Neulich begegnete mir eine Bekannte auf der Straße, die ich schon lange nicht mehr gesehen hatte. Ich freute mich. Aber nicht lange. Denn bald erklärte sie mir mit großer Geste, „sie habe keine Angst vor Corona“, das sei ihr völlig fremd. Sie verstehe die „Panikmache“ um die Delta-Variante des Virus nicht.
Das ist natürlich keine originelle Aussage. Wer fünf Minuten in sozialen Medien verbringt, findet sie wortgleich wieder. Was mich trotzdem verblüffte, war der merkwürdige Stolz, mit dem meine Bekannte ihre Furchtlosigkeit verkündete. Es ist ja leicht, das Virus zu ignorieren. Solange man nicht gezwungen ist, sich damit auseinanderzusetzen, weil man selbst in Gefahr ist oder sich um andere kümmert, ist keine Angst haben wirklich einfach.
Warum manche Menschen Gefahren nicht ernst nehmen
Gut möglich, dass Angst das unterschätzteste Gefühl dieser Zeit ist. Ihr schlechtes Image beruht auf einem Missverständnis. Nämlich dem, dass Angst schwach ist und irrational. Und dass das Gegenteil von Angst Mut ist.
Ein Gespräch mit Michele Gelfand hat mir geholfen, besser zu verstehen, was noch hinter der Angstlosigkeit meiner Bekannten stecken könnte (mein Interview mir ihr erscheint demnächst). Gelfand ist interkulturelle Psychologin, sie beschäftigt sich also damit, wie Kultur sich auf das Denken und Verhalten von Menschen auswirkt. In ihrer Forschung unterscheidet sie zwischen „strikten“ und „lockeren “ Kulturen. „Strikt“ sind Kulturen, in denen Menschen stark auf soziale Normen und Regeln achten und darauf, dass andere sie einhalten. So lassen sich zum Beispiel Länder auf einem Strikt-Locker-Spektrum einordnen: Singapur, Japan, China und Deutschland sind eher strikt. Eher locker hingegen sind Länder wie die USA, Neuseeland, Italien und Spanien. Aber auch Organisationen sind eher strikt oder locker in ihrer Kultur – und Persönlichkeiten. Hier kann man ein Quiz machen, um zu verstehen, wo man auf dem Strikt-Loose-Spektrum liegt (englisch). Ich bin übrigens „moderately loose“, also „mäßig locker“.
Das ist ein Newsletter von Theresa Bäuerlein. Parallel zu unseren langen Magazin-Texten verschicken unsere Reporter:innen immer wieder kurze Analysen, Lesetipps und Rechercheskizzen, die einen Blick in ihre Arbeit hinter den langen Stücken ermöglichen sollen. Manche der Newsletter sind Kickstarter für anschließende, tiefere Recherchen. Und manche halten wir für interessant auch für Leser:innen, die die einzelnen Newsletter gar nicht abonnieren. Deswegen holen wir sie ab und an auf die Seite.
Ein historischer Grund dafür, dass strikte Kulturen entstehen, sind laut Gelfand Bedrohungen von außen. Durch Naturkatastrophen zum Beispiel, aber auch Kriege. Die USA etwa haben kaum Erfahrung mit Krieg im eigenen Land, was ein Grund für ihre eher lockere Kultur ist.
Es gibt noch andere Gründe für eine strikte oder lockere Entwicklung. Etwa ob eine Region eher Weizen oder eher Reis anbaut, oder welchen Beruf eine Person hat (Berufe, die viel Koordination erfordern, führen eher zu Striktheit). Der entscheidende Punkt im Zusammenhang mit Corona ist der folgende: Normalerweise rücken Menschen zusammen, wenn sie sich bedroht fühlen. Dieser Mechanismus versagt in der Pandemie an vielen Stellen. Und zwar mehr, als Forscher:innen wie Gelfand ursprünglich angenommen haben. Ein Grund dafür ist, dass die Bedrohung nicht klar genug ist. Das Virus ist unsichtbar. Das persönliche Risiko wird als niedrig eingeschätzt – das Risiko für andere Menschen nicht ernst genommen.
Es gibt aber noch einen Grund: Wenn Gesellschaften und Menschen lange Zeit keine Erfahrung mit Bedrohungen von außen gemacht haben, nehmen sie diese nicht ernst. Oder sie identifizieren den Angstauslöser falsch: Sie sehen zum Beispiel nicht das Virus als Bedrohung, sondern die Einschränkung ihrer Freiheit. Gelfand nennt das eine „evolutionäre Fehlanpassung“.
Angst macht im besten Fall wach und kreativ
Für mich passt das zu den klugen Sätzen, die meine Kollegin Silke Jäger mir vor ein paar Wochen gesagt hat: „Viele haben sich in den letzten Monaten gegen Panikmache gewehrt. Es stimmt, Panik hilft nicht weiter. Aber Angst ist etwas anderes. Ich finde es richtig, vor sowas wie diesem Virus Angst zu haben. Das ist nicht böse oder schlecht oder ein Zeichen von Schwäche. Es ist angemessen, sich davor zu fürchten, dass man sich ansteckt. Man kann erstens nicht wissen, ob man zu denjenigen gehört, die einen schweren Verlauf haben. Und zweitens nicht abschätzen, wen man ansteckt – ob es für jemanden ernste Folgen hat, wenn man auf seiner eigenen Freiheit besteht.“
Ich will hier nicht zu großmütterlich klingen, aber ich würde sagen: Erwachsensein bedeutet auch, Angst haben zu können. Das ist eine Schutzfunktion. Im Idealfall ist Angst nicht lähmend, sondern macht vorsichtig, wach und kreativ. Solange sie nicht überhandnimmt, kann sie ein Motor sein, um Lösungen zu finden. Klar, sie ist kein angenehmes Gefühl. Aber ohne Angst gäbe es uns längst nicht mehr.
Schlussredaktion: Susan Mücke; Audioversion: Iris Hochberger