Was ist schlimmer: Etwas zu tun, von dem man ahnt, dass es falsch ist, aber einfach nicht drüber nachzudenken? Oder etwas zu tun, von dem man sicher weiß, dass es falsch ist – und es dennoch zu tun?
Vor einigen Jahren erhielt ich unvermittelt Zugang zu einer mir unbekannten Welt: Eine amerikanische Wissenschaftlerin und Unternehmerin lud so ziemlich alle ihre LinkedIn-Kontakte und deren Anhängsel zu einer familienfreundlichen Tagsüber-Party in ihr Cottage ein, also in ihre Hütte, irgendwo in Massachusetts. Ich war damals frisch nach New England gezogen und wusste noch nicht, dass sich die dortigen besseren Kreise in frivolen Untertreibungen gefallen. Nach einer einstündigen Autofahrt Richtung Cape Cod bogen wir in eine schattige Allee, wo sich das Cottage als herrschaftliches Anwesen mit mehrstöckiger Veranda entpuppte. Der makellose Rasen war gesäumt von einem Waldstück, in dem sich ein Kiespfad zur Atlantikküste wand.
An einem brachial heißen Spätsommertag wie jenem will man nicht viel mehr tun, als auf einer Veranda in einem Schaukelstuhl sitzen und kalten Weißwein trinken – oder einen Arnold Palmer, Schwarztee mit selbstgemachter Limonade und vielen Eiswürfeln. Die Wiese vor der Villa füllte sich mit den anderen Gästen des Sommerfests: Hier die selbstbewussten Wissenschaftler:innen der umliegenden Elite-Unis, von deren Forschungsergebnissen wir nächstes Jahr im „New England Journal of Medicine“ lesen würden, dort die orthodoxe jüdische Familie mit dem schläfenbelockten Vater, am Rand der Wiese die Hiphop-Tanzgruppe, die zur Bespaßung der Kleinen angeheuert worden war. Heiteres Geplauder wehte vorbei, ein paar Kinder stürmten mit Gummibooten Richtung Meer.
Dann fuhren die Foodtrucks vor. Einer nur für Muscheln, einer für all die anderen Meeresfrüchte, einer für Burger und ein lilafarbener für veganes Eis. Hier würden wir nicht verhungern.
Ob ich eine Auster essen wolle, fragte mich der junge Mann mit Baseballkappe und Batikshirt aus dem Muscheltruck. Ich hatte noch nie Austern gegessen und war überrascht, diese Delikatesse einfach so aus einem bunten Lieferwagen herausgereicht zu bekommen. „Sie sind ganz frisch“, sagte er. Ich solle mir einfach etwas Zitronensaft auf die Muschel träufeln und sie dann aus der Schale schlürfen.
Die Muschel war erfrischend kühl und schmeckte nach Ozean. Ich dachte erst, ich würde mich ekeln, aber ich kam nicht dazu. Die unprätentiöse, fröhliche Darreichungsform, die im Eiscontainer stehenden Plastikflaschen mit der scharfen roten Sriracha-Sauce und natürlich die Tatsache, dass ich für all dies nicht einen Dollar bezahlen musste, machten aus mir in wenigen Sekunden jemanden, der Austern schlürft, als hätte er nie etwas anderes getan.
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Im Truck daneben wurden mehrere Gerichte angeboten, die wir in Deutschland wohl belegte Brötchen nennen würden, die aber damit so viel zu tun hatten wie das Cottage mit einer Hütte. Darunter die Scallop Roll, ein Brötchen mit gebratenen Jakobsmuscheln und Bacon. Ehe ich mich versah, hielt ich eine in der Hand – in einer simplen Pappschale.
Jakobsmuscheln sind leider sehr gut, sie sind süß, nussig und haben ein festes Fleisch. Zweifellos sind sie eine Delikatesse. Und hier lagen gleich drei vor mir auf einem Brötchen. In einer Pappschale! Mit Speck! Und scharfer Wasabi-Mayo! Als Beilage erhielt ich eine Tüte Kartoffelchips (!) der Marke „Cape Cod“.
Kartoffelchips! Zu! Jakobsmuscheln!
Zum Glück waren noch Schaukelstühle auf der Veranda frei, denn die Beiläufigkeit, mit der mir hier Produkte gereicht wurden, die doch in Sternerestaurants gehören, war schockierend. Sitzend würde ich all diese Widersprüche angemessener würdigen können. Es wird nicht überraschen, dass das Brötchen fantastisch war, buttrig und etwas süß. Die Muscheln außen knusprig und innen zart, der Speck dazu als starker Kontrast. Dann noch wie ein wummernder Bass die grüne, scharfe Mayonnaise. Ich aß die Chips dazu und war glücklich.
Wenn Jakobsmuscheln im Brötchen möglich sind, ist alles möglich, dachte ich. So fühlt sich Luxus an.
Im Vorbeigehen fragte mich die Gastgeberin, ob ich schon eine Lobster Roll hatte. Ich war noch damit beschäftigt, über die Muscheln hinwegzukommen, da sollte es schon mit Hummer weitergehen? Ich erfuhr, dass Lobster Rolls, also Hummerbrötchen, das Fast Food Neuenglands sind. (Einige Jahre lang gab es sie dort sogar bei McDonald’s.) Es handelt sich um Hummerfleisch, das mit etwas Mayonnaise und womöglich Sellerie angemacht wird, um anschließend in einem in Butter gebratenen und auf der Oberseite mittig aufgeschlitzten Hotdog-Brötchen zu versinken – und zwar so großzügig, dass der Hummer oben rausquillt.
Ich dürfe das auf keinen Fall verpassen, sagte die Gastgeberin. Also ging ich nochmal zu dem Seafoodtruck und fragte nach meiner ersten Lobster Roll.
Man kann sein Leben leicht in zwei Hälften teilen: vor und nach deiner ersten Lobster Roll. Und du kannst sie selber machen (ich sage dir gleich wie), aber du musst dafür Hürden nehmen, die viele nicht nehmen können oder wollen. Die Lobster Roll ist Luxus – im Guten wie im Schlechten.
Ich biss in das außen knusprige und innen weiche, frisch geröstete Brötchen und der Hummer war fest, zart und etwas süß. Die Mayonnaise schmeichelte ihm. Man isst die Lobster Roll so langsam wie es für Fast Food gerade noch möglich ist, weil sie so wertvoll ist. Man darf das Hummerfleisch nicht stark verarbeiten, weil der zarte Geschmack sonst untergeht. Also kommt die Mayonnaise auch nur sehr dezent zum Einsatz. Ein klein wenig Sellerie sorgt für Farbe und Knusprigkeit.
Das war es auch schon. Die Lobster Roll schmeckte nicht so wild wie das Jakobsmuschelbrötchen, aber mir erschloss sich sofort, warum sie so ein Klassiker ist. Es ist unprätentiöser Luxus, es ist das ultimative Understatement – etwas Wunderbares, das sich ganz einfach gibt. Ich habe später noch mit mehreren Freund:innen Lobster Rolls gegessen und die Reaktion war immer die gleiche: Wow, ist das gut!
Understatement extrem: Hummer mit Mayo
Es gibt natürlich endlose Variationen des beschriebenen, sehr klassischen Originals: In Connecticut verwendet man statt der Mayonnaise zerlassene Butter. Manchmal werden Kapern, Avocado, getrocknete Chilischoten hinzugefügt oder der Hummer auf ein Salatblatt gebettet. Aber das Original ist nicht viel mehr als Hummer mit etwas Mayonnaise im Brötchen.
Es liegt auf der Hand, dass dann jede Zutat stimmen muss. In dem Rezept, das ich unten vorschlage, weiche ich nur an zwei Stellen und auch nur sehr dezent vom Original ab: Wir machen die Variante mit Sellerie, und die Mayo rühren wir selbst an. Dazu verwenden wir ein Rezept, das von der japanischen Kewpie-Mayonnaise inspiriert ist (gesprochen wie die englischen Buchstaben QP, nach dem Unternehmen, das dieses Produkt seit rund hundert Jahren herstellt).
Kewpie ist etwas eleganter als die hiesige (oder auch in den USA geläufige) Mayo; sie enthält kein Eiweiß, nur Eigelb und harmoniert sehr gut mit dem Hummer, nicht zuletzt weil wir sie ganz leicht mit Dashisud aromatisieren. Dieser Grundbestandteil der japanischen Küche wird aus Algen und dem Bonitofisch hergestellt, der fermentiert, getrocknet und dann zu Flocken geschabt wird. Doch das ist eine andere Geschichte. Womit wir beim Elephant in the Room wären, dem problematischen Hauptbestandteil des Gerichts: dem Menschen.
Normalerweise geht es in dieser Kolumne um sehr zugängliche Speisen. Sie schmecken hoffentlich vielen, man kann sie leicht nachkochen, die Zutaten sind nicht schwer zu bekommen und bezahlbar. Diesmal nicht.
Hummer sind teuer. Insbesondere, wenn man einen kauft, der nicht getötet wird, indem man ihn in kochendes Wasser wirft, was zwar heute die übliche, aber quälendste Methode ist, da der Tod erst nach Minuten einsetzt. Im Handel gibt es welche, die mit starkem Wasserdruck innerhalb von Sekunden getötet und dann eingefroren werden. So müssen sie im Gegensatz zu lebend transportierten Tieren nicht in engen Becken dahinvegetieren. Aber auch diese Methode ändert nichts daran: Hier wird ein Tier getötet. Und zwar eines, das Schmerz empfinden kann. Es gibt also mindestens einen guten Grund, keine Lobster Rolls zu essen.
Aber auch das ist eben Luxus: Etwas zu tun, von dem man wissen kann, dass es nicht richtig ist, und es trotzdem tun. Luxus ist die schrille – und oft moralisch fragwürdige – Abweichung nach oben, er kann nicht für alle da sein, denn dann wäre er kein Luxus mehr, sondern normal. Was uns zum Preis von Hummerfleisch bringt.
Der sogenannte High-Pressure-Hummer ist bereits in normalen Zeiten noch teurer als der konventionell getötete. Und derzeit, aufgrund der diversen Lieferketten- und Energiekrisen, ist es durchaus möglich, für einen tiefgekühlten High-Pressure-Hummer in Deutschland über 40 Euro zu bezahlen. Das ist extrem viel Geld für Fleisch, das gerade mal für zwei Lobster Rolls reicht. Für viele Menschen verbietet sich dieses Essen also allein schon aus finanziellen Gründen, und satt wird man davon auch nicht. (Die Beilagenchips machen nur noch mehr Hunger.)
Der Hochdruck-Hummer soll dich ein bisschen korrumpieren. Du weißt, dass du das Falsche tust, aber wenn der lebende Hummer wenigstens nicht in kochendes Wasser geworfen wird, dann tut man ja geradezu etwas Gutes, wenn man den mit Überdruck getöteten kauft. Es ist Luxus mit menschlichem Antlitz. Es ist das Richtige im Falschen und wir alle wissen, dass es das nicht gibt.
Dafür braucht man einen guten Anlass
Ich hätte diesen Text nicht schreiben können, wäre ich nicht selbst korrumpiert worden, damals an dem heißen Sommertag auf der Veranda am Atlantik. Ich habe von der verbotenen Meeresfrucht gekostet und sie war fantastisch.
Wenn man also eine Lobster Roll zubereiten möchte, sollte es wenigstens einen guten Anlass geben, die Zubereitung sollte mit Freund:innen zelebriert, ein Glas Weißwein dazu getrunken werden (oder eben einen Arnold Palmer). Der Tag, an dem man Lobster Rolls macht, sollte nicht einfach irgendein Tag sein, sondern einer, an den man sich erinnert. Mache Fotos von der Zubereitung, dem fertigen Gericht und euren verzückten Gesichtern, wenn ihr erstmals reinbeißt. Ihr müsst die Bilder nicht in den sozialen Medien posten, aber sie helfen dabei, sich daran zu erinnern, dass man etwas getan hat, was man nicht jeden Tag tun kann und soll.
Du kannst ein Mensch sein, der eine Lobster Roll gegessen hat. Oder jemand, der sich bewusst dagegen entschieden hat. Es liegt an dir.
Rezept für zwei Lobster Rolls mit Mayonnaise nach japanischer Art:
Vorab: Da man kaum eine kleinere Menge als ein einziges Eigelb vorfindet, müssen wir mehr Mayo machen als für zwei Lobster Rolls zum Einsatz kommt. In jedem Fall muss die Mayonnaise am gleichen Tag verbraucht werden, da sie ein rohes Eigelb enthält.
Wir kochen den Hummer nicht, sondern dämpfen ihn, was die Wahrscheinlichkeit senkt, das Fleisch zu verkochen, auch bleibt es durch diese Methode (angeblich) zarter.
Zutaten
- 200 g Hummerfleisch, entspricht etwa 300 g tiefgefrorenem Hummer (vegane Alternative: Palmherzen)
- 2 Hotdog-Brötchen (gibt es abgepackt im Supermarkt)
- 4 EL klein gehackte Selleriestange
- 1 EL Butter
- 2 EL Mayonnaise (oder vegane Mayonnaise)
- 1 TL Salz
- Als Beilage: 1 Tüte Kartoffelchips (gesalzen)
Falls du die Mayonnaisen selbt zubereiten willst (alle Zutaten müssen Zimmertemperatur haben, die Verhältnisse stammen von Hangry Stories):
- 150 ml geschmacksneutrales Öl, z.B. Sonnenblumenöl oder Rapsöl
- 1 Eigelb
- 1 TL Weißweinessig
- 1 TL Dashisud oder Dashibrühe (gibt es in Flaschen im Asiamarkt)
- 1 TL Senf
- 1 Prise Salz
Zubereitung
Am Vortag
- Tiefgekühlten Hummer oder Hummerfleisch (wenn du es verwendest) über Nacht im Kühlschrank in einem Abtropfsieb auftauen lassen.
Am Tag des Verzehrs
Mayonnaise zubereiten (wenn du nicht gekaufte verwendest, vegane Alternative hier)
- Eigelb, Weißweinessig, Dashisud, Senf und Salz (alles muss Raumtemperatur haben) in eine Schüssel geben und mit einem Schneebesen heftig schlagen, bis sich Blasen bilden, etwa 1 Minute.
- Dann extrem langsam, zuerst tröpfchenweise, das Öl hinzugeben und mit dem Schneebesen einarbeiten. Hier kann man mit einer fahrigen Handbewegung die gesamte Mayonnaise zerstören, also unglaublich langsam vorgehen. Erst wenn ungefähr ein Fünftel des Öls eingearbeitet wurde, das Öl in einem langsamen Strahl hinzugeben.
- Wenn die Schulter wehtut vom Schlagen, einfach eine Pause machen.
Hummer dämpfen (wenn du ihn verwendest, alternativ Palmherzen zubereiten)
- Hummerfleisch aus dem Panzer lösen (falls Panzer vorhanden).
- Einen großen Kochtopf etwa 5 cm hoch mit Wasser füllen und mit 1/2 TL Salz zum Kochen bringen, dann Hummerfleisch und Panzer voneinander separiert in ein Sieb geben, in den Topf hängen und Deckel drauf.
- Hummerfleisch etwa 6 Minuten dämpfen. Das Fleisch ist fertig, wenn es weiß ist, nicht glasig, und der Panzer rot.
- Hummerfleisch ein paar Minuten abkühlen lassen und in etwa daumendicke Stücke schneiden.
Hotdog-Brötchen vorbereiten
- Pfanne auf mittlere bis hohe Temperatur erhitzen, dann Butter hineingeben.
- Hotdogs auf Ober- und Unterseite goldbraun und knusprig braten, jeweils 1 bis 2 Minuten. Dann aus der Pfanne nehmen und abkühlen lassen.
Sandwich bauen
- In einer Schüssel Hummerfleisch, Sellerie und 2 EL Mayonnaise zum Hummersalat vermischen. Die Mayonnaise soll die Hummerstücke nur zusammenkleben, nicht völlig überwältigen.
- Falls der Hummersalat noch lauwarm ist, ein paar Minuten im Kühlschrank weiter abkühlen lassen.
- Wenn die Hotdog-Brötchen unzerteilt geliefert wurden, auf der Oberseite aufschlitzen. Hummersalat in die Hotdogs geben, so dass er oben etwas herausquillt.
- Mit zwei Handvoll Kartoffelchips servieren.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert