Eines wundert mich bei den hitzigen Diskussionen ums Fleischessen immer wieder: Dass wir sehr viel über Tierwohl reden, aber sehr wenig über Menschenwohl. Und zwar schon lange. Der Jubel war groß, als Aldi in der vergangenen Woche verkündete, dass der Discounter Billigfleisch aus den Regalen werfen wolle. Das heißt: Von 2030 an wollen Aldi Nord und Aldi Süd nur noch Frischfleisch von Tieren verkaufen, die „in den Haltungsformen drei und vier“ aufgezogen wurden (was die Haltungsformen bedeuten, steht hier). Kurz danach zogen Lidl und Kaufland nach. Das könnte tatsächlich ein wichtiger Schritt fürs Tierwohl sein. Wenn der Handel seinen Einfluss nutzt, ist das ein mächtiger Hebel, meint selbst der beim Tierwohl ziemlich kritische Tierschutzbund.
Aber Billigfleisch gibt es nicht nur deswegen, weil Tiere leiden. Sondern auch, weil Arbeiter:innen aus Südosteuropa dafür schuften – und dabei teils extrem ausgebeutet werden. Die Zeit-Redakteurin Anna Kunze hat schon 2014 in „Die Schlachtordnung“ beschrieben, wie Arbeiter:innen in Niedersachsen tagsüber Schweine und Hühner zerteilen und nachts in Wäldern schlafen, zwischen hübschen Dörfern mit Klinkerhäusern und herausgeputztem Fachwerk. Wer ein Bett in einer Unterkunft hat, zahlte dafür 200 bis 290 Euro im Monat, verdiente 800 bis 900 Euro netto im Monat, zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche.
Auf einmal schauten alle auf die Fleischarbeiter:innen
Erst im Juni 2020 wurde das für den Rest der Bevölkerung interessant, weil die Arbeitsbedingungen dieser Menschen auf einmal auch für andere zur Gefahr wurden: Es gab einen Corona-Ausbruch in einem Schlachthof von Tönnies in Rheda-Wiedenbrück, es war der bis dahin größte Ausbruch in Europa. Die Arbeiter:innen lebten in überfüllten Unterkünften und waren bei der Arbeit nicht gut genug vor dem Virus geschützt. Knapp 20.000 Menschen mussten im Kreis Gütersloh in Quarantäne. Auf einmal stand ein Mann im Fokus: Clemens Tönnies, Chef von Deutschlands größtem Fleischkonzern und einer der reichsten Deutschen. Bekannt war er bis dahin vor allem als Schalke-Vorsitzender (mittlerweile ist er zurückgetreten). Man kann sich kaum einen größeren Kontrast vorstellen als den zwischen diesem Unternehmer, der ein geschätztes Vermögen von 1,6 Milliarden Dollar hat, und den Arbeiter:innen, die seine Schweine, Rinder und Hühner schlachten.
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Eine neue sehenswerte ZDF-Dokumentation schaut sich Clemens Tönnies und das System, das er entscheidend mitgeprägt hat, genau an. Dabei erfährt man nicht nur, dass er früher mit einem goldenen Motorrad durch die Gegend fuhr und sein Vater ihm eine Ohrfeige gab, als er sagte, dass er nicht Metzger werden wollte. Die Dokumentation schneidet Tönnies Geschichte gegen die Stimmen und Bilder der Arbeitsbedingungen der Menschen, die in den Tönnies-Betrieben schuften und die billigen Würste und Schnitzel möglich machen, die sich die Deutschen auf die Teller legen. Wie eine Arbeiterin, die berichtet, dass sie den ganzen Tag lang acht bis zehn Kilo schwere Stücke gefrorenes Fleisch herumwuchten musste. Alle Arbeiter:innen in der Dokumentation bleiben anonym, ihre Gesichter unkenntlich. Sie haben Angst.
Klagen um Geld und Körperverletzung
Clemens Tönnies trat im vergangenen Jahr nach dem Corona-Skandal vor die Presse und versprach, dass die Branche sich ändern werde. Was seitdem tatsächlich passiert ist, hat Anne Kunze hier aufgeschrieben. 1.100 Klagen haben die Firma Tönnies und ihre Subunternehmer demnach vor nordrhein-westfälischen Verwaltungsgerichten eingereicht. „Sie möchten vom Land die Lohnkosten für die Quarantäne ihrer Angestellten erstattet bekommen (…) Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft Bielefeld gegen den Tönnies-Konzern wegen fahrlässiger Körperverletzung und Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetz.“ Manche Arbeiter:innen mussten derweil laut Kunze monatelang auf ihren Lohn aus der Quarantänezeit warten.
Immerhin: Seit Januar gibt es es jetzt ein strengeres Gesetz, das Arbeiter:innen besser schützen soll. Große Fleischbetriebe dürfen seit 1. Januar 2021 in ihrem Kerngeschäft keine Subunternehmen mehr beschäftigen. Bis dahin war ein Großteil der Arbeiter:innen von diesen Subunternehmen aus Osteuropa in die deutschen Schlachthöfe gebracht worden. Jetzt sind die Firmen selbst für ihre Arbeiter:innen verantwortlich.
Etwas tut sich also in der Fleischbranche, sie rüttelt und wackelt an mehreren Stellen. Vielleicht ist es der Anfang vom Ende des Systems, wie wir es heute kennen. Vielleicht gibt es tatsächlich eine Zukunft, in der weder Menschen noch Tiere darin ausgebeutet werden. Oder die Verantwortlichen finden einfach immer wieder Wege, die neuen Regeln zu umgehen. In jedem Fall sollte klar sein, dass Billigfleisch nicht billig ist, den Preis zahlen halt nur nicht die Kund:innen an der Supermarktkasse.
Schlussredaktion: Susan Mücke