Ist dir schon einmal aufgefallen, wie sehr Stress romantisiert wird? Der Künstler, der ohne Leiden nicht arbeiten kann, die Managerin, die von einem Termin zum anderen rennt, weil sie so furchtbar wichtig ist? Oder auch Schüler:innen und Studierende, die für die nächste Klausur pauken – ein bisschen Angst treibt an und führt damit zu besseren Leistungen, oder?
Genau das glauben viele. Aber es stimmt nicht. Ein Grund für das Missverständnis ist ein Experiment aus dem Jahr 1908 mit japanischen Tanzmäusen. Zwei amerikanische Psychologen, Robert M. Jerkes und John Dillingham Dodson, beobachteten damals, dass japanische Tanzmäuse besser lernten, wenn sie moderate Elektroschocks bekamen. Sie schlossen daraus, dass Tiere, um optimal zu lernen, ein gewisses Maß an Erregung (wie Angst) brauchen – nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig.
Aus irgendeinem Grund wurde dieses Ergebnis auf Menschen übertragen und hat sich zu einer etablierten (Schein-)Wahrheit gewandelt: Auch Menschen brauchen Stress, um etwas zu leisten. Die Originalarbeit wurde im Laufe des nächsten halben Jahrhunderts nur zehnmal zitiert, doch in vier der zitierten Artikel wurden die Ergebnisse als psychologisches „Gesetz“ bezeichnet.
Wissenschaftlich haltbar ist das nicht, wie diese Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2015 zeigt. 46 Prozent der betrachteten Studien fanden eine negative Beziehung zwischen Stress und Performance, nur vier Prozent stützten die Schlussfolgerung, dass das Verhältnis zwischen Erregung und Performance einer Glockenkurve entspricht, dass also zu viel und zu wenig Erregung sich eher schlecht auf unsere Effizienz auswirken, ein mittleres Maß aber optimal wirkt.
Egal: Das Internet hat die Bedeutung des „Yerkes-Dodson-Gesetz“, das gar keins ist, vertausendfacht. Wenn du den Begriff auf Englisch googelst, wirst du sogar mehr als 170.000 Resultate erhalten, inklusive tausender Bezüge in wissenschaftlichen Arbeiten. Überall wiederholen Coaches und Effizienz-Trainer diesen Mythos. Und wer denkt nicht, dass ein bisschen Angst ganz gut für die eigene Leistung ist?
Ich habe das auch gedacht – bis ich auf die Arbeit des Psychologen und Neurowissenschaflters Judson Brewer stieß, der seit mehr als zwanzig Jahren Abhängigkeitsverhalten erforscht. Demnächst erscheint mein Interview mit ihm: Wir reden darüber, warum Neugier eine Superkraft ist, Willenskraft dagegen nicht, wie man schlechte Gewohnheiten wirklich ablegen kann und warum sich die Psyche nicht reparieren lässt wie ein Geschirrspüler. Ach, und: In welchem Fällen ein bisschen Stress vielleicht doch ganz gut ist.
Schlussredaktion: Lisa McMinn, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert