„Ich bin sowieso kränklich und ein solcher Anblick strapaziert meine Nerven so sehr, dass ich das auf Dauer nicht ertragen kann.“ Diesen Satz schrieb eine Bewohnerin der Gemeinde Mauthausen in einem Beschwerdebrief an die Behörden. Es war 1941. Was hatte die Frau so belastet? Sie wohnte in der Nähe des größten Konzentrationslagers in Österreich, 20 Kilometer östlich von Linz. Ihr Haus stand auf einer Anhöhe. So konnte sie täglich sehen, wie Gefangene erschossen wurden. „Ich bitte darum, dafür zu sorgen, dass solche unmenschlichen Taten unterbleiben oder an einem Ort geschehen, wo es niemand sieht“, schrieb die Frau aufgebracht.
Würdest du, liebe:r Leser:in, sagen, dass diese Frau eine gute Nachbarin war? Ein guter Mensch? Sicher nicht. Aber was würdest du sagen, wenn ich sie als besonders empathischen Menschen bezeichnen würde?
Paul Bloom tut genau das. Er ist Psychologie-Professor in Yale und redet seit Jahren davon, dass wir ein verzerrtes Bild von Empathie haben. Er erzählt von der Frau aus Mauthausen in seinem Buch „Against Empathy“. Den Titel meint er ernst. Er ist wirklich gegen Empathie. Genauer gesagt: Gegen einen bestimmten Aspekt der Empathie, der seiner Meinung nach gnadenlos überschätzt wird. Nämlich, dass wir die Gefühle anderer Menschen spiegeln können – wir fühlen also, was andere fühlen (oder zumindest glauben wir es).
So wie die Frau aus Mauthausen, die unter dem Leid der KZ-Gefangenen litt. Bloom glaubt, dass diese Art Empathie die Welt schlechter und Menschen ungerechter macht. Das klingt übertrieben. Aber in seinem Buch stecken einige der wichtigsten Lektionen über Empathie, die ich in letzter Zeit gelernt habe. Erstens: Mit anderen fühlen sorgt nicht unbedingt dafür, dass wir sie besser behandeln. Zweitens: Wir kriegen es emotional nicht hin, uns in Menschenmassen einzufühlen. Drittens: Zu viel Empathie macht krank. Und viertens: Es gibt, vielleicht, etwas Besseres als Empathie.
Gegen Orgasmen und Schokolade
Bloom beschreibt, wie Menschen reagieren, wenn er erzählt, dass er gegen Empathie ist: Sie lachen. Und denken, er mache Witze. Gegen Empathie sein ist, als wäre man gegen Orgasmen oder Schokolade. Menschen sehen sie als etwas, das absolut gut ist, schreibt Bloom. „Man kann nie zu reich, zu dünn oder … zu empathisch sein.“
Es gibt dafür einen einfachen Grund. Viele Menschen verstehen unter Empathie und Mitgefühl das Gleiche. Das ist nicht ihre Schuld. Zum einen gibt es auch in der Fachliteratur unterschiedliche Definitionen für Empathie. Zum anderen ist Empathie zu einem Modebegriff geworden, der zunehmend beliebig verwendet wird. Es ist ein bisschen wie mit „Godwins Gesetz“. Der Rechtsanwalt und Autor Mike Godwin hat diesen Begriff 1994 in einem Artikel über die Diskussionskultur im Internet geprägt. Je länger ein Gespräch im Internet dauert, desto wahrscheinlicher ist es demnach, dass irgendwann das Wort „Hitler“ fällt oder ein Nazivergleich kommt. Man könnte analog sagen, je länger ein Gespräch dauert, desto wahrscheinlicher ist es, dass irgendjemand „mehr Empathie“ fordert. Was genau das heißen soll, ist aber ziemlich vage.
Für Bloom bedeutet Empathie: Ich kann verstehen und fühlen, was andere fühlen. Und zwar nicht nur negative, sondern auch positive Zustände. Mitgefühl ist distanzierter und bezieht sich immer auf Leid. Ich sehe den Schmerz anderer und will ihnen helfen – aber ich leide nicht mit.
Bloom unterteilt Empathie außerdem in einen kognitiven und einen affektiven Aspekt. Ersteres meint, dass wir verstehen können, wie das innere Erleben anderer Menschen aussieht. Wenn ein Kind sich das Knie aufschlägt und weint, begreife ich, dass es Schmerzen hat und Trost braucht. Anders ist es, wenn ich den Schmerz des Kindes nicht nur verstehe, sondern selbst leide: Ich fühle, was das Kind fühlt. Das ist die Art Empathie, die Bloom vor allem kritisiert.
Bis vor Kurzem hätte mich das aufgeregt. Ich habe Empathie immer positiv gesehen. Als etwas, das die Verbindung zwischen Menschen spürbar macht. Sie ist unmittelbar und nah. Aus der Neurowissenschaft wissen wir, dass einige der gleichen neuronalen Systeme, die aktiv sind, wenn wir Schmerzen und negative Gefühle haben, auch aktiv werden, wenn wir das Leiden anderer beobachten.
Ich beiße die Zähne zusammen, wenn sich mein Mann an der Herdplatte verbrennt. In den Nachrichten weint eine Frau und mein Herz wird schwer. Ein Kind auf der Straße lacht und ich bekomme gute Laune. Mein eigener Körper bildet die Gefühle der anderen nach.
Der Entwicklungspsychologe Martin Hoffman schätzt, dass Kinder etwa 4.000-mal im Jahr aufgefordert werden, sich in die Lage anderer zu versetzen. Also zum Beispiel darein, wie ein anderes Kind sich fühlt, wenn man ihm an den Haaren zieht oder es keinen Kuchen abkriegt. So sehr glauben wir an die Kraft der Empathie. Was könnte intimer sein? Was ein besserer Grund, weniger Leid und mehr Freude in die Welt bringen zu wollen?
Empathie macht uns nicht zu besseren Menschen
Die Frau aus Mauthausen war nach Blooms Definition tatsächlich sehr empathisch: Sie erlebte den Schmerz der KZ-Gefangenen innerlich mit. Deshalb wollte sie diese Menschen aber nicht retten. Sie bat darum, sie doch bitte woanders zu erschießen, damit sie nicht mehr mitleiden musste.
Ihr Verhalten ist ein Beleg dafür, dass ein starkes Gefühl von Empathie Menschen nicht unbedingt dazu bringt, anderen helfen zu wollen oder weniger egoistisch zu sein. Es ist ein drastisches Beispiel. Aber wer kennt nicht die Erfahrung, vor dem Leiden anderer fliehen zu wollen? Ich hatte dieses Gefühl vor ein paar Stunden. Ich war auf dem Weg nach Hause und sah einen Mann, der mir entgegenkam. Er war alt und ging krumm, in der Hand hielt er einen kaffeeverschmierten Pappbecher mit Münzen darin. Ich war müde vom Einkaufen. Sein Anblick machte mich traurig. Ich wechselte die Straßenseite.
Viele halten empathische Menschen für hilfsbereiter und zugewandter. Sie glauben, dass wir moralischer handeln, wenn wir den Schmerz anderer fühlen. Dieser kausale Zusammenhang ist jedoch längst nicht so eindeutig belegt, wie viele meinen. Oft ist er schwach, und nicht in allen Studien lässt er sich nachweisen, sagt Bloom.
Umgekehrt gibt es aber auch Hinweise darauf, dass Empathie uns rücksichtslos und sogar rachsüchtig machen kann. Wie ich hier beschrieben habe, hat Bloom selbst mit einem Doktoranden dazu Experimente durchgeführt: Die Forscher erzählten Menschen von hypothetischen Gräueltaten und fragten dann, wie man am besten darauf reagieren sollte. In einer Version des Experiments ging es um gekidnappte Journalist:innen im Nahen Osten. Die Forscher gaben den Proband:innen eine Reihe an Reaktionsmöglichkeiten zur Auswahl, von Nichtstun bis zu Luftangriffen. Zusätzlich machten die Proband:innen einen Standard-Empathie-Test. Die Forscher stellten fest: Je empathischer die Teilnehmer:innen waren, desto mehr und härtere Vergeltung wollten sie.
Die Ergebnisse der Studie sind noch nicht veröffentlicht. Aber man braucht kein wissenschaftliches Labor, um sie subjektiv nachzuvollziehen. Ganz ehrlich: Als ich die ersten Berichte darüber las, wie russische Soldaten im Ukraine-Krieg Vergewaltigung als Kriegswaffe einsetzen, war ich anschließend definitiv interessierter daran, dass Deutschland schwere Waffen an die Ukraine lieferte.
Auch erfolgreiche Betrüger:innen sind empathisch
Gute Therapeut:innen und Eltern sind empathisch. Sie können sich in ihre Patient:innen und Kinder einfühlen. Das können aber auch erfolgreiche Betrüger:innen, Verkäufer:innen und Tyrann:innen. Ich ging mit einem Mädchen in die Schule, das sehr einfühlsam war. Sie wusste immer genau, was andere brauchten. Auch deshalb war sie sehr beliebt. Einmal hatten wir Streit. In ihrer Wut zerstörte sie heimlich meine Hausaufgaben, indem sie mit roter Farbe „Fette Kuh“ darüber schrieb. Sie hätte auch einfach das Heft klauen können. Aber sie wusste, dass ich mich zu dick fühlte und die Demütigung viel schlimmer sein würde, wenn ich das Heft im Unterricht aufschlug und diese Worte sah. Ich konnte es dem Lehrer nicht zeigen. Sie hatte mich exakt verstanden.
Eine Standard-Checkliste für Menschen, die klinisch als Psychopath:innen bezeichnet werden, enthält den Punkt „Gefühllosigkeit; Mangel an Empathie“. In seinem Buch „The Science of Evil: On Empathy and the Origins of Cruelty“ setzt Simon Baron-Cohen, klinischer Psychologe und Direktor des Autismus-Forschungszentrums in Cambridge, das Böse sogar mit einer „Empathie-Erosion“ gleich. Aber abgesehen von den Extremen der Psychopathie gibt es laut Bloom keine Anhaltspunkte dafür, dass weniger einfühlsame Menschen moralisch schlechter handeln als der Rest von uns. Wie Simon Baron-Cohen selbst feststellte, handeln einige Menschen mit Autismus und Asperger-Syndrom trotz ihres typischen Empathiedefizits sehr moralisch. Es ist ihnen wichtig, Regeln zu befolgen, und sie wollen diese gerecht angewendet sehen.
Eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2013 hat untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen Empathie-Armut und aggressivem Verhalten gibt. Die Forschenden waren vom Ergebnis selbst überrascht. Sie konnten so gut wie keinen Zusammenhang finden. „Wenn man also vorhersagen will, wie aggressiv eine Person ist und Zugang zu einer enormen Menge an Informationen über diese Person hat, einschließlich psychiatrischer Befragungen, Tests, Strafregisterauszügen und Gehirnscans, wäre das Letzte, was man tun würde, die Empathiefähigkeit der Person zu messen“, schreibt Bloom.
Empathie kann eine Schwachstelle der Politik sein
Ex-US-Präsident Barack Obama ist ein großer Empathie-Fan. „Es wird in diesem Land viel über das Staatsdefizit gesprochen. Aber ich denke, wir sollten mehr über unser Empathiedefizit sprechen – die Fähigkeit, uns in die Lage eines anderen hineinzuversetzen; die Welt durch diejenigen zu sehen, die anders sind als wir – das Kind, das Hunger hat, der entlassene Stahlarbeiter, die Immigrantin, die dein Wohnheimzimmer putzt.“ Das sagte Obama in einer Eröffnungsrede an der Xavier University in Cincinnati, Ohio. Als ich den Krautreporter-Leser:innen dieses Zitat in einer Umfrage vorgelegt habe, stimmten mehr als 90 Prozent Obamas Aussagen zu. Ich kann mich nicht erinnern, in einer Umfrage jemals 90 Prozent Zustimmung für eine Aussage erhalten zu haben. Empathie ist das Versprechen von Wärme in einer von harten Interessen regierten Welt.
Bloom hält dagegen. Er sagt, Empathie sei eine Schwachstelle der Politik. Aber nicht, weil es zu wenig davon gibt. Sondern weil sie Menschen willkürlich bevorzugt. Als Hitler Polen überfiel, unterstützten ihn viele Deutsche, die von Geschichten über Misshandlung und Mord an Deutschen in Polen aufgeheizt worden waren. Das erinnert nicht zufällig an Wladimir Putins Rhetorik am 9. Mai 2022, dem Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland. Putin versuchte, bei seinen Zuhörer:innen Empathie für das Leiden der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine zu wecken. „Ziel ist der Schutz der Menschen, die seit acht Jahren Misshandlung und Genozid ausgesetzt sind“, sagte er. Wenn wir uns von unseren Gefühlen leiten lassen, sagt Bloom, richten wir manchmal mehr Schaden als Nutzen an.
Die Frage lautet also: Ist Empathie auch dann noch gut, wenn sie Menschen dazu bringt, einem Angriffskrieg zuzustimmen? Und wie kommt es, dass die Hilfsbereitschaft mit geflüchteten Ukrainer:innen in Deutschland größer zu sein scheint als für irakische oder eritreische Geflüchtete?
Unsere Empathie gilt eher Menschen, die uns ähnlich sind
Als Annalena Baerbock nach den Massakern in Butscha die Stadt besuchte, sagte sie: „Die Opfer könnten wir sein.“ Diesen Satz wiederholt sie immer wieder, wenn sie über den Ukraine-Krieg spricht. Jeder und jedem, der in Deutschland wohnt, leuchtet er sofort ein, das muss man nicht erklären. Aber warum eigentlich? Hätte der Satz genau so funktioniert, wenn Baerbock über ein Massaker in Syrien gesprochen hätte?
Bei der Mehrheit der Menschen in Deutschland wahrscheinlich nicht. Zwischen Berlin und Kiew liegen 1.261 Kilometer Luftlinie, zwischen Berlin und Damaskus 2.791. Der Unterschied ist aber vor allem emotional, nicht geografisch. Tatsache ist: Wir sind viel eher bereit, empathisch mit Menschen zu sein, von denen wir meinen, sie seien uns ähnlich. Das gilt natürlich für Familienangehörige oder Freund:innen, aber auch allgemein für Gruppen, denen wir uns zugehörig fühlen.
Sozialwissenschaftler:innen reden von Ingroups und Outgroups (Eigengruppen und Fremdgruppen). Unsere Empathie gilt eher unserer Ingroup. Die Neurowissenschaftlerin Tania Singer berichtet in einem Interview von einem Empathie-Experiment mit Fans des FC Zürich in der Schweiz. „Schauspielern wurden dabei Schmerzreize an den Händen zugefügt. Dachten die Untersuchten, es handle sich um einen Fan ihres Vereins, zeigte der Scan in ihrem Hirn eine Aktivierung des Netzwerks für Empathie. Dachten sie, ein Fan des Rivalen-Vereins Basel sei betroffen, gab es diese Reaktion nicht, stattdessen war Aktivität in Belohnungsarealen zu sehen, also Schadenfreude.“ Empathie, sagt Singer, ist fragil und kann schnell kippen.
Wer braucht 65.000 Teddybären?
„Es fällt mir nicht leicht, das zu schreiben, aber ehrlich gesagt rege ich mich meist mehr auf, wenn meine Internetverbindung langsam und instabil wird, als wenn ich über eine Tragödie in einem fremden Land lese, von dem ich noch nie gehört habe“, schreibt Bloom. Das kann man schlimm finden, aber es entspricht der emotionalen Realität der meisten Menschen. Das liegt auch an einer weiteren grundlegenden Schwäche der Empathie: Wir empfinden sie eher für einzelne, konkrete Menschen, nicht für viele. Es macht für uns psychologisch kaum einen Unterschied, ob wir vom Leid von 5.000 oder von 500.000 Menschen hören.
„Stellen Sie sich vor, Sie lesen, dass bei einem Erdbeben in einem abgelegenen Land 2.000 Menschen ums Leben gekommen sind. Und erfahren dann, dass die tatsächliche Zahl der Todesopfer 20.000 beträgt. Fühlen Sie sich jetzt zehnmal schlechter? Wenn wir die Zahlen als bedeutsam anerkennen können, dann aus Vernunft, nicht aus Empathie“, meint Bloom.
Empathie ist ein Schlaglicht, meint er, sie betrachtet Leid nicht breit, sondern konzentriert. In der Wissenschaft wird dieses Phänomen „Identifiable-Victim-Effekt“ (identifizierbares Opfer) genannt. Nach dem Schulmassaker in Sandy Hook, Newtown, im Jahr 2012, trafen Fluten an Blumen, Briefen und Geschenken von erschütterten Menschen ein – so viele, dass die Stadtverwaltung überfordert war. Allein 65.000 Teddybären und eine halbe Million Briefe wurden geliefert. An einen Ort mit 27.000 Einwohner:innen. Das Meiste musste verbrannt werden.
Besonders deutlich sind die Grenzen der Empathie beim Klimawandel. Es ist leicht, sie für einen Bergmann zu fühlen, dessen Zeche stillgelegt wird. „Die Millionen von Menschen, die zu einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft unter den Folgen unserer derzeitigen Untätigkeit leiden werden, sind dagegen blasse statistische Abstraktionen“, schreibt Bloom.
Er plädiert dafür, dass wir uns besonders bei moralischen Entscheidungen weniger von Gefühlen leiten lassen. Das ist keine Haltung, mit der man sich beliebt macht. Zumal überlegtes, kalkuliertes Handeln emotional weniger befriedigend ist. Wenn ich einer Hilfsorganisation Geld spende, hilft dies Menschen in Not vielleicht mehr, als wenn ich alte Winterjacken an die polnische Grenze fahre. Aber die Fahrt an die Grenze ist eine emotionale Erfahrung, an die eine Überweisung nicht rankommt.
Wir müssen nicht von Gefühlen geleitet werden, um Gutes zu tun, schreibt Bloom. Im Gegenteil.
Ein großes Opfer ohne große Emotion
An einem Sommerabend schlich sich Zell Kravinsky aus dem Haus seiner Familie. Er ging heimlich, denn seine Frau hatte gedroht, sich scheiden zu lassen, wenn er sein Vorhaben umsetzen würde. Kravinsky tat es trotzdem. Er spendete seine rechte Niere – an eine ihm unbekannte Krankenpflegerin.
Eine unglaublich großherzige Geste, hinter der aber keine große Emotion steckte. Der Mann brachte sein Opfer, weil er logisch dachte. Kravinsky hatte erfahren, dass jedes Jahr Tausende Amerikaner:innen sterben, weil sie keine Organspender:innen finden. Er fand heraus, dass das Risiko, an den Folgen einer Nierenspende zu sterben, laut wissenschaftlicher Studien bei 1:4.000 liegt. Kravinsky, der zwei Doktortitel hat, einen in Pädagogik, einen in Literaturwissenschaften, machte eine einfache Rechnung auf: Wenn er seine Niere nicht spendete, müsste das bedeuten, dass er sein Leben für 4.000-mal wertvoller hielt als das eines Fremden. Das schien ihm völlig ungerechtfertigt. Also beschloss er zu handeln.
Das ist für viele schwer nachzuvollziehen. Diese Art Logik wirkt kalt und unpersönlich. Tatsache ist: Menschen, die ihre Nieren an Fremde spenden, schneiden in standardisierten-Empathie-Tests nicht höher ab als andere. Zell Kravinsky sagte einmal, dass die Menschen seine Nierenspende komisch finden, „weil sie Mathematik nicht verstehen.“ Bloom sieht das Problem woanders. „Den Leuten ist Mathe egal“, schreibt er.
Wenn Empathie müde und krank macht
Ich frage in meinen Umfragen selten das Geschlecht von Teilnehmer:innen ab, für diesen Text habe ich es getan. Denn ein Stereotyp besagt, dass Frauen mehr zwischenmenschlich orientiert und empathischer sind. An meiner Umfrage haben mehr als 1700 Menschen teilgenommen, zwei Drittel waren Frauen. Auch wenn KR-Umfragen nicht repräsentativ sind, finde ich das bemerkenswert. Ebenfalls gut zwei Drittel sagten, dass sie nicht gerne empathischer wären, als sie es ohnehin schon sind. Als Begründung schrieben viele Varianten dieses Satzes: „Noch mehr Empathie halte ich schlicht nicht aus.“
Es stimmt: Man kann wirklich zu sehr für andere fühlen. „Wenn ich zu sehr mitleide, wenn die Trennung zwischen mir und dem anderen verschwimmt und das Leid des anderen sich anfühlt wie meines, kann das auch zu empathischem Stress führen. Menschen, die vielleicht traumatisiert waren und plötzlich mit dem Trauma anderer konfrontiert werden, sind dafür besonders anfällig“, sagt Tania Singer.
Es ist möglich, dass Frauen besonders anfällig für empathischen Stress sind, weil sie sich schlechter abgrenzen. Die Psychologinnen Vicki Helgesen und Heidi Fritz fanden heraus, dass Frauen eine stärkere Tendenz zu „Unmitigated Communion“ haben. Die deutsche Übersetzung „übermäßige Gemeinschaft“ klingt etwas rätselhaft, bedeutet aber einfach, dass man sich auf andere konzentriert, ohne Rücksicht auf sich selbst.
„Es ist erstaunlich, wie viele Krankheiten, die man häufig bei Frauen beobachtet, damit zu tun zu haben scheinen, dass Frauen empathischer mit und fokussierter auf andere sind“, schreibt Barbara Oakley, Mitherausgeberin des Buches „Pathological Altruism“.
Möglicherweise mag die Gesellschaft empathische Menschen auch deswegen, weil sie sich ausbeuten lassen. Gefühlserschöpfung und Burnout sind unter Menschen, die sich besonders viel um andere kümmern, Mütter, Sozialarbeiter:innen und Pflegekräfte etwa, besonders verbreitet. Nach Angaben des Versicherers AOK gibt es in Berufen in der Haus- und Familienpflege, in der Sozialarbeit und Altenpflege mit die meisten Ausfälle wegen Burnout-Erkrankungen (und das war noch vor Corona, die Statistik ist von 2019). Die Arbeit in diesen Berufen wird außerdem schlecht anerkannt und schlecht bezahlt – weil ihrer Tätigkeit noch die Annahme anhängt, dass Selbstaufopferung ein Lohn in sich sei.
Empathie laugt aus, Mitgefühl gibt Energie
Das bringt mich zur vielleicht wichtigsten Lektion aus Blooms Buch: Es ist zehrend und anstrengend, das Leiden anderer empathisch mitzuerleben. Empathie in diesem Sinne ist erschöpfend. Anders, als viele denken, ist sie keine zwingende Voraussetzung für moralisches Handeln, sondern kann uns sogar die Energie und den Willen rauben, anderen zu helfen.
Deswegen ist es sehr wichtig, den Unterschied zwischen Mitgefühl und Empathie zu verstehen. Wenn wir Mitgefühl haben, handeln wir nicht aus empathischem Stress, sondern weil wir helfen wollen.
Buddhist:innen wissen das. Wie der britische Philosoph Charles Goodman in seinem Buch über buddhistische Ethik schreibt, unterscheiden buddhistische Texte zwischen „sentimentalem“ und „großem“ Mitgefühl. Ersteres bedeutet, dass man die Gefühle anderer Menschen mitfühlt. Dies gilt als erschöpfend und sollte vermieden werden. „Großes“ Mitgefühl ist distanzierter. Man sieht Leid und will helfen, ohne sich im Schmerz der anderen zu verlieren.
Das passt zu heutigen Erkenntnissen aus der Neurowissenschaft. „Mitgefühl entspringt einem evolutionär sehr alten Care-System in uns, es hat mit Fürsorge, Wärme und Liebe zu tun. Man leidet nicht mit, man hat eine starke Motivation zu helfen und verspürt oft positive Emotionen“, sagt Tania Singer, die in ihrer Forschung viel dafür getan hat, Empathie und Mitgefühl neurologisch voneinander abzugrenzen.
Im Schatten des Todes
Noch einmal zurück zu der Frau aus Mauthausen, die den Beschwerdebrief schrieb, weil sie den Anblick der KZ-Toten nicht ertragen konnte. Der britische Historiker Gordon J. Horwitz erzählt in seinem Buch In the „Shadow of Death“, wie Asche und Knochensplitter aus der Gaskammer und dem Krematorium bei Mauthausen in Lastwagen weggefahren und in die Donau gekippt wurden. „Wenn unzerkleinerte Knochenstücke von Lastwagen fielen, sollen die Anwohner diese Überreste eingesammelt und am Straßenrand kleine Haufen daraus gebildet haben, um den Mördern zu signalisieren, dass sie sich des Verbrechens bewusst waren.“
Vielleicht war die Autorin des Beschwerdebriefs eine dieser Anwohner:innen. Vielleicht hätte sie mehr getan, wenn sie Mitgefühl für die Gefangenen empfunden hätte – und nicht Empathie.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert