Immer wieder höre ich, dass es gut ist, eine starke Meinung zu haben. Sie gilt als Ausdruck von Charakter und Mut. Ich finde das seltsam. Was tut denn ein Mensch, der eine starke Meinung hat? Unerschütterlich immer wieder das Gleiche behaupten? Dabei vor allem sich selbst zuhören? Dann hat jedes Kind im sprechfähigen Alter bereits eine starke Meinung. Das weiß jede:r, der schon mal versucht hat, eine Zweijährige mit Argumenten davon abzuhalten, Brokkoli auf den Boden zu werfen.
Meinungen, erst recht starke, sind so überschätzt wie Multivitamintabletten. Als könnte man sie gar nicht überdosieren. Mittlerweile dürfte klar sein, dass das nicht stimmt. Vor allem bei komplexen Themen verhindern zu viele irgendwie hingeworfene Meinungen, dass wirklich gute Gespräche zustande kommen. Das beste Beispiel dafür können wir noch immer täglich beobachten: Die Corona-Lage ist oft auf so vielen Ebenen so schwierig zu durchdringen, dass sie kaum jemand wirklich versteht. Stattdessen gibt es Meinungsschlachten. Wer nach den vergangenen zwei Jahren nicht meinungsmüde ist, hat die Nervenstärke eines Tatortreinigers. Wir brauchen deshalb nicht mehr Meinungen, sondern weniger.
Immer wieder ist aber davon die Rede, das Meinungsklima in Deutschland sei kaputt. Dass Menschen zunehmend Angst hätten zu sagen, was sie denken. Wenn das stimmt, ist das traurig und, ja, das sollten wir ändern. Nicht, indem wir ab sofort auch bescheuerte Meinungen unwidersprochen stehen lassen, damit alle sich wohlfühlen im freien Meinungsparadies. Sondern indem wir bessere Gespräche führen.
Im ersten Teil dieser Serie habe ich darüber geschrieben, warum das beste Argument nicht immer gewinnt, im zweiten ging es darum, dass Respekt anders funktioniert, als wir glauben. In diesem dritten Teil geht es darum, warum weniger Meinung ein Schlüssel für bessere Gespräche ist.
Meinungen sind billig, Wissen ist teuer
Täglich versammeln sich Menschen in sozialen Medien, in Talkshows und beim Mittagessen und meinen Dinge: wie unfair die Medien mit Helene Fischers Schwangerschaft umgehen, welche Koalitionen die besten für den Klimaschutz sind, ob der Youtube-Algorithmus Nutzer radikalisiert, inwiefern es dringend nötig oder völlig zweitrangig ist, öffentliche Verkehrsmittel auszubauen. Sie haben eine Meinung zur Maskenpflicht, zu Veganismus und zu Mark Zuckerberg. Dabei hat niemand genug Kompetenz, sämtliche dieser Themen zu beurteilen. Ein Großteil der Gespräche darüber ist daher völlig sinnfrei. Das ist nicht unbedingt schlimm, aber es ist sehr laut.
Wenn wir die Energie, die wir ins Meinen stecken, ins Fitnesstudio tragen würden, hätte in sechs Wochen halb Deutschland einen Sixpack. Ich übrigens auch.
„Sie haben kein Recht auf Ihre Meinung“
Nicht alle Meinungen sind gleich problematisch. Einige sind harmlos, sie sind einfach persönlicher Geschmack: Ich finde zum Beispiel, dass es keinen Sinn hat, außerhalb von Italien Pizza zu essen. Niemand kann mich vom Gegenteil überzeugen, ich habe eine starke Meinung zu Pizza.
Das Problem ist, dass viele glauben, eine Meinung, die auf Vorlieben und Sympathien beruht, sei gleichwertig mit einer, die auf Erfahrung und Wissen gründet. Die Frage etwa, ob kostenlose Coronatests sinnvoll sind, könnte dann ebenso unstrittig sein wie mein Pizzageschmack. Das ist sie aber nicht. Pizza ist eine Sache des persönlichen Geschmacks. Tests sind es nicht, es gibt Argumente dafür und dagegen, die man kennen sollte, wenn man eine Meinung dazu äußern will.
Es gibt eine Hierarchie der Meinungen. Manche sind besser als andere: nämlich fundierter.
Der Philosophieprofessor Patrick Stokes sagt seinen Studierenden jedes Jahr zwei Sätze: „Sie haben kein Recht auf Ihre Meinung. Sie haben nur ein Recht auf das, wofür Sie argumentieren können.“ Nicht, weil er Diktator seines Hörsaals sein will, sondern um seinen Studierenden zu vermitteln, dass eine Meinung kein Ersatz für Wissen ist. Er begründet das mit Platon. „Platon unterschied zwischen Meinung oder allgemeiner Überzeugung (doxa) und gesichertem Wissen. Diese Unterscheidung ist auch heute noch brauchbar: Anders als ‚1+1=2‘ oder ‚es gibt keine viereckigen Kreise‘, ist eine Meinung bis zu einem gewissen Grad subjektiv und unsicher.“
Diese Unterscheidung ist sehr wichtig. Denn Menschen ignorieren oft Fakten, die ihren Überzeugungen widersprechen. Sie wehren sich gegen starke Argumente, die ihr Selbstbild erschüttern. Und sie schätzen ihr Wissen höher ein, als es tatsächlich ist.
Für eine Studie der University of Waterloo etwa stellten Forscher:innen rund 3.000 Teilnehmer:innen Fragen aus der Ökonomie. Die Befragten hatten selbst bei komplizierten Themen kein Problem damit, eine Meinung abzugeben – auch wenn sie tatsächlich wenig Ahnung davon hatten. Erst, wenn die Forscher:innen genauer nachfragten, wurden sie unsicher.
