Nein, ich möchte nicht, dass der Chirurg, der mir meinen Blinddarm rausnimmt, dabei ab und zu verträumt in die Luft starrt. Ich möchte auch nicht, dass die Handwerkerin, die meine Waschmaschine repariert, nach der Hälfte aufhört und gemütlich Kaffeetrinken geht.
Warum ich extra darauf hinweise? Weil ich gestern auf Twitter das hier geschrieben habe:
https://twitter.com/Bojerlanski/status/1513811272508268547
Viele, die das lasen, fanden es gut, aber viele antworteten auch, dass ihr Chef sie nicht fürs Rumwurschteln bezahle und man sich die Träumerei leider nur in privilegierten Jobs leisten könne.
Wir werden auch für dumme Witze bezahlt
Stimmt – und stimmt auch nicht. Es ist eine Produktivitätslüge, dass es möglich ist, einen ganzen Arbeitstag lang geistige Höchstleistung zu bringen. Diese Lüge ist ein Grund dafür, dass Menschen in ihren Jobs ausbrennen –weil sie meinen, genau das leisten zu müssen. Die Pandemie hat das noch verschlimmert. Viele, die in den letzten zwei Jahren viele Wochen und Monate im Home Office verbracht haben, hatten ständig ein schlechtes Gewissen. Weil sie meinten, ihren ganzen Arbeitstag sinnvoll beschäftigt vor dem Computer verbringen zu müssen. Weil sie ja dafür bezahlt wurden.
Tatsache ist, dass wir auch fürs Kaffeetrinken, dumme Witze mit Kolleg:innen machen und Tagträumen bezahlt werden – oder es zumindest werden sollten. Es ist Teil der Arbeit, weil wir es gar nicht hinkriegen können, ununterbrochen konzentriert Ergebnisse zu liefern. Jeder Produktivitäts-Guru kann dir sagen, dass wir nur phasenweise konzentriert sind und zwischendurch Unterbrechungen brauchen. Wer sich dessen bewusst ist, hat in den ergiebigen Phasen kein schlechtes Gewissen – und ist dadurch letztlich produktiver.
Ja, in manchen Jobs gibt es deutlich mehr Raum für Leerlauf und unproduktive Momente als in anderen. Pflegekräfte haben kaum Zeit zum Kaffeetrinken. Aber unabhängig davon, ob man vor dem Bildschirm oder an einer Kasse arbeitet: Die Leistung unseres Gehirns hat Grenzen.
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Es ist krass, wie viele Menschen – wie viele Chef:innen! – das nicht wissen. Und billigend in Kauf nehmen, dass das für Arbeitnehmer:innen einen ständigen Teufelskreis schafft: Sie machen sich Sorgen, nicht produktiv genug zu sein – und diese Sorge hindert sie daran, effizient zu arbeiten. Deshalb schaffen sie ihre Arbeit nicht – und bekommen noch mehr Angst. Sie sagen sich, dass sie jetzt erst richtig ranklotzen müssen – und schauen sich stattdessen gestresst Katzenvideos auf Youtube an.
Tagträumen ist ein völlig unterschätzter Top Skill
Man muss kein Produktivitäts-Guru sein um zu verstehen, dass das nicht effizient ist. Besser ist es, wenige Stunden wirklich konzentriert zu arbeiten, und den Rest der Zeit ohne schlechtes Gewissen rumzuwurschteln. Pausen zu machen, und, ja, in die Luft zu starren. Tagträumen ist ein völlig unterschätzter Top Skill.
Ich möchte uns beiden hier Geschichten aus dem Leben von Albert Einstein ersparen, der in jedem Text übers Tagträumen auftaucht, weil er angeblich täglich Stunden damit verbracht hat. Das ist aber eigentlich gar nicht so besonders. Laut einer Harvard-Studie, die Menschen mit einer App getrackt hat, lassen Erwachsene bis zu 47 Prozent ihrer wachen Zeit die Gedanken schweifen. Psycholog:innen (und eigentlich alle anderen auch) hielten das lange für eher schlecht. Sie glaubten, dass Tagträumen fehlende Kontrolle über unser Denken bedeutete.
Mittlerweile ist klar, dass es einen Zusammenhang zwischen Tagträumen und Kreativität gibt. Das gilt nicht für jede Art ziellosen Denkens, es gibt negatives und positives Tagträumen. Wir tendieren meist zur negativen Variante: Wenn wir die Gedanken schweifen lassen, denken wir oft über unsere Sorgen und Ängste nach oder über Dinge, die erledigt werden müssen. Für unser Denken ist das mühelos, weil diese Prozesse automatisch laufen. Positive Tagträume verlangen ein bisschen mehr Anstrengung: Athlet:innen oder Kampfsportler:innen nutzen sie zum Beispiel, um im Kopf Bewegungsabläufe durchzuspielen – und so ihre Leistung zu verbessern.
Das funktioniert aber nicht nur bei Sportler:innen. Um ein Problem zu lösen oder auf Ideen zu kommen, ist es oft besser, nicht verbissen darauf herumzukauen. Sondern in die Luft zu gucken und locker vor sich hin zu denken. Leider sehen Chef:innen und Kolleg:innen das selten gern, weil es faul wirkt. Der Trick ist dann, sich trotzdem Nischen fürs Tagträumen zu schaffen, wenn es irgendwie geht. Vor allem muss man das schlechte Gewissen ignorieren, während man scheinbar nichts leistet.
Das wird schon.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Lisa McMinn, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger