Es sagt etwas über diese Zeit, dass der bemerkenswerteste Moment der Oympischen Spiele 2021 der ist, in dem eine Sportlerin aufgibt. „Die überbordende Liebe und Unterstützung, die ich erhalten habe, haben mir gezeigt, dass ich mehr bin als meine Leistungen und das Turnen. Daran habe ich vorher nie wirklich geglaubt“, schrieb Simone Biles, die beste Turnerin der Welt, heute auf Twitter.
https://twitter.com/Simone_Biles/status/1420561448883802118?s=20
Das ist ziemlich traurig, aber auch ziemlich großartig. Und es macht klar: Als Biles an diesem Dienstag in Tokio loslief, sich vom Sprungbrett abdrückte und in die Luft schraubte, sprang sie über sich selbst hinaus. Obwohl ihre Leistung für die beste Turnerin der Welt sehr schlecht war: Sie schaffte eine Drehung weniger als geplant, konnte den Sturz gerade noch verhindern. Bald danach gab sie bekannt, dass sie bei diesen Spielen nicht mehr weiterturnen würde.
Keine körperliche Verletzung hindert sie daran. „Es ist eine mentale Sache“, wie der Kommentator der Sportschau etwas hilflos sagte.
Dem Superstar ging es nicht mehr gut, der Druck war zu viel, sie hatte keine Freude mehr am Turnen. „Ich hatte das Gefühl, dass ich für andere turne”, sagte Biles. „Das tut mir einfach im Herzen weh, denn das zu tun, was ich liebe, wurde mir irgendwie genommen, um anderen Menschen zu gefallen.”
Dass Biles es wagt, ihr Glück und ihren Seelenfrieden über den Erfolg zu stellen, und dass ihr dafür von allen Seiten neben der erwartbaren Kritik überwältigende Unterstützung entgegenschlägt – das zeigt, wie weit wir beim Thema mentale Gesundheit gekommen sind.
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Aufhören kann eine echte Lösung sein
Offenbar haben genug Menschen verstanden, dass ein Ideal der westlichen Kultur ein Update braucht: Durchbeißen, sich selbst überwinden und Ziele erreichen ist nicht immer das Beste, was ein Mensch erreichen kann. Dieses Ideal bringt viele von uns dazu, selbst an bescheuerten, schlechten und selbstzerstörerischen Zielen festzuhalten. Dabei ist im richtigen Moment aufzugeben so stark wie einfach weiterzumachen, oft auch mutiger – und klug ist es auch noch. Weil Aufgeben eine valide Lösung für Probleme sein kann, die chronisch unterschätzt wird. Der 1970 gestorbene Football-Coach Vince Lombardi sagte einmal den berühmten Satz: „Gewinner geben niemals auf, und Leute, die aufgeben, gewinnen nie.“ Er hatte unrecht. Gewinner:innen sind Menschen, die wissen, wann sie aufhören müssen.
Die Psychologieprofessorin Veronika Brandstätter erforscht das Aufgeben von Zielen. Sie sagt in diesem Interview, dass sie ein gesellschaftlich interessantes Phänomen beobachtet: „Es gab ja jetzt über Jahre hinweg den Trend zur Selbstoptimierung, mit den ganzen technischen Geräten, mit denen man sich selbst misst und prüft und Ziele setzt. Und eine Gegenbewegung zu dieser Selbstoptimierungsbewegung sind nun die Ratschläge, sich nicht zu überfordern, und scheitern zu dürfen.“
Auch in der Forschung gibt es eine Wende, meint sie: Während es in der Motivationspsychologie lange vor allem darum ging, wie Menschen Beharrlichkeit entwickeln und Ziele erreichen können, interessieren sich Wissenschaftler:innen seit der Jahrtausendwende zunehmend für den Wert des Aufgebens.
Kein Mensch braucht Übermenschlichkeit
Vor ihrem Auftritt bei den Olympischen Spielen wurde Biles immer wieder dafür gepriesen, was sie alles schaffte, obwohl ein enormer Druck auf ihr lastete. Man nannte sie gerne „übermenschlich“. Auch des Leids wegen, das die 24-jährige bereits durchgestanden hatte: 2018 machte die Turnerin öffentlich gemacht, dass ihr Teamarzt sie sexuell missbraucht hatte. Spitzenleistungen schaffte sie trotzdem.
In der Pressekonferenz nach dem Wettbewerb sagte Biles: „Letztlich sind wir auch Menschen. Also müssen wir unseren Geist und unseren Körper schützen, statt rauszugehen und das zu tun, was die Welt von uns verlangt.“ Seelische und körperliche Gesundheit hängen bei Sportler:innen besonders eng zusammen, denn Sport auf hohem Niveau erfordert extreme Konzentration. Wer sie nicht aufbringt, kann sich schwer verletzen. Inspiriert, sagt Biles, habe sie Naomi Ōsaka, die japanisch-amerikanische Tennismeisterin, die sich Anfang des Jahres aus zwei Grand-Slam-Turnieren zurückgezogen hat. Auch Ōsaka sagte, dass sie sich um ihre psychische Gesundheit kümmern musste, weil sie unter Depressionen litt.
Ein Ziel, sagt Brandstätter, ist ohnehin nur eine Sache des Framings. „Was empfinde ich persönlich als Aufgeben? Und was ist einfach nur ein Ziel in einem etwas veränderten Gewand?“ Simone Biles neues Ziel ist es, sich um sich selbst zu kümmern. Offenbar ist sie auch darin verdammt gut.
Bildredaktion: Till Rimmele; Schlussredaktion: Rico Grimm