Meinungen sind billig, deswegen hat jeder so viele davon. Wissen ist teuer, nämlich hart erarbeitet. Wer sagt: „Ich habe ein Recht auf meine Meinung“, will eigentlich sagen: „Ich darf alles behaupten, was ich will.“
Das Meinungsklima in Deutschland ist (nicht) kaputt
Im Sommer 2021 hat eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach ziemlich viel Aufsehen erregt, weil nur 45 Prozent der Befragten sicher waren, dass sie ihre politische Meinung frei äußern dürfen.
Das Institut macht diese Umfrage seit 1953. Das jüngste Ergebnis war der niedrigste Wert, den es je gab. Die Menschen in Deutschland glauben demnach heute weniger an ihre Meinungsfreiheit als jene, die man acht Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur gefragt hatte. Also Menschen, die eine Zeit erlebt hatten, in der Hunderttausende wegen ihrer politischen Meinung gefoltert und ermordet wurden. Die heutigen Allensbach-Befragten beschweren sich unter anderem über „politisch korrekte Sprachregelungen“.
Die Kommentatoren sorgten sich anschließend um die gesellschaftliche Spaltung in Deutschland. Viele Bürger:innen hätten Angst davor, gesellschaftlich ausgeschlossen zu werden oder befürchteten berufliche Konsequenzen, wenn sie ihre Meinung sagten, glaubt etwa René Schlott vom Zentrum für Zeitgeschichte in Potsdam.
Wenn dem so ist, ist das traurig, aber mit fehlender Meinungsfreiheit hat das nichts zu tun. Die Meinungsfreiheit ist intakt, sonst würden wir nicht ständig darüber reden können, was man alles nicht sagen darf.
Wenn das „Meinungsklima“ kaputt ist, liegt das vielleicht auch daran, dass zu viele glauben, ein persönliches Gefühl sei genauso viel wert wie eine fundierte Meinung. Dass es ein wichtiger Beitrag ist, den sie verteidigen müssen. Sie nennen das Gefühl dann eine „starke Meinung“.
Meinungsstärke ist eigentlich eine Schwäche
Eigentlich verweist die Idee von Meinungsstärke auf eine Schwäche unserer Kultur. Nämlich, dass wir lauten Menschen Macht zusprechen und sie für fähig halten. Der Philosoph Bertrand Russell hat einmal geschrieben: „Das Ärgerlichste in dieser Welt ist, dass die Dummen todsicher und die Intelligenten voller Zweifel sind.“
Wir haben schon in der Schule gelernt, dass Mitreden wichtig ist, wenn man nicht an den Rand gedrängt werden will. Mündliche Mitarbeit wird benotet, also meldet man sich lieber. Wir haben gemerkt, wie sich Ahnungslosigkeit mit Meinung überschminken lässt: indem wir sagen, wie wir etwas finden, statt was wir wissen. Jede:r Job-Coach kann bestätigen, dass das auch im Beruf funktioniert: Chef:innen und Kolleg:innen bewundern eine starke Präsenz und selbstbewusstes Auftreten und verwechseln Nachdenklichkeit und Zurückhaltung mit Inkompetenz.
Die US-Wirtschaftswissenschaftler Cameron Anderson und Gavin J. Kilduff haben diesen Effekt in Gruppenexperimenten nachgewiesen: Sie beobachteten, dass Menschen mit dominantem Auftreten auf ihre Team-Mitglieder sogar dann kompetent wirkten, wenn sie keine oder falsche Problemlösungen anboten.
Das ist keine gute Nachricht für Introvertierte. Aber es liegt auch eine Chance darin, diese Mechanismen zu durchschauen. Denn wir könnten ja damit aufhören, laute Menschen mit Verantwortung und Chefsesseln zu belohnen. Den Blender:innen eine Pause geben und vielleicht generell öfter mehr wissen und weniger meinen.
Ich weiß, das ist ein frommer Wunsch und ich bin mir selbst nicht sicher, ob ich es schaffen werde. Vielleicht hilft die Einsicht, dass nicht nur Meinen und Wissen, sondern auch Meinen und Handeln zwei sehr unterschiedliche Dinge sind. Man kann den ganzen Tag das Internet mit Meinungen vollschreiben und am Ende das Gefühl haben, man habe sich als aktive:r Bürger:in betätigt. Wahrscheinlich war es aber einfach ein verschwendeter Tag.
Noch eine letzte Wahrheit
Den klugen Leser:innen dieses Textes ist natürlich klar, dass er eigentlich eine Frechheit ist. Denn er ist getränkt mit meiner Meinung. Vielleicht wäre dieser Text glaubwürdiger, wenn er philosophischer wäre und zum Beispiel „Eine Ethik der Abwendung“ hieße. Aber erstens lautet eine letzte Wahrheit über Meinungen, dass sie unterhaltsam sind. Ohne Meinungen würde in sozialen Medien, Talkshows und in Gesprächen beim Mittagessen sehr oft Ödnis und Schweigen herrschen.
Deswegen ist dieser Text kein Plädoyer für die Abschaffung aller Meinungen. Sondern dafür, sie nicht so furchtbar ernst zu nehmen und nicht immer reflexhaft zurückzumeinen. Und vielleicht ein bisschen demütiger zu werden, was unser eigenes Wissen betrifft, auf dem unsere Meinungen beruhen.
Zweitens gibt es „Die Ethik der Abwendung“ schon. Es ist der Untertitel des Buches „Umdrehen und Weggehen“ des österreichischen Philosophen Peter Strasser. Strasser glaubt, dass es in der heutigen Zeit wichtig ist, nicht alles auszudiskutieren und gelegentlich einfach freundlich wegzugehen.
Vielleicht ist die stärkste Meinung manchmal die, die man sich verkneift.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert