Frisch gemahlener Kaffee mit einem Papierfilter in einem Glastrichter

© unsplash/ Nathan Dumlao

Sinn und Konsum

Dieses Buch hat mir gezeigt, warum Kaffee die verbreitetste Droge ist

Ich habe Kaffee immer geliebt – und nie einen Grund gesehen, damit aufzuhören. Doch ich habe die Macht des Koffeins über unser Leben unterschätzt.

Profilbild von Theresa Bäuerlein
Reporterin für Sinn und Konsum

Am Nachmittag des zweiten Tages gebe ich auf und lege mich aufs Sofa. Mein Kopf fühlt sich an, als hätte mir jemand mit einem stumpfen Gegenstand eins übergezogen, meine Gedanken wanken umher wie müde Kinder. „Ich muss krank sein“, denke ich dumpf.

Tatsächlich bin ich überhaupt nicht krank. Ich habe einfach aufgehört, Kaffee zu trinken. Mit ein bisschen Kopfweh und Müdigkeit hatte ich gerechnet. Aber nicht mit diesem Maß an gefühlter Zerstörung.

Es ist ein herber Schlag. Ich liebe Kaffee. Neulich bekam ich eine Mail von der Rösterei, bei der ich regelmäßig bestelle. „Herzlichen Glückwunsch!“, stand da. „Du bist ein echter Kaffee-Freak.“ Man hatte anhand meiner Bestellungen ausgerechnet, wie viele Tassen Kaffee ich im vergangenen Jahr getrunken habe, über 1.000 seien es gewesen, stand in der Mail.

Das stimmt natürlich nicht. In meinem Haushalt bedient sich mehr als eine Person aus den Vorräten. Mein Kaffeekonsum liegt total im Rahmen, wenn der Rahmen das ist, was die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit vorgibt: Unbedenklich für gesunde Erwachsende sind 200 Milligramm als Einzeldosis, das sind etwa zwei Tassen Kaffee, und 400 Milligramm über den Tag verteilt, was etwa vier Tassen entspricht. Bei diesen Empfehlungen geht es darum, wie viel Kaffee man trinken kann, ohne seiner Gesundheit zu schaden. Dort steht nichts darüber, wie es sich anfühlen kann, mit dem Kaffeetrinken aufzuhören.

Hast du gewusst, dass du vielleicht drogenabhängig bist?

Wie kam ich überhaupt auf diese merkwürdige Idee? Auf den Gedanken, dass es gut sein könnte, auf mein Lieblingsgetränk zu verzichten? Schuld war ein Buch von Michael Pollan, „Your mind on plants“. Michael Pollan ist ein amerikanischer Journalist, der über Ernährung schreibt, einer der besten auf seinem Gebiet. Seit einigen Jahren beschäftigt er sich zunehmend mit der Wirkung bestimmter Substanzen, die pharmakologisch und medizinisch als Drogen eingestuft werden. Koffein gehört dazu.

„Etwa 90 Prozent der Menschen nehmen regelmäßig Koffein zu sich. Damit ist Koffein die am weitesten verbreitete psychoaktive Droge der Welt und die einzige, die wir routinemäßig an Kinder verabreichen (in der Regel in Form von kohlensäurehaltigen Getränken)“, schreibt Pollan, der übrigens selbst ein großer Kaffeeliebhaber ist (mit den „kohlensäurehaltigen Getränken“ sind Softdrinks wie Cola gemeint). „Normalerweise denken wir nicht an Koffein als Droge oder unseren täglichen Konsum als Sucht. Aber das liegt nur daran, dass Kaffee und Tee legal sind und unsere Abhängigkeit von ihnen gesellschaftlich akzeptiert ist.“

Das machte mir noch keine Sorgen. „Psychoaktiv“ klingt, als würde man rosa Elefanten sehen, aber es bedeutet einfach, dass Koffein ein Stoff ist, der sich auf die Psyche auswirkt. Es wirkt stimulierend, es verbessert die Konzentration und ruft eine schwache Euphorie hervor, vielleicht schützt es sogar vor Leberkrebs und Alzheimer. Was kann man daran nicht mögen?

Der Kaffee hat gewonnen

Seit Jahrhunderten versuchen Menschen dem Kaffee abzuhängen, dass er ungesund sei oder Menschen moralisch verwildern lasse. Es gibt dafür unzählige Beispiele, hier nur zwei, die ich besonders kurios finde: Der Komponist Johann Sebastian Bach hat 1734 eine Kaffeekantate geschrieben, in der ein Herr Schlendrian versucht, mit wütenden Drohungen seiner Tochter Liesgen das tägliche Kaffeetrinken auszureden. In Schweden war Kaffee bis 1820 sogar verboten.

Tatsache ist, dass es keine wissenschaftlichen Beweise dafür gibt, dass Kaffee oder Koffein in normalen Dosen Menschen schaden. Wer ihn trinkt, muss sich nicht schuldig fühlen – und tut es wohl auch nicht. In einer Umfrage unter den Kaffeetrinker:innen in der Krautreporter-Community antworteten 82 Prozent der rund 1.900 Teilnehmer:innen die Frage „Würdest du gerne weniger Kaffee trinken“ mit „Nein“. Rund die Hälfte der Befragten kann sich auch nicht vorstellen, langfristig auf Kaffee zu verzichten. Als wichtigsten Grund gibt diese Gruppe den Genuss am Kaffee an, nur rund vierzig Prozent sagen, dass sie ihn zum Wachwerden brauchen. Das wundert mich nicht, denn fast alle Teilnehmer:innen trinken Kaffee ungefähr im gleichen Maß wie ich, zwischen ein und vier Tassen am Tag. Wer Koffein regelmäßig konsumiert, entwickelt eine Toleranz, braucht also größere Dosen, um positive Effekte zu spüren. Wer bei der gleichen Dosis bleibt, spürt morgens keinen echten Koffeinkick mehr.

Was die „Sucht“ betrifft – nun ja. Ich habe immer gesagt, dass Kaffee meine einzige Sucht ist, aber ernst meinte ich es nie.

Brauche ich Koffein, um zu funktionieren? Ich gebe zu, dass mein Tag mit Kaffee besser läuft. Kriege ich schlechte Laune, wenn ich keinen bekomme? Ja, ich trinke ihn halt gern! Aber süchtig? Das erscheint mir maßlos übertrieben. Ich bin überzeugt davon, dass ich eine Gewohnheit pflege, nicht von einem Stoff abhängig bin. Wenn ich Kaffeepulver nachts im Park kaufen müsste, würde ich wahrscheinlich auf andere Getränke umsteigen. Und ich würde für eine Tüte Espressobohnen niemals einen Kredit aufnehmen oder meinen Fernseher verkaufen.

Koffein ist die Lösung für das Problem, das Koffein verursacht

Es ist umstritten, ob Koffein überhaupt abhängig machen kann – es hängt davon ab, was man als Abhängigkeit bezeichnet, dazu gibt es auch in der Wissenschaft verschiedene Definitionen. Einerseits bekommen viele Menschen tatsächlich Entzugserscheinungen, wenn sie kein Koffein mehr zu sich nehmen, egal ob in Form von Kaffee, Tee, Energydrinks oder Tabletten. Andererseits aktiviert Koffein nicht wie andere süchtigmachende Substanzen das Belohnungssystem im Gehirn.

Klar ist auch, dass Koffein nicht in der gleichen Weise abhängig macht oder auch nur annähernd so zerstörerisch sein kann wie Alkohol oder Nikotin. Man muss als Gesunde:r mehrere Hundert Tassen Espresso trinken, damit Koffein gefährlich wird. Macht kein Mensch.

Dann aber las ich ein paar Sätze, die mir sehr zu denken gaben: „Die erste Tasse Tee oder Kaffee des Tages bezieht ihre Kraft – ihre Freude! – nicht so sehr aus ihren euphorisierenden und anregenden Eigenschaften, als vielmehr durch die Tatsache, dass sie die aufkommenden Entzugserscheinungen unterdrückt“, schreibt Pollan. Koffein sei eine tückische Substanz. „Täglich bietet sich Koffein als die optimale Lösung für das Problem an, das Koffein verursacht.“

Jetzt wurde es persönlich. Ich hatte geglaubt, dass das Glücksgefühl, dass ich beim Kaffeetrinken am Morgen empfand, Teil eines wunderbaren Rituals war: Der Schlaf ist vorbei, du bist noch nicht ganz da, aber hier sind fünf Minuten mit einem warmen, duftenden Getränk, das dir in die Welt des Wachseins hinüber hilft.

Wenn Pollan recht hat, ist dieses wärmende, duftende Getränk aber gar kein so freundlicher Helfer, sondern eher dein Dealer. Es ist ein Stoff, an den dein Körper gewöhnt ist – und den du sogar brauchst, um keinen Entzug zu spüren.

Es mag dramatisch klingen, aber ein wenig brach der Gedanke mir das Herz. Wie gesagt, ich liebe Kaffee – liebte ich einen Betrüger? War das, was ich für Genuss hielt, in Wirklichkeit doch Abhängigkeit?

Roland Griffiths ist einer der weltweit führenden Forscher:innen, die sich mit stimmungsverändernden Drogen beschäftigen. Eines Tages, so steht es in Pollans Buch, hatte Griffiths ein so dringendes Bedürfnis nach Koffein, dass er Kaffeepulver in einen Becher warf, es mit heißem Wasser aus dem Hahn auffüllte und das scheußliche Gebräu austrank. Anschließend war er bestürzt über sich selbst. Er begriff, dass er sich gerade wie ein Junkie verhalten hatte. Es war ein Schlüsselerlebnis: Griffiths beschloss, Koffein zu erforschen.

Für eine seiner bekanntesten Arbeiten wertete er mit der Neurologin Laura Juliano von der American University Washington 57 Studien zum Thema Kaffeekonsum und -entzug aus. Sie fanden heraus, dass selbst Menschen, die nur etwa 100 Milligramm Koffein am Tag konsumieren, also etwa eine halbe Tasse Kaffee, Entzugssymptome bekommen können, zum Beispiel „Kopfschmerzen, Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und dysphorische Stimmung“, wenn sie damit aufhören. Dysphorie ist das Gegenteil von Euphorie. Man ist also ziemlich schlecht drauf.

Griffiths ist mit dafür verantwortlich, dass die Diagnose „Koffeinentzug“ in das DSM-5 aufgenommen wurde, den Leitfaden für amerikanische Psychiater:innen.

Wir sind eine koffeinierte Gesellschaft

Im Buch berichtet Pollan von einem Gespräch, in dem der Forscher ihm rät, eine Weile lang kein Koffein mehr zu konsumieren, wenn er wirklich verstehen will, wie es ihn beeinflusst. „Die Idee dabei ist, dass man das Fahrzeug, das man fährt, nicht beschreiben kann, ohne vorher anzuhalten, auszusteigen und es von außen zu betrachten“, schreibt Pollan. „Dies gilt möglicherweise für alle psychoaktiven Drogen, aber ganz besonders für Koffein. Denn die besondere Qualität des Bewusstseins, die es bei regelmäßigem Konsum fördert, fühlt sich nicht verändert oder verzerrt an, sondern normal und transparent.“ Mit anderen Worten: Wir übersehen, dass das Leben unter Koffeineinfluss nicht unserem Normalzustand entspricht, sondern ein verändertes Bewusstsein bedeutet. „Weil wir es praktisch alle teilen, ist es unsichtbar“, meint Pollan.

Fast Dreiviertel der Menschen in Deutschland trinken regelmäßig Kaffee, die Hälfte jeden Tag. Hinzu kommen die Schwarz- und Grünteetrinker und die Energydrink-Liebhaber. Wir sind eine koffeinierte Gesellschaft. Kaffeetrinker fallen nicht durch Rausch und komisches Verhalten auf, sie sind normal.

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An diesem Punkt gerate ich ernsthaft ins Grübeln. Ich denke an die vielen wunderbaren Momente, die für mich mit Kaffee verbunden sind. Milchkaffee zum Mitnehmen beim Spazierengehen im Park. Filterkaffee an der Tankstelle nach einer langen Nacht, wenn die Sonne aufgeht. Ich, ein Buch und Cappuccino, die Zeit vergessend.

Vielleicht war der Kaffee nicht nur eine wunderbare Ergänzung in diesen Momenten, vielleicht beeinflusste das Koffein ganz entschieden, wie ich sie erlebte. Vielleicht wäre mein Leben mit Pfefferminztee anders gewesen?

Ich beschließe, etwas zu tun, für das ich noch nie einen Grund gesehen habe. Ich werde keinen Kaffee mehr trinken, überhaupt kein Koffein mehr zu mir zu nehmen. Cold Turkey, von einem Tag auf den anderen. Ich will wissen, ob Griffith recht hat, ob ich den Kaffee genieße oder das Koffein mich in der Hand hat.

„Ich fühle mich wie ein unangespitzter Bleistift“

An Tag drei meines Entzugs habe ich mich vom Sofa aufgerafft und sitze in dem Café, das ich manchmal als Homeoffice nutze. Normalerweise liebe ich diesen Ort, der mir so vertraut ist, dass ich den musikalischen Übergang von „Get Lucky“ zu „Levitating“ in der immergleichen Playlist mitsummen kann. Das Raunen der Siebträgermaschine, der Duft nach frisch gemahlenen Kaffeebohnen: Ich bin zuhause.

„Das Übliche?“, ruft der Barista, als ich hereinkomme. „Ja, aber entkoffeiniert“, antworte ich. Sein Lächeln fällt zusammen wie schlechter Milchschaum. „Entkoffeiniert“, sagt, nein, spuckt er, als hätte ich gegen seine Religion gelästert. Ich bin zu müde, um mich zu verteidigen. Und hoffe verzweifelt, dass das Restkoffein in dem Gebräu, das er mir bringt, etwas gegen meine Kopfschmerzen tun kann – entkoffeinierter Kaffee darf laut EU-Verordnung noch maximal 0,1 Prozent Koffein enthalten. Aber es ist bloß braunes, bitteres Wasser.

Schlimmer als der Schmerz und das Grippegefühl ist die Dumpfheit. Ich schaffe es nicht, mich zu konzentrieren. „Ich fühle mich wie ein unangespitzter Bleistift“, schreibt Pollan in seinem Buch, als er mit dem Kaffeetrinken aufhört. Auch ich bin geistig stumpf. Und überhaupt: Was ist eigentlich so toll an diesem Café? Es ist viel zu laut, die Stühle sind hart und die Musik nervt.

Nur das Absetzen der Pille habe ich ähnlich stark bemerkt

Ein Freund, dem ich von meinem Experiment erzählt habe, schickt mir ein Interview mit dem Psychologen Wolfgang Beiglböck. Ein plötzlicher Koffeinentzug sei keine gute Idee, sagt er darin. „Damit man keine Entzugserscheinungen bekommt, sollte man täglich um nicht mehr als zehn bis 25 Prozent reduzieren. Am besten nur alle ein bis zwei Tage die Dosis herabsetzen.“

Beiglböck hat das Buch „Koffein: Genuss- oder Suchtmittel?“ geschrieben. Darin ist auch ein Test, mit dem jede:r die eigene Koffeinabhängigkeit feststellen kann. Ich habe sieben von zehn möglichen Punkten und habe demnach eine „starke Koffeinabhängigkeit“. Das wundert mich an diesem Punkt nicht mehr. Nie, niemals hätte ich gedacht, dass ein Mensch mit einem moderaten Kaffeekonsumverhalten wie ich das Fehlen von Koffein dermaßen spüren würde. Ich vermute, genau deswegen rät der Drogenforscher Griffith zum abrupten Entzug. Es ist ein Schock. Ich habe die Macht des Koffeins unterschätzt.

Sicher geht es nicht allen so, die Koffein absetzen. Rund die Hälfte der Teilnehmer:innen meiner Umfrage haben schon einmal einen Koffeinentzug erlebt. Die Erfahrungen damit fallen erstaunlich unterschiedlich aus. Manche berichten, dass es ihnen leicht fiel (teilweise halfen sie sich mit schwarzem Tee – zwei Tassen schwarzer Tee enthalten etwa so viel Koffein wie eine Tasse Kaffee). Andere waren ein paar Tage müde und gereizt, viele berichten von Kopfschmerzen, die teils so schwer waren, dass sie den Entzug abbrachen. Christine schreibt von „bleiernder Müdigkeit, ich kam nicht mehr aus dem Bett, war echt schlimm.“ Auch das Ritual, sich einen Kaffee zuzubereiten, fehlte vielen.

Persönlich kann ich mich nur an eine andere Substanz erinnern, die ich dauerhaft genommen und deren Absetzen ich in ähnlich starker Weise bemerkt habe: die Pille. Ohne hormonelle Verhütung fühlte das Leben sich besser an, es hatte weniger Graustich. Ich merkte: Die Person, für dich ich mich jahrelang gehalten hatte, kam eigentlich aus einer Packung, die nun im Müll lag.

Wer bin ich eigentlich ohne Koffein?

Wie erleben Menschen das Dasein, die nie etwas Stimulierenderes trinken als Hagebuttentee?

Und wie würde eine Gesellschaft, ja, eine Welt aussehen, in der die Menschen nicht mehr regelmäßig Koffein konsumieren?

Koffein: Ein Geschenk an den Kapitalismus

Pollan ist davon überzeugt, dass Koffein das Entstehen der modernen Welt entscheidend mitbestimmt hat. Um das zu beweisen, holt er weit in die Geschichte aus. Ursprünglich nutzten demnach Sufis im Jemen das Getränk als Konzentrationshilfe, damit sie während ihrer religiösen Andachten nicht einschliefen (ebenso half Tee buddhistischen Mönchen, um während langer Meditationen wach zu bleiben). Innerhalb nur eines Jahrhunderts entstanden in den Städten der gesamten arabischen Welt Kaffeehäuser, mit dem Osmanischen Reich breiteten sie sich nach Norden und Westen aus.

Vielleicht hatten die Beliebtheit des Kaffees und das Alkoholverbot in der islamischen Welt sogar etwas damit zu tun, dass sie zu dieser Zeit in Wissenschaft, Technik und Bildung fortschrittlicher als Europa waren. Das sei schwer zu beweisen, meint Pollan, zitiert aber den deutschen Historiker Wolfgang Schivelbusch, der meinte, Kaffee sei „wie geschaffen für eine Kultur, die den Alkoholkonsum verbot und die moderne Mathematik hervorbrachte.“

Als die Menschen in Europa anfingen, regelmäßig Kaffee und Tee zu trinken, veränderte das ihr Denken, glaubt Pollan. Er führt aus: 1629 entstanden in Venedig die ersten Kaffeehäuser Europas nach arabischem und türkischem Vorbild. 1650 eröffnete ein jüdischer Einwanderer in Oxford das erste Kaffeehaus in England (das erste Kaffeehaus in Deutschland machte 1673 in Bremen auf). Innerhalb weniger Jahrzehnte eröffneten in London Tausende von Kaffeehäusern, in ihrer Blütezeit kam eines auf 200 Londoner. Sie wurden zu einem neuen öffentlichen Raum, Gäste zahlten einen Penny für den Kaffee und konnten stundenlang bleiben, diskutieren und kostenlos Zeitungen, Bücher und Zeitschriften lesen. Gelehrte und Wissenschaftler wie Isaac Newton und Edmond Halley trafen sich im Kaffeehaus.

„Es ist schwer vorstellbar, dass die Art von politischem, kulturellem und intellektuellem Ferment, das im 17. Jahrhundert in den Kaffeehäusern in Frankreich und England aufkam, jemals in einer Taverne entstanden wäre“, schreibt Pollan. „Die Art des magischen Denkens, die der Alkohol im mittelalterlichen Geist förderte, wich allmählich einem neuen Geist des Rationalismus und etwas später dem Denken der Aufklärung.“ Er zitiert den französischen Historiker Jules Michelet: „Kaffee, das nüchterne Getränk, die mächtige Nahrung des Gehirns, die im Gegensatz zu anderen Spirituosen die Reinheit und Klarheit steigert; Kaffee, der die Wolken der Fantasie und ihre düstere Schwere lichtet; der die Wirklichkeit der Dinge plötzlich mit dem Blitz der Wahrheit erhellt.“

Koffein befreite die Menschen aber auch von den natürlichen Rhythmen, die ihre Körper und das Tageslicht vorgaben. Das, so Pollan, trug dazu bei, dass sich die Arbeitswelt änderte. Die Menschen konnten ihre natürliche Erschöpfung mit Koffein regulieren und länger und später arbeiten, so zumindest lautet Pollans These. Allzu weit hergeholt scheint sie nicht: Koffein verbessert den Fokus genauso wie die Konzentrationsfähigkeit – und trug so zum Erfolg der maschinengestützten Arbeit, der Industrialisierung und unserer heutigen Bildschirmarbeit bei, argumentiert Pollan. Er nennt die Kaffeepause, die in den 1940er Jahren in den USA eingeführt wurde, um die Arbeitsleistung der Arbeiter zu steigern, „den besten Beweis für das Geschenk des Koffeins an den Kapitalismus.“

Ich mag mein entkoffeiniertes Selbst

Natürlich geht der Entzug irgendwann vorbei. Auch bei mir. Am siebten Tag sind Kopfschmerzen, Erschöpfung und schlechte Laune verschwunden. Zum ersten Mal seit etwa 15 Jahren spüre ich morgens keinen Drang nach Kaffee. Es fühlt sich gut an, ich fühle mich weniger fremdbestimmt. Auf einmal merke ich wieder, dass mein Tag einen natürlichen Rhythmus hat. Ich bin nicht mehr von morgens bis abends abwechselnd leicht überdreht oder erschöpft, sondern morgens wach, nachmittags müde und abends wieder für ein paar Stunden munter.

Ein Kollege, der vor einem Jahr mit dem Kaffeetrinken aufgehört hat, sagt mir: „Kaffee hatte für mich nie etwas mit Wachsein zu tun. Wach bin ich, wenn ich ausgeruht bin. Kaffeetrinken ist Wachwerden mit der Brechstange. Ich bin froh, dass ich da raus bin.“

Ich mag mein entkoffeiniertes Selbst, es ist ruhiger. Aber ich weiß nicht, ob es für das Leben, das ich mir aufgebaut habe, geeignet ist. Wie kann ich ohne Koffein Deadlines schaffen? Wie stundenlang vor dem Bildschirm sitzen?

Von circa 14.30 Uhr bis 16.30 Uhr bin ich ohne Koffein eigentlich nur noch zu Tätigkeiten in der Lage, für die ich nicht viel denken muss. Davon gibt es leider nicht viele. Ich kann ja nicht jeden Tag zwei Stunden mein E-Mail-Postfach sortieren. Weil ich das Nachmittagstief nicht wie gewohnt mit Kaffee bekämpfen kann, arbeite ich abends länger.

Allmählich schleicht sich das Koffein wieder in meinen Alltag. Erst mit grünem Tee, dann mit einer Tasse Kaffee hier und da. Ich merke: Im Idealfall verschafft mir Koffein die Energie und Konzentration, die ich zum Schreiben brauche. Aber oft gerate ich stattdessen in eine fahrige Nervosität, die schlecht fürs Schreiben ist, aber ideal fürs Rumklicken im Internet.

„Drink Coffee – Do Stupid Things Faster with More Energy“ („Kaffee trinken - Dumme Dinge schneller und mit mehr Energie tun“), stand eine Weile auf den Mitnahmebechern in meinem Homeoffice-Café. Vielleicht ist das mehr als nur ein lustiger Spruch.

Sechs Wochen nach meinem Experiment mache ich noch einmal Beiglböcks Test zur Koffeinabhängigkeit. Mein Ergebnis ist besser: Jetzt komme ich auf vier Punkte und bin damit „geringfügig abhängig“. Ich glaube, das ist für mich auf Dauer realistisch.

Übrigens habe ich versucht, diesen Text ohne Koffein zu schreiben. Es ging nicht. Ich hätte meine Deadline nicht geschafft.


Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert

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