen, dass ich über das schlitternde Fahrrad hinweg noch zwei, drei Schritte gelaufen bin und dann abbremsen konnte. Kann mich nur daran erinnern, wie ich da stand. Reiner Reflex. Die Jugendlichen hinter mir: „Cooler Abgang!“
Bin besoffen von einem Holzbalken gekippt, habe mich gefühlt dreimal überschlagen, aber der Bierkrug, den ich noch in der Hand hielt, kam voll unten an.
Sich mit den Füßen voran durch ein DIN-A4-großes Theaterkassenfensterchen gezwängt, weil der Kollege von der Kasse beim Klogang den Schlüssel drin vergessen hatte und die Tür nur mit Schlüssel zu öffnen war.
Wurde zwei Mal von Zuchtbullen angegriffen und habe es unverletzt überlebt. Man wird schnell und handelt ohne zu überlegen richtig. Urinstinkte.
Auch ein gutes Beispiel:
[Tweet nicht mehr verfügbar]
Alltagswunder
Ein Uhrwerk repariert. Einen fiesen Knoten gelöst. Einen hässlichen Pulli gestrickt. Drei Tage am Stück nicht geschlafen. Ein Kind ernährt. Einen Hochsitz gebaut. Einen Teppich gewebt. Im Reflex eine Ohrfeige ausgeteilt. Auf ein Pferd geklettert. Zehn Meter hoch geklettert.
Einen Zehennagel neu bilden.
Irgendwann einfach angefangen zu atmen und seitdem nicht damit aufgehört. Ganz ohne dass ich das bewusst hätte machen wollen ... Da! Schon wieder!
Eine Blase, so groß wie die Zehe selbst.
Die Koordination beider Hände beim Gitarre spielen ist schon ganz schön erstaunlich. Dabei bin ich kein Meister des Fachs.
Kunstgeschichtsstudium.
20 Stunden lang alle 30 Minuten kotzen.
Mathe gekonnt.
Bankomat-Code im Urlaub vergessen: Augen zu und meine Finger fanden die richtigen Tasten.
100 Kilo drücken und Nusszopf backen.
Komplett unbemerkt wachsen und mich mit nicht mehr passenden Klamotten überraschen. Und ein mich immer wieder erstaunendes „Bewusstsein“ enthalten, das unauffindbar ist.
27 Stunden durchgeschlafen.
Er hat mir vor 23 Jahren durch ein Brennen im Herzen und ein Kribbeln im Magen signalisiert, dass mein Mann der Richtige für mich ist. Und ab und an macht er das immer noch.
Stuhlgang produzieren.
Heute morgen aufgestanden.
1. Instant wach beim Katzen-Kotz-Geräusch 2. Nach einem Unfall abgesichert und Polizei gerufen, ohne danach eine Erinnerung daran zu haben 3. Nach einem Sturz aufgeschlitzte Handgelenke abbinden (nicht meine) – ebenfalls ohne Erinnerung. Körper auf Autopilot ist was Feines.
Er hat während eines Noro-Infekts aus einem Liter Wasser und einem Apfel einen guten Wassereimer voll Verdauungsmaterial gemacht – in etwa zehn Minuten.
Sich selbst in die Eier treten.
Ich habe den Moment gespürt, in dem eine Eizelle befruchtet wurde. Ein Glücksgefühl ohnegleichen. Ganz kurz. Kein Witz. Ich wusste erst einen Monat später, dass ich schwanger war. Erst danach konnte ich diesen Moment einordnen. Moment ist heute 17.
Ich kann, ohne Finger in den Mund zu stecken, ganz ganz laut pfeifen.
Ich schlafe wie ein Stein. Ich bin auf einem Zeltplatz, wo übelst gefeiert wurde, normal eingeschlafen. Um das Zelt rum totaler Krach, ein Betrunkener ist über eine Schnur unseres Zelts gestolpert. Das Zelt klebte mir morgens im Gesicht, als ich nach acht Stunden erholt aufwachte.
Nach dem Höhenwachstum begann das Breitenwachstum. Unglaublich, dieses „zunehmende“ Alter.
Nicht spektakulär, aber ich war neulich seit 20 Jahren wieder in der Uni-Bibliothek. Hatte vergessen, wo die Pädagogik-Bestände stehen. Grübel, grübel. Schwupps ging mein Körper schnurstracks in die richtige Richtung, absolut zielsicher. Mein Gehirn guckte nur völlig perplex zu.
Ich hab mir mal mit einem kräftigen Nieser die Schulter ausgekegelt.
Elternsuperkräfte haben
Dass ich beim leisesten „Mama“ sofort hellwach bin, aber trotz zig Weckern morgens ständig verpenne, finde ich schon sehr erstaunlich.
Ein Kind. Ich meine, das ist doch echt crazy, der kann doch nicht einfach einen neuen Menschen herstellen.
Mein Körper hat drei Kinder ausgetragen. Das Erstaunlichste davon ist das dritte, welches nach Aussagen verschiedener Ärzte die Schwangerschaft gar nicht hätte überstehen können. Hat es aber, unversehrt, gesund und bei 40+1. Wurde erst letzte Woche wieder als „Wunder“ bezeichnet.
Mit Schlaganfall auf der Stroke Unit mein Kind (damals 10) betreut, das als Begleitperson mit aufgenommen wurde, weil es keine Alternative gab. Ich denke, viele Mütter kennen das. Im Worst Case gehts an die Kraftreserven, wo auch immer die herkommen.
Auch einen dritten Kaiserschnitt trotz aller Probleme schließlich gut verkraftet.
Ich habe gesehen, wie der Körper meiner Frau einen neuen Menschen hergestellt hat und sage daher demütig: Nichts was mein Körper macht, kann dagegen anstinken oder ist im Vergleich irgendwie erstaunlich.
Drei Kinder in einem Jahr bekommen.
Sport bis zum Limit und darüber hinaus
Ein Rennen über 217 Kilometer gelaufen und die letzten zehn Kilometer in unter 40 Minuten.
Alpenüberquerung zu Fuß mit 17 Kilo Gepäck. 30 Kilometer barfuß am Strand und durch Wald. Ungeübt. Keine Barfußgängerin.
220 Kilo roh gehoben.
Mit über 50 eine private Surfstunde genommen. An deren Ende stand ich kurzzeitig auf dem Board. Bestimmt nur, weil der Surflehrer mir sagte, man brauche ja schon mehr Übung, wenn man darauf stehen wolle und eine Stunde nicht reiche. Das ließ mein Ehrgeiz dann doch nicht zu.
In der Luft geschwebt. Als Torwart.
Leben, trotz allem
Erste Diagnose, die meine Eltern gehört haben: „Wir wissen noch nicht, warum sie lebt.“ Mit 12 Jahren gehört: „Die Diagnose in dem Alter gibt es nicht. Das ist unmöglich.“ Bin über 30, lebe immer noch.
Blitzschnell neue Durchblutungsverbindungen genutzt/geschaffen während mehrerer Schlaganfälle in Folge. Trotz zugesetzter Hauptleitung keine Lähmung oder sonstige größere Ausfälle. Mein Hirn ist toll. 🥰
Entgegen allen Prognosen hat mein Körper einfach weitergemacht, lebt und funktioniert ganz und gar.
Mauerflucht.
Mitten in China krank gewesen. 40 Fieber, dicke Mandelentzündung, auf dem Weg zum Doc schweren Unfall gehabt, vierfach Wirbelsäule gebrochen, als ich im Krankenhaus ankam, waren Mandelentzündung und Fieber komplett weg. Mein Körper wusste, dass er jetzt größere Probleme hat. War beeindruckt.
Trotz Allergien, Hypertonie, ADHS und Depression, Asthma sowie einer Sehbeeinträchtigung einfach 40 Jahre lang immer weiter gemacht.
Meine 20er überlebt.
36 Kilo und 28 Herzschläge pro Minute überstanden.
Ich hatte mal einen Radunfall und wurde mit ca 40 km/h vom Auto angefahren. Rad Schrott, Helm Schrott, stundenlang bewusstlos, Schädelprellung und Beckenbruch und dennoch hatte mein Körper keinerlei äußere Blessuren. Kein Kratzer. Kein blauer Fleck. Als wäre nix passiert.
Eine tödliche Krankheit bis dato (drei Jahre) überstanden.
Er hat vier Kinder auf die Welt gebracht. Er kämpft seit vier Jahren gegen den Krebs und die Metastasen. Er hat eine sehr schwere Sepsis überstanden. Und derzeit setzt er sich mit einer Bestrahlung auseinander.
Nach 30 Jahren nochmal laufen gelernt.
Stammzellspende.
Überlebt. Schwerer Autounfall. Elf Monate Krankenhaus. Sieben Operationen. Papa hat verhindert, dass mir mein rechtes Bein amputiert wurde. Mit 19.
Auf einen winzigen Tumor mit so krassen Beschwerden reagiert, dass ich monatelang Ärzte abgeklappert habe – und der Tumor dann somit frühzeitig entdeckt wurde. Hat er gut gemacht, der Körper. Ansonsten natürlich die zwei Schwangerschaften. Einfach zwei Menschen „hergestellt“!
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger