Ich habe mich einmal lange mit einem Ex-Nazi unterhalten. Nennen wir ihn Dietmar. Dietmar hat als Musiker früher Texte geschrieben, die voller Hass waren und Worte enthielten wie „Rassenschande“. Dann bekam Dietmar ein Kind. Als er das Baby in den Armen hielt, spürte er auf einmal etwas Neues. Lebensfreude. Glück. Liebe. „Das hat etwas mit mir gemacht und in mir geöffnet“, sagte er mir. Das Leben hatte einen Sinn, es war nicht mehr nur Dunkelheit und Wut. Es war der Anfang vom Ende von Dietmars Nazi-Karriere.
Glück ist unglaublich stark. Es kann Leben herumreißen. Jeder sehnt sich nach den Gefühlen, die Dietmar erlebt hat. Trotzdem ist dies ein Text gegen die Suche nach dem Glück.
Nicht, weil ich eine verdammte Zynikerin bin oder einer dieser Menschen, die auch mit Rehkitzen und Schmetterlingen nichts anfangen können. Ich bin fest überzeugt von der Kraft des Glücks. Aber auch davon, dass das Streben danach Menschen kaputt macht.
Von den eigenen Gefühlen enttäuscht
Das ist alles andere als banal. Die Suche nach Glück spielt in den alltäglichsten Situationen einen Rolle. Sie wirkt im Hintergrund, wenn Menschen wählen, entscheidet mit darüber, was sie einkaufen oder wie sie zur Arbeit gehen. Sie macht uns manipulierbar und gibt denen Macht, die das auszunutzen wissen. Während die Amerikaner:innen das Streben nach Glück sogar in ihre Unabhängigkeitserklärung geschrieben haben, sind die Deutschen eher stolz darauf, dass ihr Grundgesetz keine solchen Frivolitäten enthält. Vielleicht sind die Amerikaner:innen ehrlicher. Denn egal, wo man lebt oder woran man glaubt: Jeder Mensch will glücklich sein.
2011 erschien ein viel beachteter Artikel in der Fachzeitschrift „Emotion“ über zwei Studien, in denen die Autor:innen die folgende Annahme überprüfen wollten: Menschen, die Glücklichsein besonders wichtig finden, machen sich damit unglücklich. Tatsächlich fanden sie Belege dafür. Die Aussagekraft dieser Studien ist begrenzt, denn die Teilnehmerzahl war klein. Ich erwähne sie vor allem wegen einer bemerkenswerten Beobachtung: „Je wichtiger Menschen Glück finden, desto wahrscheinlicher werden sie enttäuscht“, schreiben die Autor:innen.
Dieser Effekt trat paradoxerweise besonders in positiven Situationen ein, weil die Teilnehmer:innen dann eine hohe Erwartung an Glück hatten. Sie waren enttäuscht darüber, dass sie sich nicht glücklicher fühlten – und genau das machte sie unglücklich. Doch der Druck, sich glücklich fühlen zu müssen, macht nicht nur unglücklicher. Er verdeckt auch die Sicht auf die guten Momente.
Grübeln im Glücksraum
Es gibt weitere Hinweise. In einer Studie von 2018 fanden Forscher:innen Belege dafür, dass Menschen mit Fehlschlägen schlechter klarkommen, wenn sie von einer „Kultur des Glücklichseins“ umgeben sind. Das heißt: Wenn man ihnen vermittelt, dass Glück eine sehr wichtige Sache ist. Zu der Studie gehörten zwei Experimente. Im ersten sollte eine Gruppe australischer Psychologiestudierender 35 Anagramme in drei Minuten lösen. Dabei saßen sie in einem Raum, an dessen Wänden Poster und Klebezettel mit motivierenden Sprüchen hingen, außerdem standen Bücher über Glück und Wohlbefinden herum. Die Versuchsleiter erwähnten immer wieder beiläufig, wie wichtig Glücklichsein war. Was die Teilnehmer:innen nicht wussten: 15 der Anagramme waren überhaupt nicht lösbar. Eine zweite Gruppe arbeitete in einem neutralen Raum an der gleichen Aufgabe. Eine dritte saß beim Knobeln ebenfalls in einem Glücksraum – allerdings hatten sie keine unlösbaren Aufgaben vor sich.
Danach machten die Proband:innen eine Atemübung, während der die Forscher:innen sie immer wieder zu ihren Gedanken befragten. Diejenigen, die im Glücksraum gesessen hatten, dachten deutlich öfter an die Übung zurück und darüber nach, was sie nicht geschafft hatten. Eine weitere Studie bestätigte diese Ergebnisse. Die Forscher:innen schlussfolgerten: Je mehr Menschen glauben, dass ihre Umgebung von ihnen erwartet, keine negativen Gefühle zu erleben, desto schlechter ist ihr emotionales Wohlbefinden und – desto eher grübeln sie über negative Erfahrungen in ihrem eigenen Leben nach.
Unglück als persönliches Versagen
Die berühmte israelische Soziologin Eva Illouz kennt den Schaden, den das anrichten kann. Illouz hasst Glück. Na schön, das ist ein bisschen übertrieben: Sie hasst die Glücksindustrie. Also jene sich ständig vervielfachende Menge an Ratgebern, Seminaren und mit knalligen Sprüchen sowie strahlenden Menschen versehenen Social-Media-Posts, die als Masse allen Menschen ein glückliches Leben verspricht, die es nur doll genug wollen. Und bereit sind, das Glück in sich zu finden. Denn, so die entscheidende Botschaft: Den Schlüssel zum Glück hat jede:r selbst in der Hand.
Wer also nicht glücklich ist, hat nicht die richtige Einstellung. Unglück ist einfach persönliches Versagen.
Illouz hat darüber mit dem spanischen Psychologen Edgar Cabanas ein Buch geschrieben, „Das Glücksdiktat“. Sie kritisieren darin die Auswüchse der positiven Psychologie, die sich nicht mit den Defiziten, Verletzungen und Schwächen von Menschen befassen will, sondern positive Aspekte stärken möchte. Die Autor:innen glauben, dass diese Haltung Menschen entpolitisiert und entwaffnet. Wenn es komplett an dir liegt, wie glücklich du bist, warum solltest du dann noch die Verhältnisse in deiner Arbeit oder deinem Wirtschaftssystem kritisieren? Selbstoptimierung ist eine kapitalistische Herangehensweise an Gefühle: Du bist der Boss deines eigenen Glücksunternehmens, und wenn der Laden nicht läuft, bist du halt ein schlechter Manager.
Aber wer hungrig ist, wird von einer positiven Einstellung allein nicht satt. Wohlstand hingegen macht erwiesenermaßen glücklich, unter anderem deswegen, weil er die Abwesenheit von Unglück kauft. Illouz und Cabanas wollen, dass die Menschen sich dem Glücksdiktat widersetzen: „Unser Dank geht an alle, die das Streben nach positiven Gefühlen und Glück zu einem nutzlosen Unterfangen machen“, schreiben sie.
Jede Zeit hat ihre Glücksfantasie
Der schwedische Ökonom Carl Cederström hat eine Geschichte des Glücks in der westlichen Welt geschrieben. Er glaubt, dass jede Zeit ihre eigene Glücksfantasie hat – und dass sie die Werte dieser Zeit widerspiegelt. Was wir heute unter Glück verstehen, ist eine ziemlich persönliche Angelegenheit: Glücklich ist, wer sein Potenzial entfaltet und authentisch lebt (was 90 Prozent der Posts von Influencer:innen erklären). Cederström führt diese Glücksvorstellung auf die Gegenkultur in den 1960er und 70er Jahren zurück. Was damals noch noble Ideen waren – persönliche Befreiung, das Recht auf Individualität – ist laut Cederström von Unternehmen und Werbung vereinnahmt worden und hat zu unserer jetzigen Konsumkultur geführt.
Das kann man dem Kapitalismus nur bedingt vorwerfen, so funktioniert er halt. Aber Cederströms und Illouz’ Beobachtungen können helfen, Glück als Produkt von der Wahrheit dahinter zu unterscheiden.
Worüber reden wir also, wenn wir von Glück reden? Egal, wie man es definiert, jeder Mensch weiß, wie es sich anfühlt. Der Moment, in dem du einen neuen Arbeitsvertrag unterschreibst. Der Blick, den ein kranker Mensch dir zuwirft, dessen Hand du eine Nacht gehalten hast. Ein Becher heißer Kaffee an einer Tankstelle bei Sonnenaufgang. Ein Orgasmus.
Die von Eva Illouz verachtete positive Psychologie trifft eine hilfreiche Unterscheidung zwischen zwei wesentlichen Formen von Glück, die schon Aristoteles beschrieben hat. Erstens, Eudaimonie: das Glück eines tugendhaften und idealistisch gelebten Lebens. Eudaimonie ist, was Dietmar erlebt hat. Es ist unabhängig davon, wie gut ein Mensch in einem gegebenen Moment drauf ist – es glüht tiefer als das Flackern momentaner Gefühle. Laut Viktor Frankl, einem der einflussreichsten Psychologen des 20. Jahrhunderts, ist diese Art Glück das Nebenprodukt eines Lebens, das Sinn hat. Sinn ist leider auch zu einem furchtbaren Klischee geworden, aber wenn einer wie Frankl so etwas sagt, hat das mehr Gewicht als die Instagram-Kachel eines Influencers mit zu viel Selbstbräuner oder das Gerede eines Typen im Volvo-Vorstand, der von Purpose faselt. Frankl wusste etwas über das Leben. Er hat Auschwitz, Theresienstadt und Dachau überlebt.
Die zweite Form des Glücks ist Hedonie. Das Glück von Freude und Genuss im Moment, das süße Leben, die Abwesenheit von schlechten Gefühlen. Die Glücksindustrie liebt Hedonie, weil Genuss sich gut vermarkten lässt.
Aber keine der beiden Formen ist besser als die andere. Mein Leben wurde einmal von Hedonie herumgerissen. Während meines Studiums radelte ich zweimal die Woche zu einer Psychologin, die bei mir eine Depression diagnostiziert hatte. Die Therapie war okay, aber der entscheidende Moment, den ich als meine Heilung erinnere, passierte 9.000 Kilometer weit weg von der Praxis, in den Semesterferien in Guatemala. Ich saß in einem ausgemusterten amerikanischen Schulbus, knallgelb und klapprig, der Fahrer hatte die Musik so laut aufgedreht, dass man sonst nichts mehr hörte, und er hatte den Fuß auf dem Gas. Als ich bei einem Schlagloch halb aus den Sitzen flog, blickten mein Sitznachbar und ich uns an und in diesem Moment war so viel verdichteter Irrsinn und Freude, dass ich lachte und nicht mehr aufhören konnte. Ich spürte fast körperlich, wie die dunkle Wolke, die mich lange begleitet hatte, diesem Lachen nicht widerstehen konnte. Sie verzog sich und kam bisher nicht wieder.
Nur Glücklichsein ist todlangweilig
Der entscheidende Punkt ist, dass weder Eudaimonie noch Hedonie sich erzwingen lassen. Im Gegenteil: „Es ist die Jagd nach dem Glück, die das Glück vertreibt“, meint Frankl. Dietmar hatte keine Ahnung, was die Geburt seines Kindes mit ihm machen würde. Ich war nicht aus therapeutischen Gründen in den Bus gestiegen, sondern weil ich nach Guatemala City wollte. Die Lüge der Glücksindustrie besteht darin zu behaupten, dass diese Art Glück als dauerhafter Zustand möglich ist, wenn man die richtigen Dinge tut (und kauft). Den Quatsch kann man einfach vergessen.
Diese Glücksfantasie macht Menschen nicht nur deswegen kaputt, weil sie unmöglich zu verwirklichen ist. Sondern weil in ihr eine grundsätzliche Ablehnung schlechter Gefühle steckt, die mit der Realität des Lebens so viel zu tun hat wie das Land der Gummibärenbande mit einer Parlamentssitzung in Afghanistan.
Wenn man unbedingt eine Glücksformel braucht, dann müsste es eine für gemischte Gefühle sein. Immer mehr Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass es Menschen, die negative und positive Gefühle gleichzeitig erleben können, insgesamt besser geht. Das ist möglicherweise sogar gesünder: In einer zehn Jahre dauernden Langzeitstudie fanden Forscher:innen heraus, dass Menschen, die öfter gemischte Gefühle hatten, bei besserer Gesundheit waren.
Es gibt einen Grund dafür, dass niemand sich einen Film ansehen würde, in dem es den Protagonist:innen die ganze Zeit gut geht. Erstens ist es eine unglaubwürdige Geschichte. Und zweitens ist sie todlangweilig.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert