Kennst du diesen Moment, wenn in deinem Kopf eine Schranke hochgeht?
So ging es mir gestern, als ich die Geschichte eines Paares las, das sein erstes Kind bekommen hatte. Das ist als Nachricht erst mal nicht gerade spektakulär, weltweit kommen täglich etwa 350.000 Babys auf die Welt. In diesem Fall aber ist die Mutter, Christine, bei der Geburt in ihrem einundfünzigsten Lebensjahr gewesen, ihr Partner Akhil ist ein Jahr jünger. Damit Christine schwanger werden konnte, brauchten die beiden eine Eizellenspende und künstliche Befruchtung mit IVF. Und hier stieß ich gegen die Schranke in meinem Kopf: Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass ich die Mutter dafür verurteilte, dass sie so spät ein Kind bekam. Als hätte sie sich damit abzufinden, dass die Natur Frauen ab einem bestimmten Alter die Fruchtbarkeit abdreht, und als wäre es dem Kind unangemessen, wenn es eine ältere Mutter hatte.
Was soll das sein, „Natürlichkeit“?
Wohlgemerkt: Diese Gedanken kamen mir nur wegen Christine, also wegen der Mutter – nicht wegen ihres Partners Akhil, der bei der Geburt des Kindes kaum jünger war als seine Partnerin. Vater werden mit 50 – was ist daran bemerkenswert? Es passiert ständig und niemand macht sich Sorgen um die Kinder. Ich musste also selbst feststellen: Mein Kopf misst hier offensichtlich mit zweierlei Maß. Was ich für den Mann als vollkommen in Ordnung erachtete, bewerte ich für die Frau als unnormal.
Sicher, das hat damit zu tun, dass Männer biologisch gesehen meist ihr ganzes Leben Kinder zeugen können. Und bei Frauen spätestens nach den Wechseljahren Schluss ist mit der Fruchtbarkeit. Außerdem steigt bei späteren Schwangerschaften das Risiko für Komplikationen (genau deswegen werden schwangere Frauen ab 35 heute auch stärker ärztlich betreut).
Wir empfinden es also als „natürlicher“, wenn Männer noch spät Vater werden. Einfach, weil sie es rein biologisch einfacher haben.
Aber die Schranke in meinem Kopf hat mit „Natürlichkeit“ nichts zu tun (was auch immer das sein soll, diese „Natürlichkeit“). Sie ist eine sexistische Schranke. Denn es gibt ja auch Männer, die keine Kinder zeugen können. Wäre die Geschichte, die ich gelesen habe, Akhils gewesen, hätte er mit fünfzig mithilfe technischer und medizinischer Hilfsmittel ein Kind gezeugt – ich hätte auch das nicht weiter bemerkenswert gefunden, sondern ihm in Gedanken wahrscheinlich sogar gratuliert.
Mich erinnert das an dieses Video von Amy Schumer mit Julia Louis-Dreys, es heißt „Last Fuckable Day“. Darin stößt die Comedian beim Joggen auf drei berühmte US-Schauspielerinnen beim Picknick im Grünen, die einen besonderen Tag für Dreyfus’ feiern: Den letzten Tag, an dem Hollywood sie noch als begehrenswerte Frau einstuft, ihren „Last Fuckable Day“ Das Video ist ziemlich lustig. https://www.youtube.com/watch?v=vDz2kcjWpOs
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Ältere Eltern sind vielleicht gelassener
Mein eigener Vater war über fünfzig, als ich geboren wurde. Ich habe ihn nie gefragt, wie sich das Vatersein für ihn in diesem Alter angefühlt hat; vielleicht war es anstrengend für ihn, in diesem Alter ein Baby zu haben, weil man mit fünfzig weniger Energie hat als mit fünfundzwanzig. Vielleicht war aber auch manches einfacher, weil er gelassener war. Ich glaube, dass ältere Menschen viele Vorteile gegenüber jüngeren haben: Sie kennen sich besser, müssen sich weniger beweisen und wissen im besten Fall, was wirklich wichtig ist im Leben.
Ich will damit nicht behaupten, dass es besser wäre, spät Kinder zu kriegen – es spricht auch viel für junge Eltern. Ich meine, dass die Frage des Alters nicht die wichtigste ist.
Ich hätte mir jedenfalls keinen besseren Vater wünschen können. Ja, ich habe ihn früher verloren als die meisten meiner Freund:innen ihre jüngeren Väter. Aber auch unter ihnen gibt es welche, deren Väter starben, als sie junge Erwachsene oder sogar Kinder waren.
Ich bin mir sicher: Wäre meine Mutter bei meiner Geburt so alt wie mein Vater gewesen, es hätte keinen Unterschied für mich gemacht. Jedenfalls keinen negativen.
Wer schwanger werden darf, ist eine Frage der Gerechtigkeit
Wer unter welchen Umständen und mit wem Kinder kriegen darf, war immer schon mehr als eine biologische Frage, nämlich eine Frage der Freiheit und Gerechtigkeit. Die Geschichte der Unterdrückung von Frauen hatte und hat viel damit zu tun, dass bestimmte Gruppen, meistens Männer, die Fruchtbarkeit von Frauen kontrolliert haben. In vielen Teilen der Welt tun sie das immer noch – oder würden es gerne wieder tun. Auch in den westlichen Ländern. Wer es nicht glaubt, braucht sich nur anzusehen, wie Debatten über Abtreibung laufen, oder sich die Ziele rechter Parteien ansehen.
Die AfD etwa will laut Wahlprogramm durch Kontrollen der Schwangerschaftskonfliktberatung den “Schutz des Lebens” gewährleisten, Abtreibungen “speziell aus sozialen und familiären Gründen” sollen zur Ausnahme werden. 2017 warb die Partei mit einem Plakat mit dem Slogan “Neue Deutsche? Machen wir selbst.”
Heute ist die Gerechtigkeitsfrage noch größer, und die Frage nach der „Natürlichkeit “ unbedeutender, weil auch Menschen Eltern werden, die selbst im jungen Alter ohne künstliche Befruchtung keine Kinder bekommen könnten, sich nicht als Frauen identifizieren, oder denen kein eigener Uterus zur Verfügung steht. Vor drei Jahren traf ich in Israel Ori, der seine Kinder mithilfe einer Leihmutter in Nepal bekommen hatte – seine Geschichte kannst du hier nachlesen.
Eizellenspende und Leihmutterschaften sind extrem teuer und in vielen Ländern nicht oder nur teilweise erlaubt. Auch künstliche Befruchtungen sind sehr kostspielig, wenn man sie selbst bezahlen muss. Auch das ist ungerecht: Wenn nur Menschen mit genug Geld sich einen späten Kinderwunsch leisten können.
„Mir fiel die Seele aus dem Leib“
Was ist so toll daran, sich mit den Schranken seiner Biologie abzufinden? Sicher, es spricht nichts dagegen, wenn man sie gut akzeptieren kann. Aber ich denke, es gibt keinen Grund dafür, Menschen verurteilen, die keine Lust dazu haben.
Ja, vielleicht ist man irgendwann tatsächlich zu alt. Aber wer will das beurteilen? Als älteste Erstgebärende der Welt gilt Erramatti Mangayamma. Sie war 74, als sie Zwillinge bekam. Wetten, dass sich darüber mehr Menschen aufgeregt haben als über Charlie Chaplin, der sein letztes Kind mit 73 bekam?
Akhil beschreibt den Moment, in dem er seiner Tochter nach dem Kaiserschnitt das erste Mal begegnet, so: „Ich bückte mich, um sie anzuschauen. Als ich mich zu ihr beugte, fiel mir die Seele aus dem Leib. Ich war verliebt in dieses lila verfärbte, weinende Kind, das ich mir in einer Million Jahren nicht hätte vorstellen können.“
Ich wage zu behaupten, in diesem Moment war sein Alter völlig egal.
Schlussredaktion: Esther Göbel; Bildredaktion: Philipp Sepos; Audioversion: Iris Hochberger