Schon klar, es hat Vorteile bei Zoom-Meetings mit Kolleg:innen keine Hose zu tragen. Aber seien wir mal ehrlich: Ein bisschen wird dieser Vorteil auch überschätzt.
Alle, die wegen Corona bereits sehr viel Zeit im Homeoffice verbracht haben, wissen das. Sicher, es kann lustig sein, nur halb angezogen da zu sitzen und todernst in die Zoom-Kamera zu sprechen. Vor allem, wenn die obere Hälfte des eigenen Selbst sich mit Hemd und Sakko rausgeputzt hat, so wie bei dem Journalisten Will Reeve, der damit unfreiwillig berühmt wurde:
https://twitter.com/grahamorama/status/1255108155182329859?s=20
Aber noch besser als ein Leben ohne unbequeme Klamotten ist eines, bei dem man echte Menschen treffen darf. Es gibt also jeden Grund, sich darauf zu freuen! Dennoch ist bereits jetzt viel die Rede davon, wie schwierig die Umgewöhnung sein wird, wenn endlich genug von uns geimpft sind und die Maßnahmen fallen. Wie komisch, sich wieder an das Zusammensein mit dreidimensionalen, echten Personen statt Gesichtern auf Bildschirmen zu gewöhnen. Kaum vorstellbar, wieder in Grüppchen beisammen zu sitzen, Freunde zu umarmen, in der Kneipe des Vertrauens zu versacken.
Ich will dennoch sagen: Alles halb so wild. Ja, vorübergehend werden wir uns miteinander vielleicht fühlen wie fremdelnde Kinder. Und sicher wird es eine Weile dauern, bis wir nicht mehr instinktiv zwei Meter Abstand zu allen anderen halten, selbst wenn mehr Nähe ungefährlich ist. Aber wir kriegen das schon hin. Mit Menschen umgehen, ist wie Fahrradfahren: Man verlernt es nicht.
Trunken von Normalität
Ich sage das auch, um mich selbst zu beruhigen. Die britische Ärztin Beth Healey hat ein Jahr lang in der Antarktis gelebt, um zu untersuchen, wie sich Isolation auf Menschen auswirkt. Über eine bedenkliche Erkenntnis spricht sie in diesem Video: „Es ist nicht so, dass Isolation Menschen verändert. Aber es wird viel schwerer zu verstecken, wer du wirklich bist.“ Für mich wirft das Fragen auf. Ist das, was nach zwei Lockdowns aus meiner Persönlichkeit geworden ist, für andere Leute noch zumutbar?
Ich bin recht wunderlich geworden in der Pandemie. Dank Corona habe ich jetzt einen Fernseher, aber auch ein Futterhäuschen auf dem Balkon. In letzter Zeit starre ich ziemlich viel auf Vögel. Ich finde, was dort zwischen den Spatzen und einer ziemlich schlauen, penetranten Taube abgeht, ist besser als das meiste, was auf Netflix läuft. Aber Menschen? Wie gehen die noch mal?
Meine unmittelbare Reaktion beim Anblick der ersten Café-Besucher am Tisch neben mir war Überforderung. Obwohl die Frühlingssonne mir ins Gesicht schien und ich mich monatelang nach meinem Lieblingscafé gesehnt hatte, dauerte es ein paar Tage, bis ich mich selbst hinwagte. Der Kellner zog zur Begrüßung die Maske herunter. Die Menschen im Café lachten, hoben die Tassen und fotografierten sich dabei. Sie schienen trunken von Normalität. Manche Passant:innen schlichen immer wieder vorbei und starrten sehnsüchtig auf die Tische. Es erinnerte mich an die Spatzen auf meinem Balkon, als sie noch Angst vor mir hatten.
Die Lockdowns waren keine verlorene Zeit
Tatsächlich könnte es sein, dass wir uns ziemlich schnell an den neuen Zustand gewöhnen, egal, wie euphorisch oder unruhig wir uns damit fühlen. In der positiven Psychologie nennt man dies das Prinzip der hedonistischen Tretmühle: die Idee also, dass das Lebensglück bei Menschen auf lange Sicht konstant auf einer bestimmten Ebene bleibt. Wenn gute oder schlechte Dinge passieren, sind sie vorübergehend glücklicher oder unglücklicher als vorher. Aber im Laufe der Zeit kehren sie zum gleichen Maß an Glücksempfinden zurück, das sie zuvor hatten.
Das ist beruhigend, aber auch ein bisschen schade. Erinnert sich noch jemand daran, wie es zu Beginn der Pandemie kurz besinnlich wurde und viele darüber nachdachten, dass diese Zeit eine Gelegenheit sein könnte, über grundlegende Dinge nachzudenken? Etwa darüber, was die Art, wie wir leben und arbeiten, mit uns macht? Wie wenig selbstverständlich alles ist?
Ich erinnere mich daran, dass ich 2020 meine Schwester besuchen wollte, eine Reise, die ich schon einmal verschoben hatte. Selbstverständlich hatte ich gedacht, dass es auch etwas später gehen würde. Jetzt sind ihre Kinder ein Jahr älter, und jeder weiß, was für eine kostbare Zeit ein Jahr bei Kindern ist. Am Geburtstag meines jüngsten Neffen dachte ich, dass ich am liebsten das letzte Jahr Leben nicht gelten lassen würde, weil ich so viele Momente mit ihm verpasst hatte. Aber das ist keine gute Art zu denken. Die Lockdowns waren keine verlorene Zeit, auch wenn ich an meinem persönlichen Tiefpunkt geistig so stumpf geworden war, dass ich abends immer Videos guckte, in denen Leute den gleichen Kuchen von einer guten und einer schlechten Bäckerei verglichen und … Nun, das wars. Der Nervenkitzel bestand in der Frage, ob der Kuchen der schlechten Bäckerei gewinnen würde. Es passierte nie.
Menschen vermissen, deren Namen man nicht kennt
Es könnte wertvoll sein, sich klarzumachen, wie besonders dieser Moment ist, in dem die Normalität noch nicht wieder hergestellt ist. Nicht, weil wir eine Weile sozial unbeholfen rumhampeln werden, auch wenn das sicher passieren wird. Die Rückkehr zum Smalltalk wird komisch sein, Partys kann ich mir nur ekstatisch oder alptraumhaft vorstellen. Aber der Punkt ist ein anderer: Die Pandemie hat uns viele Dinge genommen, manchen von uns unfassbar mehr als anderen. Aber sie hat uns auch Dinge gegeben, die zu behalten sich lohnen könnte.
Introvertierte haben in dieser Zeit vielleicht zum ersten Mal erlebt, wie es ist,
wenn sie wirklich ihre eigenen Grenzen setzen dürfen, weil ein Nein zu einer Verabredung von allen akzeptiert wird. Extrovertierte haben Alleinsein gelernt.
Wir sind auch ehrlicher geworden: Wegen Corona war es auf einmal flächendeckend möglich, die Frage „Wie gehts?“ nicht automatisch mit „gut“ zu beantworten. Wenn Kolleg:innen und Freund:innen eine schwere Zeit durchmachten, bekam man das trotz der räumlichen Distanz manchmal besser mit als vorher, weil sie offener darüber redeten. Verletzlichkeit war nicht mehr nur Schwäche, sondern Teil der Pandemie-Normalität.
Dann: Die Erfahrung, dass man sich einer Person auch über Video erstaunlich verbunden fühlen kann – und umgekehrt die Erkenntnis, dass es für Nähe mehr braucht als körperliche Anwesenheit.
Und dass einem Menschen fehlen können, die man noch nicht mal mit Namen kennt: der Typ im Imbiss, der einem den Dürum ungefragt ohne Zwiebeln macht, die Blumenverkäuferin mit den schönen Gestecken oder die Kollegin, der man immer im Aufzug begegnet. Diese Menschen wirken austauschbar, aber sie zählen, sie haben uns gefehlt. Der amerikanische Soziologe Mark Granovetter hat in einem berühmten Aufsatz von 1973 über die Wichtigkeit solcher flüchtigen Bekanntschaften geschrieben, die er „Weak Ties“ nannte, schwache Bindungen. Granovetter glaubte, dass nicht nur enge Bindungen wie Freund:innen und Familie für Menschen wichtig sind, sondern auch diese losen Kontakte, weil sie wie Brücken in andere Lebenswelten sind.
Wenigstens sind alle komisch
Ich will damit nicht kleinreden, wie schwierig die Umgewöhnung für manche von uns sein wird. Über ein Jahr lang hat man uns gesagt, dass es gefährlich ist, andere Menschen zu treffen, dass wir Tod und Leiden riskieren, wenn wir uns anderen ohne Maske nähern. Bei manchen sitzen diese Lektion und die Folgen des Alleinseins tiefer und schmerzlicher als bei anderen.
Aber Beth Healey gibt mir Hoffnung. Nach ihrer Rückkehr 2016 in die Zivilisation waren Busfahren und Supermärkte für sie überwältigend, manchmal wollte sie sich am liebsten hinter eine Freundin verstecken. Aber nach ein paar Monaten ging es wieder. Über die Zeit nach dem Lockdown sagte sie der New York Times, in gewisser Weise sei es einfacher gewesen, aus der Arktis zurückzukehren, als aus der Isolation der Pandemie herauszukommen. Denn nach der Arktis habe nur sie selbst sich seltsam mit anderen Menschen gefühlt. „Jetzt sind alle ein bisschen komisch drauf.“
Ich sehe das positiv: Wenigstens sind wir gemeinsam seltsam.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger