Ich bin in meinem Wesen eher asozial. Wobei: Ich mag Menschen. Versteht mich nicht falsch. Ich finde es nur oft leichter, allein zu sein statt mit vielen. Trotzdem achte ich genau darauf, mich nicht zu lange zurückzuziehen. Ich werde nie vergessen, wie es war, als ich es mit der Einsamkeit übertrieb.
Damals lebte ich in München in einer schönen, alten Wohnung mitten in Schwabing, die ich mir leisten konnte, weil sie unrenoviert war. In meinem Schlafzimmer gab es keine Heizung. Der Dielenboden hatte Löcher, in die Erbsen hineinpassten. Ich brauchte trotzdem noch einen Mitbewohner, um die Miete zu zahlen. Ich suchte mir einen, der mich genauso mied wie ich ihn. Er verließ fast nie sein Zimmer.
Ich war als jüngstes von fünf Kindern in einem hellhörigen Haus groß geworden. Von meinem Zimmer aus konnte ich jeden Bewohner am Rhythmus seiner Schritte auf der Treppe erkennen. Jedes Tagebuch, das ich anfing, warf ich nach ein paar Wochen weg, weil es nur eine Frage der Zeit war, bis meine Schwester es fand. Ich träumte davon, einen Ort ganz für mich zu haben. Alleinsein bedeutete für mich Freiheit und Kontrolle über mein Leben.
Der einsame Wolf ist ein mächtiger Typ
Diese Art zu denken war nicht nur meine Idee. Sie ist auch ein Merkmal unserer Kultur, in der die Fähigkeit zum Alleinsein als Stärke gilt. Wer keine Menschen braucht, ist weniger bedürftig. Der einsame Wolf ist ein mächtiger Typ, der soziale Schmetterling verletzlich. Ich wollte lieber ein Wolf sein.
Was ich nicht wusste: In der Natur sind Wölfe schwächer ohne ihr Rudel. Sie sind Außenseiter. Den starken Alleingänger haben sich Menschen ausgedacht. Menschen, die – wie ich damals – nicht verstanden haben, wie wichtig wir füreinander sind. Unsere Mitmenschen sind nicht nur nette Gesellschaft. Sie sind, im wahrsten Sinne, ein Teil unseres Selbst.
Heute kann ich das beweisen. Dafür müssen wir uns allerdings als Erstes ansehen, was das überhaupt ist: ein „Ich“. Es wird in diesem Text um Hirnforschung gehen, um Klavierspielen, Sex und Gefängnisse. Und um den Moment, in dem mir klar wurde, dass ich kein Wolf mehr sein wollte.
Nichts könnte persönlicher sein als das Gefühl unseres Selbst. Gleichzeitig kann niemand – weder Philosoph:innen der Antike, noch Psycholog:innen oder Neurowissenschaftler:innen von heute – in einem Satz überzeugend erklären, was das Ich eigentlich ist.
Die Philosophen und Psychologen Raymond Martin und John Barresi, die erforscht haben, wie westliche Denker:innen seit Platon das Selbst sehen, sagen: Die Idee des Selbst hat ab dem 17. Jahrhundert die der Seele ersetzt. Damals sorgte der Aufstieg der modernen Wissenschaft dafür, dass die Vorstellung einer immateriellen Seele an Bedeutung verlor. Stattdessen richtete man die Aufmerksamkeit auf den Verstand oder das Gehirn als Sitz eines geistigen Selbst. Ein individuelles Ich zu haben, getrennt von allen anderen, bedeutet im Westen Freiheit, Kraft und Kontrolle.
Heute dominiert im Westen die Idee, Menschen seien erst Individuen – und dann soziale Wesen. Moderne Philosoph:innen wie Shaun Gallagher oder Dan Zahavi sprechen von einem „minimalen Selbst“. Die Erfahrung, ich selbst zu sein, kommt demnach vor allem anderen. Wenn ich eine Erdbeere rieche, ist es meine Nase, die den Duft wahrnimmt. Wenn jemand meinen Arm bewegt, macht mein Körper die Bewegung, auch wenn ich sie nicht steuere. Dieses Gefühl von „Ich“ ist getrennt von allen anderen. Es beginnt und endet da, wo unser Körper ist.
Dein „Ich“ als Avocado
Die US-Autorin Gish Jen, deren Eltern in den 1940er Jahren aus China nach Amerika eingewandert sind, sagt: Die Menschen im Westen stellen sich das Selbst wie eine Avocado vor.
In unserem Zentrum, meinen wir, gibt es so etwas wie einen Kern, unsere Essenz. Sie ist für jeden einzigartig. Ihr wollen wir unbedingt treu bleiben. „Die Menschen in Asien haben oft ein Flexi-Self“, sagt Jen. „Sie haben nicht den kulturellen Auftrag, anders zu sein als andere. Sind sie Individuen? Natürlich. Sind sie unterschiedlich? Natürlich!“ Laut Jen machen sie einfach keinen großen Aufstand um ihr Anderssein. Im Westen hingegen müsse alles authentischer Selbstausdruck sein. Jede Entscheidung sei damit aufgeladen.
Ganz sicher glaubte ich an das Avocado-Ich, als ich in München lebte. Am Zusammensein mit Menschen störte mich mein Gefühl, immer eine Rolle spielen zu müssen: Man lacht über Witze, die man nicht lustig findet. Man trägt unbequeme Schuhe. Man fragt „Wie geht’s?“ und interessiert sich nicht für die Antwort.
Ich dachte, allein sei ich meinem echten Selbst am nächsten. Ich ging nicht Biertrinken mit meinen Kommiliton:innen und erst recht nicht aufs Oktoberfest. „Gut“, sagte ich, wenn mich jemand fragte, wie es mir ging. „Gut“ – auch wenn ich vielleicht zu viel Zeit damit verbrachte, aus dem Fenster zu sehen, Menschen zu beobachten, die mit dem Obsthändler scherzten, in Grüppchen an Bushaltestellen standen, Café-Tische besetzten. Ich bildete mir ein, dass ich froh war, nicht Teil ihrer Grüppchen zu sein. Und stellte mir vor, dass das Alleinsein mich auf das reduzieren würde, was echt an mir war.
Die stärkste Illusion, die jede:r von uns erlebt
Das ist ziemlich lustig, wenn man bedenkt, was die Hirnforschung über das Selbst weiß. Die meisten psychisch gesunden Menschen laufen mit dem Gefühl durch die Gegend, sie würden von einem Ich-Wesen gesteuert, das an einer Art Zentrale in ihrem Kopf sitzt und von dort aus auf die Welt schaut.
Das Problem: Die Hirnforschung hat keinen festen Ort für das „Ich“ finden können. Alles, was wir erleben, unsere Gefühle, Gedanken und Impulse, die wiederum Verhaltensweisen auslösen, werden durch unzählige verschiedene Prozesse bewirkt, die sich über verschiedene Regionen im Gehirn verteilen. Anders als Apfelbäume oder Häuser existiert das Ich nicht als festes Ding. Es ist ein sich veränderndes System, ein Prozess ohne Zentrum.
Der Kognitionswissenschaftler Bruce Hood schlägt in seinem Buch „The Self Illusion“ vor, sich das Ich wie ein Kanizsa-Muster vorzustellen:
Du siehst in diesem Bild ein weißes Dreieck – aber da ist gar keins. Die Form ist komplett durch den Kontext definiert. Das Gehirn erzeugt eine Illusion, indem es Linien sieht, wo keine gezeichnet wurden. Es halluziniert die Erfahrung eines Dreiecks.
In ähnlicher Weise knüpfen unsere Erfahrungen und Eindrücke sich um ein Gefühl von Selbst. Es ist die stärkste Illusion, die jede:r von uns in seinem Leben erlebt. Wir wachen damit jeden Morgen auf. Wir wissen nicht, warum. Unsere Vorstellung eines Ichs muss einen evolutionären Sinn haben – aber welchen? Und: Wenn es kein festes Ich gibt, was ist dann dieses authentische Selbst, nach dem alle suchen?
Wer bin ich und wer sind die Nudeln?
Klar ist: Wir brauchen ein Gefühl von Selbst, schon allein aus praktischen Gründen. Ohne hätten wir keine Grenzen, würden uns eins fühlen mit Nachbar:innen, Autos und Eichhörnchen. Das kann sehr schön sein, wie Mystiker:innen über die Jahrhunderte berichtet haben oder Menschen, die psychedelische Drogen probiert haben. Aber ein solches Einheitsbewusstsein könnte es ziemlich schwierig machen, eine Packung Nudeln im Supermarkt zu kaufen. Wer bin dann ich und wer sind die Nudeln?
Klar ist auch: Wenn wir das Ich als Illusion abtun, wird es bedeutungslos. Das ist es aber nicht. Wir gehen nicht als Karte neuronaler Prozesse durch die Welt, sondern als Menschen, die versuchen, sich in der Welt zurechtzufinden.
In München fand ich heraus, dass es sehr einfach ist, mitten in einer Gesellschaft allein zu sein. Außerdem merkte ich, dass ich mich immer unruhiger und trauriger fühlte, je mehr Zeit verging. Ich war mir selbst schlechtere Gesellschaft, als ich erwartet hätte.
Was ich damals nicht wusste: Man kann sich nicht selbst finden, ohne zu verstehen, wie man zu anderen steht. Es ist sogar möglich, dass wir andere brauchen, um überhaupt ein Gefühl von Selbst zu haben. „Der Mensch wird am Du zum Ich“, hat der Religionsphilosoph Martin Buber einmal gesagt. Was Buber damit meinte: Im Verhältnis zu unserer Umwelt, in Beziehungen zu anderen können wir uns selbst definieren und erleben.
Anders als kleine Kinder können Erwachsene allein sein, ohne zu sterben. Fraglich ist, wie gut sie psychisch überleben. Als Tom Hanks in der Rolle von Chuck Noland in dem Film „Cast Away“ über Jahre auf einer einsamen Insel strandet, entwickelt er eine intensive Freundschaft mit einem Volleyball, den er „Wilson“ nennt.
Wilson ist mehr als eine filmische Übertreibung. Wie sinnvoll wäre es, von einem Ich zu reden, wenn es keinen Bezug zu anderen gibt? Können wir ein total isoliertes Selbst überhaupt erleben? Die Kognitionswissenschaftlerin Miriam Kyselo sagt: Nein. Sie hält nichts davon, das Selbst allein auf den Körper zu begrenzen oder es als im Kern isoliert zu betrachten.
Viel spricht dafür, dass sie recht hat. Wenn die Grenzen meines Körpers bestimmen, wo mein Selbst ist – wie erklärt sich dann, dass sich dieses Körpergefühl erweitern lässt? Manche Blinde empfinden ihren Stock als Körperteil. Wenn man Probandinnen in Versuchen mit Hirnströmen ermöglicht, mit ihren Gedanken einen Cursor auf einem Monitor zu steuern, empfinden sie den Cursor irgendwann als Teil ihrer selbst.
Wie durchlässig die Grenzen des Ich sind, kann jede:r im Alltag erleben. Beim Tanzen etwa, beim Klavierspielen, beim Sex, beim Verliebtsein, in einer intensiven Unterhaltung. Das Zentrum ist dann nicht der eigene Körper, sondern die Interaktion mit Partner:innen oder dem Musikinstrument. „Manchmal ist es schwierig festzustellen: Wo fange ich an und wo höre ich auf? Das bedeutet nicht, dass wir uns in der Welt auflösen. Aber da ist ein Gefühl von Verbundenheit“, sagt Kyselo. „Oder fragen Sie Frauen, die schwanger sind oder die ihr Kind stillen. Wie viel Gefühl von Abgrenzung ist da?“
Fünf Jahre ohne Kontakt sein
In meiner Zeit in München gab es diesen einen Sommertag: Mein Mitbewohner war nicht da. Ich ging in sein Zimmer. Es roch wie eine schlecht gelüftete U-Bahn. Auf dem Boden lagen Kleider verstreut. Neben dem Bett stand ein Topf mit angetrockneten Nudelresten. Ich öffnete das Fenster, um den Geruch alter Wäsche rauszulassen. Als ich mich umdrehte, durchfuhr mich ein Gedanke: „Du brauchst Menschen. Sonst stirbst du irgendwann in einem solchen Raum.“
Zurück in meinem Zimmer setzte ich mich auf den kalten Fußboden. Ich hatte keine Angst. Aber auf einmal war es ganz klar. Ich brauchte Menschen. Nicht nur aus praktischen Gründen, damit jemand überprüfte, ob ich vielleicht tot auf dem Boden lag, wenn ich länger nicht ans Telefon ging. Ich hatte etwas verloren, das ich nicht in Worte fassen konnte. Aber ich wusste, dass es wichtig war.
Die Philosophin Lisa Guenther hat ein Buch über Isolationshaft geschrieben. Sie sagt, dass Menschen, die man über längere Zeit in die Isolation zwingt, einen sozialen Tod sterben. Sie sind nicht nur einsam. Es zerfrisst ihr Gefühl für die Welt und für ihr eigenes Ich, dafür, was ihr Körper ist und was ein Tisch oder eine Wand ihrer Zelle. Bis sie nicht mal mehr wissen, ob sie überhaupt existieren.
„Ich war so einsam, dass ich meinte, im Wind Worte zu hören. Sie klangen wie Geflüster. Manchmal roch ich die Farbe an der Wand, aber meistens roch ich nur mich selbst, angewidert von meinem eigenen Geruch. Es gab keine Berührung. Mein Essen wurde durch einen Schlitz geschoben. Türen wurden durch Summer aktiviert, sogar die, die zu einem Käfig direkt vor meiner Zelle führte, in dem ich eine Stunde am Tag ‚Erholung‘ hatte.“
So beschreibt der Aktivist Five-Omar Mualimm-ak seine Zeit in einem New Yorker Gefängnis. Das Wort „Five“ in seinem Vornamen steht für die Zeit, die er in Einzelhaft verbrachte: fünf Jahre. Fünf Jahre ohne Kontakt zu anderen Menschen. „Das Wesentliche im Leben, das lernte ich in diesen scheinbar endlosen Tagen, ist der menschliche Kontakt und die damit verbundene Bestätigung der eigenen Existenz. Wenn man diesen Kontakt verliert, verliert man seinen Sinn für Identität.“
Was ich damals auf dem Fußboden meines Zimmers begriff, war weit, weit weg von dem, was Mualimm-ak verstanden hatte. Aber es berührt den Rand seiner Erkenntnis.
Was Maoris wissen
Wenn ein Maori-Häuptling in Neuseeland oder der Ku Waru in Papua-Guinea „Ich“ sagt, bedeutet es etwas anderes als in Deutschland. Er meint damit nicht nur sich selbst, sondern seinen ganzen Stamm. Und wenn die Mitglieder seines Stammes über Ereignisse reden, die mit dem Stamm zu tun haben, sagen sie ebenfalls „Ich“. Ihr Selbst ist dann keine einzelne Person, sondern ein soziales Kollektiv. Vielleicht sind die Maori näher an der Wahrheit über das „Ich“ als wir.
Wenn ich heute aus einem Fenster meiner Wohnung und auf die Straße hinunterschaue, habe ich ein anderes Gefühl für die Menschen als früher. Ich weiß, ich brauche sie viel mehr, als ich gedacht hätte, nicht nur meine Freund:innen. Auch die Fremden. Etwas verbindet uns, selbst wenn wir uns nie begegnen.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger