Schon als ich das erste Mal über Jazz schrieb, war vom Einstieg in die Welt des Jazz zu lesen, der in dieser Serie ermöglicht werde. Etwas vollmundig, würde ich sagen. Und dann habe ich auch noch in Aussicht gestellt, Dutzende von Fragen zum Jazz zu beantworten. Nie wieder gebe ich solche Versprechungen ab! Ich komme mir schon vor wie ein Parteipolitiker, der ein wohlklingendes Wahlprogramm verkündet hat und nach dem Wahlsieg kleinlaut zurücksteckt.
Ganz und gar kneifen will ich aber nicht, blicke pflichtschuldigst auf die vielen verschiedenen Fragen aus euren Kommentaren zu Folge 1, die sich um den Zugang zum Jazz drehen, und versuche, sie zu ordnen: Die einen hören heutigen oder neueren Jazz und haben keinen Zugang zum alten, die anderen hören alten, gefälligeren Jazz und steigen beim neueren Jazz aus. Wieder andere können mit jeglichem Jazz nichts anfangen, würden aber gern Zugang zu dieser Musik finden.
Einstiegshilfen für Anfänger
Der Wunsch von bekennenden Ahnungslosen nach Zugang zum Jazz hat mich überrascht und beeindruckt – und sogar ein bisschen neidisch gemacht. Denn, ich muss es gestehen, ich selbst bin leider nicht so aufgeschlossen. Vergleichsweise sogar eher vernagelt.
Hip-Hop zum Beispiel ist eine Musik, zu der ich keinen Zugang habe – und ehrlich gesagt auch keinen haben will. Die Großspurigkeit der Rapper nervt mich, ich will das nicht hören, ich will gar nicht wissen, was da dran ist, was zig Millionen begeistert, ja, ich bin geradezu froh für alle Musik und alle Bücher und alle Kunst, zu der ich keinen Zugang habe. Das lässt mir mehr Zeit für das, was ich mag.
Ziemlich bornierte Haltung, ich weiß. Umso mehr Respekt habe ich vor der Neugier der Leute, die Jazz als Lärm empfinden, aber trotzdem das Gefühl haben, dass da was dran ist. Sie wollen wissen, mit welchen Stücken man anfangen soll, wenn man sich in den Jazz hineinhören will.
Schon mit dieser harmlosen Frage bin ich heillos überfordert. Welche Stücke um Himmels Willen? Wenn es so einfach wäre!
Mit musikalischen Empfehlungen ist es so eine Sache. Vorschläge funktionieren nur selten. Richtig zu eigen machen kann man sich Musik, Kunst, Bücher und dergleichen sowieso besser, wenn man sie selbst entdeckt. Mir jedenfalls geht es oft so: Jazzfreunde beschwören mich, mir eine bestimmte, angeblich fantastische Aufnahme bei Youtube anzuhören oder anzusehen. Die sagt mir dann womöglich gar nichts, aber die oberschlauen Algorithmen präsentieren gleich daneben ein Video, das mich viel mehr interessiert und dann tatsächlich begeistert und zu meinem persönlichen Jazzstück der Woche oder des Monats oder vielleicht sogar ein Stück für den Rest meines Lebens wird.
Lege ich diese Aufnahme dann noch so euphorisiert anderen ans Herz, wird sich meine Begeisterung sehr wahrscheinlich nicht übertragen lassen. Oder ist hier jemand von meinem das letzte Mal angeschwärmten und dringendst empfohlenen Coleman-Hawkins-Stück „Joshua Fit The Battle Of Jericho“ genauso hingerissen wie ich? Wohl kaum.
Umgekehrt habe ich brav und interessiert alle in den Kommentaren genannten Stücke angehört, keines hat mich ins Mark getroffen, manche haben mir so lala gefallen, manche haben mich an andere Stücke erinnert, die ich bei der Gelegenheit gern wiederentdeckt habe. Musiktipps hin und her zu geben oder Playlisten zu teilen, ist nicht mehr als ein nettes Gesellschaftsspiel. Überhaupt „teilen“! Das Lieblingswort der sozialen Medien ist zuckersüße Illusion. Es wird doch eigentlich weniger geteilt, als vielmehr mitgeteilt. Egal, man kann bei diesem Mitteilungs-Hin-und-Her nichts verlieren, aber mit einigem Glück ab und zu ein paar neue musikalische Eindrücke gewinnen. Immerhin.
Mit welchen Stücken anfangen? Es gibt so viele Einstiegsmöglichkeiten. Einen Jazz für Anfänger hingegen gibt es nicht. Es kommt darauf an, was man sonst so hört und wie man gerade drauf ist. Ist man guter Dinge oder sogar verknallt? Hat man Liebeskummer oder Weltschmerz? Ist einem nach bewegungslosem Schmachten zumute oder nach Wippen im Rhythmus? Spielt alles eine Rolle.
Jeder Tipp kann den Zugang öffnen oder ihn versperren, egal, ob es ein Stück von heute ist oder eine hundert Jahre alte Aufnahme. Jazzstücke für Anfänger könnten sinnvoll nur nach einem persönlichen Vorgespräch im Einzelunterricht empfohlen werden. Ein etwas übertriebener Aufwand. Und selbst dann würde es nicht funktionieren. Ich käme mir als Jazzvermittler vor wie ein Schuhverkäufer, der einer unentschlossenen Kundin hundert Paar verschiedener Schuhe zur Auswahl anbietet.
In der ersten Folge habe ich ziemlich viel Selbstbeleuchtung betrieben, wie ein Kommentar zu recht etwas schnippisch anmerkte. Tut mir leid, ich wollte mich bessern, aber es geht auch diesmal nicht ohne, und es wird wohl auch in Zukunft nicht ganz ohne Ich-Erzählung gehen; ich bin ja kein Jazzhistoriker, kann glaubhaft nur von meinen persönlichen Jazzerfahrungen berichten.
Mein Weg oder Umweg zum Jazz und der vieler meiner Jazzfreunde lief über die Rockmusik. Ich bin mit Elvis Presley, den Beatles und den Rolling Stones musikalisch groß geworden. Jazz dieser Zeit habe ich nur sporadisch zwischendurch gehört, zwar gern, aber zufällig und ohne musikalischen Verstand. Zum Beispiel so flotte Sachen wie „The ‚In‘ Crowd“, von Ramsey Lewis (1965), ein Stück, das damals in den Radios rauf und runter lief und schon deswegen von gestrengen Jazzfans als viel zu populär, zu soulig, zu funkig belächelt wurde.
https://www.youtube.com/watch?v=jsFST-7Hx-Y
Doch, gefällt mir immer noch. Manchmal kann man sich ja selbst peinlich werden, wenn man Musikstücke hört, die man in seiner eigenen grauen Vorzeit einmal mochte. Zu Ramsey Lewis’ „The ‚In’ Crowd“ aber stehe ich nach wie vor.
Vor allem Elvis und die Stones haben sich häufig bei den alten Bluessängern bedient. Ich habe mir damals deren Platten besorgt und fand die urig originalen Blues-Versionen echter und überzeugender als die Versionen der Rockmusiker. Das von den Rolling Stones 1969 herausgebrachte „Love in Vain“ stammt von einem gewissen Robert Johnson und klang 1937 so:
https://www.youtube.com/watch?v=07T3h0b93Rg
Wenn man dann aber stundenlang, tagelang, wochenlang, monatelang alten Bluessängern und -sängerinnen zuhört, die sich oft selbst auf der Gitarre begleiten, quält man nicht nur die Menschen, mit denen man zusammenlebt. Das ewige Gejammer hängt einem selbst irgendwann aus den Ohren heraus.
Die Eintönigkeit des Blues will aufgelockert werden, es entsteht ein dringendes Bedürfnis nach abwechslungsreicherer Begleitung und Improvisation. Nicht nur beim heutigen Hörer, auch bei den Musikern muss damals dieses Bedürfnis entstanden sein. So hat sich der Jazz unter anderem aus dem Blues heraus entwickelt. Hat man lange genug alten Blues gehört, kann man diese Entwicklung als eine Art Notwendigkeit verstehen und nachvollziehen.
Auch von der Rockmusik können selbst Rockmusiker selbst zu viel kriegen. Als unlängst Charlie Watts, der Schlagzeuger der Rolling Stones, starb, wurde in den Nachrufen daran erinnert, dass er immer wieder in Jazzbands mitgespielt hatte, und nach eigenem Bekunden sehr viel lieber (weil freier) als in der Band der Rolling Stones.
Zurück zu den Anfängen, zu dem bald hundert Jahre alten „See See Rider Blues“, von Ma Rainey, 1924 aufgenommen:
https://www.youtube.com/watch?v=ZOTTYTGv22k
Hier kann man sehr schön hören, wie der schwerfällig stampfende Blues durch Louis Armstrongs dezentes Trompetenspiel ein wenig vom Boden abhebt und das Stück eine luftige jazzige Note annimmt. Improvisation würde ich das noch nicht nennen, es sind charmante und dezente Verzierungen, erste Flugversuche, die aber schon erahnen lassen, dass in späteren Jahren aus solchem Beiwerk jenes einfallsreiche und virtuose Improvisieren wird, das den Jazz auszeichnet.
Netflix zeigt übrigens seit etwa einem Jahr den Spielfilm „Ma Rainey’s Black Bottom“, der die schwarze Sängerin etwas zu unglaubwürdig als Powerfrau heroisiert, die sich von ihren weißen Plattenproduzenten und auch von ihrer schwarzen Begleitband nichts bieten lässt. Trotzdem sehenswert. Auch Spielfilme können Zugänge schaffen.
Ma Rainey’s wuchtig-herbe Stimme ist ähnlich wie die von Bessie Smith vermutlich nicht jedermanns Sache. Meine auch nicht so. Nicht abschrecken lassen! Es gibt Unmengen von Blues- und Jazzsängerinnen und Blues- und Jazzsängern mit den verschiedensten Stimmen. Wie in der klassischen Musik auch hat jede Stimme ihre Fans und ihre Nörgler. Was die einen entzückt, nervt die anderen. Vielleicht ein Thema für eine spätere Folge dieser Serie: ein paar Dutzend Stimmen zur Auswahl vorzustellen.
Seit Jahrzehnten kursiert das Vorurteil, Jazz, das sei verkopfte Männermusik, und Frauen spielten da keine Rolle. Ja, es mag solche langweiligen und unsinnlichen Klangerzeugnisse geben, die man als verkopften Männerjazz bezeichnen kann. Und, ja, Saxophonspielerinnen gibt es in Werbefilmen mehr als in Wirklichkeit. Von seinen Ursprüngen her aber ist der Jazz sinnlich und allein schon durch die unzähligen Jazzsängerinnen auch sehr weiblich.
Alte Klassiker, die auch Fans von modernem Jazz überzeugen
Es gibt eine ganze Menge Jazzhörer – nein, nicht Jazzhörerinnen, ich meine an dieser Stelle tatsächlich vor allem Männer, leicht verbiesterte Männer oft –, die heutigen, neueren, moderneren Jazz hören und mit älterem Jazz nichts anfangen können. Wahrer Jazz beginnt für diese Leute mit John Coltrane in den 1950er und 1960er Jahren. Auf den Jazz der 1920er und 1930er Jahre blicken sie mit einer gewissen Arroganz. Es ist nicht viel anders als bei der Kunstliebhaberei: Da halten die einen die Frührenaissance für die Blütezeit der abendländischen Malerei, akzeptieren gerade mal noch den Expressionismus und sehen in der zeitgenössischen Kunst zu 99 Prozent nichts als perversen Vermögensanlageblödsinn für ignorante Spekulanten. Diese wiederum empfinden alte Kunst als langweiligen Antiquitätenkram und belächeln deren Sammler als konservative Seidenhalstuchträger.
Wenn Fans des neueren Jazz auf den älteren herabsehen, kann man ihnen zum Beispiel den „West End Blues“ vorspielen, den Louis Armstrong vier Jahre nach „Ma Raineys Blues“ aufnahm.
https://www.youtube.com/watch?v=XkOSCQyRJsE
1928 ist er nun nicht mehr Begleiter, sondern hat seine eigene 5-Mann-Band, die „Hot Five“. Auch wenn diese Aufnahme in der Jazzgeschichte so bekannt ist wie Beethovens Mondscheinsonate oder Mozarts Kleine Nachtmusik in der klassischen Musik, empfehle ich diese drei Minuten doch dringend und habe dabei nicht einmal ein schlechtes Gewissen denen gegenüber, die das schon x-mal gehört haben.
Denn wenn hier nur eine Frau oder ein Mann ist, die oder der diese berühmte Aufnahme bisher noch nicht kannte, und die oder der Gefallen daran findet, dann hat sich mein unorigineller Hinweis schon gelohnt. Sollte es eine Person geben, die dieser Aufnahme nichts abgewinnen kann, möge sie das unten in den Kommentarfeldern vermerken. Ich werde es nicht verstehen. Fans des neueren Jazz, die damit nichts anfangen können, kann man getrost entgegenrufen: Ihr seid noch nicht reif!
Wenn wir schon bei Armstrong sind, hier noch eine kleine Rarität von 1970: der weltberühmte Countrysänger Johnny Cash stellt den weltberühmten Jazzmusiker Louis Armstrong vor, und dann spielen, singen und jodeln sie zusammen einen alten Country Blues von Jimmie Rodgers, den „Blue Yodel No. 9“, den der junge Armstrong schon 40 Jahre zuvor mit seiner Jazztrompete veredelt hatte.
https://www.youtube.com/watch?v=iUeHlyDNki0
Songs für Liebhaber, die bei modernen Stücken eigentlich aussteigen
Diverse Kommentare und Fragen bezüglich Folge 1 haben mir gezeigt, dass nicht nur der Einstieg in den Jazz ein Problem sein kann, sondern auch der Ausstieg. Nicht wenige Liebhaber des alten Jazz steigen aus, wie sie sagen, wenn ihnen die Musik zu wild, zu chaotisch, zu unmelodiös vorkommt. Warum sollten sie sich das antun? Manche Aussteiger und Aussteigerinnen haben dabei eine Art Minderwertigkeitsgefühl, als würden sie etwas versäumen, wenn sie sich den ungewohnten Tönen nicht aussetzten, als wäre das Jazzhören eine Art Bergtour, und sie grämen sich, weil sie den Aufstieg zum lohnenden Gipfel nicht mehr schaffen.
Angesichts dieser Versagensängste verwandle ich mich kurz vom Jazzexperten in einen Therapeuten und spende folgenden Trost: Es ist ein blödsinniges und geradezu perverses bürgerliches Vorurteil, dass große Literatur, große Kunst, große Musik anstrengend, aber lohnend sei. Mit dieser Behauptung lassen sich die ungenießbarsten Bücher und Bilder, Theateraufführungen, Konzerte und CDs vermarkten. Künstlerische Werke, die als gefällig abgetan werden, weil sie nun mal gefallen, können ebenso groß sein.
Das gilt natürlich auch für den Jazz. Es gibt von Mitte der 1920er bis Ende der 1930er Jahre, also in der Zeit, als der Jazz vital und populär war, Unmengen von tollen Aufnahmen, die einen in keinster Weise quälen – sondern nur beglücken. Wer Anfang der 1940er Jahre aussteigt, weil ihm oder ihr der Jazz zu schrill und zu schräg wird, versäumt zwar Einiges, aber die anderthalb oder fast zwei Jazz-Jahrzehnte bis dahin enthalten genug Kostbarkeiten, um sich ausreichend an den feurigen Swing-Titeln der 30er und dem sumpfig-schwermütigen New-Orleans-Jazz der 20er Jahre zu laben.
Ein Beispiel von Tausenden für das, was heute unter dem schrecklichen Wort „Gute-Laune-Jazz“ läuft, ist der kreolisch angehauchte Titel „Runenae Papa“ von 1935.
https://www.youtube.com/watch?v=Q7L52G4iIAQ
Kann schon sein, dass es grimmige Jazz-Puristen mit schwarzen Rollkragenpullovern gibt, die solchen Aufnahmen nichts abgewinnen können. Andere geraten in Fahrt und können bei der Musik kaum sitzen bleiben.
Wer verstehen will, warum es nicht ewig so weitergehen konnte mit dieser ja tatsächlich gute Laune machenden Musik, muss sich belanglosere Titel aus der Blütezeit des Jazz anhören, die es auch zur Genüge gab. Der geniale Duke Ellington, der Ende der 20er Jahre einige bahnbrechende Titel komponiert und aufgenommen hatte, schlurfte in den 30er Jahren in eine kommerziell sehr erfolgreiche aber auch etwas seichte Phase. Hier seine Aufnahme des berühmten Titels „Cocktails For Two“ von 1934.
https://www.youtube.com/watch?v=fSchxFrOkUU
Eine Platte, die einen nicht vom Hocker haut. Eine nette Melodie, routiniert aber temperamentlos abgenudelt, man sieht eine Filmszene vor sich: Foxtrott tanzende weiße Paare, die schwarze Band mit ihren souverän und lässig wirkenden Musikern, denen man rätselhafterweise das unerträgliche Unrecht der alltäglichen Rassentrennung nicht ansieht. Jazz dieser Art kann einem in seiner affirmativen Gepflegtheit durchaus auf die Nerven gehen. Zudem waren mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg 1941 im Mutterland des Jazz die Zeiten nicht mehr sonderlich beschwingt.
1945 schrieb der Trompeter Dizzy Gillespie das Stück, das mit dem Swing erstmal Schluss machte und der neuen Musikrichtung ihren Namen gab: „Bebop“.
https://www.youtube.com/watch?v=nYB7gvyvKPs
Trompetentöne wie Nadelstiche. Wenn einem das zu nervös und zappelig ist, sollte man sich noch einmal ein paar Dutzend von solchen netten substanzlosen, weder in die Füße noch zu Herzen gehenden Aufnahmen in der Art des oben erwähnten „Cocktails For Two“ anhören, bis zum Überdruss am besten, denn dann wird man verstehen, dass so viel musikalische Glätte nicht mehr zu ertragen war, dass der Jazz explodieren musste, dass dieser neue Jazz nicht einfach nur lärmig war, sondern auch erlösend wirken musste. Begreift man die vielen Stücke des Bebop und später des Free Jazz als Antwort auf die Gefälligkeit, kann man an ihnen Gefallen finden.
Ein Stück, das man auch Leuten zumuten kann, die einen bitten, mit super avantgardistischen Titeln verschont zu werden, ist „Theme de Yoyo“, 1970 vom Art Ensemble Of Chicago um den Trompeter Lester Bowie in Paris aufgenommen.
https://www.youtube.com/watch?v=9FN44MvGrNM
Hier wird der treibende Rhythmus regelrecht zertrümmert, es entstehen zwischendurch akustische Scherbenhaufen, aber immer wieder wird das Stück neu zusammengefügt. Außerdem wird es getragen von dem kräftigen Gesangspart von Lester Bowies Ehefrau Fontella Bass. Allein wie sie als Amerikanerin in Paris das Wort „Champs-Elysées“ ausspricht (2:24 bis 2:26 Minuten), ist hörenswert. Zudem wird der Text dezent gespickt mit obszönen Anspielungen, die den Song bei aller scheinbaren Ungefälligkeit durchaus zu einer Gute-Laune-Nummer der besonderen Art machen.
Egal, ob Jazz-Einsteiger oder -Aussteiger, Anfänger oder Fortgeschrittene: Das Stück eignet sich bestens, um auszutesten, ob man so etwas noch musikalisch genießen kann. Ich finde es toll, weiß nicht warum, könnte es nie verteidigen und kann jeden verstehen, der es als Aufruhr im Geflügelhof abtut und wegklickt.
Die „Mitreder“ – gibt es die überhaupt?
Ein Kommentar zur vorigen Folge warf die interessante Frage auf, ob Jazzhören womöglich auch ein Distinktionsmerkmal sei, also nicht unbedingt wirkliche Leidenschaft, sondern eine zur Schau getragene Vorliebe, mit der man sich unterscheiden möchte. So wie jene seltsamen bildungsbürgerlichen Gestalten, die ohne echte Neigung und Verständnis in die Oper gehen, um sich selbst als etwas Besseres vorzukommen und vorzuführen.
Solche wandelnden Witzfiguren gibt es im Jazzpublikum nicht. Obwohl, fällt mir ein: Vielleicht gab es sie mal, und sie sind mit ihren Stars ausgestorben. Miles Davis vor allem gehörte zu den Kultfiguren des Jazz, der mit seiner unnahbaren Art und seinen publikumsverachtenden Auftritten das Publikum besonders entzückte und Leute in die Konzerte lockte, denen die Musik egal war, die nur davon schwärmen wollten, „bei Miles“ gewesen zu sein, wie sie sagten, als seien sie mit dem schwarzen Trompeter und Bandleader befreundet.
Falls sie sich damit als besonders jazzkompetent oder extravagant oder elitär ausweisen wollten, lagen sie falsch. Wenn man keinen Zugang findet, sollte man es bleiben lassen. Und den Jazz nicht zum bildungsbeflissenen Mitreden missbrauchen. Das hat er nicht verdient.
Redaktion: Esther Göbel; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert