„Faultiere sind die niedrigsten Formen der Existenz“, soll der einflussreiche französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, Mitte des 18. Jahrhunderts gesagt haben. „Ein Defekt mehr hätte ihr Leben unmöglich gemacht.“ Der Mann hatte keine Ahnung.
Eine Wissenschaftlerin, die ein Faultier bauen würde, bekäme sofort den Nobelpreis. Das Tier ist ein Energiesparwunder. Wenn es kalt wird, heizt es nicht auf, sondern regelt seine Körpertemperatur herunter. Die längste Zeit seines Lebens hängt es an Ästen. Als einziges Säugetier kann es seinen Kopf um 270 Grad drehen. Die Blätter wachsen ihm in den Mund. Das Faultier ist ein Triumph der Evolution. Faultiere leben seit 64 Millionen Jahren auf der Erde.
Menschen seit etwa sechs.
Warum müssen wir über Faultiere reden? Weil wir Faulheit missverstehen. In einer Umfrage habe ich die Krautreporter-Community zu Faulheit befragt. Einige schrieben, ich solle nicht von Faulheit reden, das sei negativ besetzt. Sie schickten mir Alternativen: genüssliches Nichtstun, Freizeit, Quality-Time, Selfcare, Chillen und natürlich: Muße.
Ich verstehe das. Nichtstun und Selfcare klingen besser. Muße ist die philosophische Schwester der Faulheit, die schon in der Antike cool war, Platon schrieb auf sie Lobeslieder (dafür hatte er, wie die anderen Herren der Gesellschaft, dank der Arbeit von Frauen und Sklav:innen genug Zeit). „Faul“ sind verdorbenes Obst und modrige Wände. Der Duden listet „fragwürdig“ als ein Synonym. Das will man nicht sein, ich auch nicht. Ich möchte aber trotzdem bei dem Wort Faulheit bleiben. Aus einem einfachen Grund: Weil alle anderen Begriffe dem Nichtstun einen Zweck geben. „Muße“ ist ein philosophischer Rückzug, auch genüssliches Nichtstun und Entspannung können Ziele sein, an denen man sich aufreibt. Hier ist also meine Definition von Faulheit: Das Recht zu existieren, ohne zu produzieren, noch nicht einmal schöne Gedanken. Und ohne schlechtes Gewissen.
Wir können noch nicht mal dann faulenzen, wenn es geht
Gerhard Schröder und ich sind uns hier uneinig. Der Altkanzler hat 2001 in einem Bild-Interview gesagt: „Es gibt kein Recht auf Faulheit.“ Es ging um Arbeitslose. Schröders Haltung hat Tradition. Der Soziologe Max Weber hat sie die protestantische Arbeitsethik genannt. Der Theologe Martin Luther war ein Arbeitsfetischist: „Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen. Müßiggang ist Sünde wider Gottes Gebot, der hier Arbeit befohlen hat.“
Man muss keine Ahnung von Luther haben, um diese Haltung in den Knochen zu spüren. Sie ist so deutsch wie Kartoffelsalat. Ich glaube, dass die meisten Menschen heute nicht einmal mehr dann ordentlich faulenzen können, wenn sie die Zeit dafür haben. Noch nie haben so viele Leser:innen an einer meiner Umfragen teilgenommen, wie an der über Faulheit, es waren über 1.000. Das Thema Faulheit aktiviert Menschen.
Eine Frage, die ich gestellt habe, war: „Wie faul schätzt du dich ein?“ Die Antwort lag im Durchschnitt bei 6, also ein bisschen mehr als mittelfaul. Wir müssen davon ausgehen, dass die wirklich Faulen an dieser Umfrage nicht teilgenommen haben.
Manche Antworten stechen heraus. Weil sie von Teilnehmer:innen kommen, die ihren Frieden mit dem Nichtstun gefunden haben. Es sind wenige, wie Angela. „Ständig wird davon geredet, man solle aus seiner Komfortzone heraus. Ich bin heilfroh, nach vielen Jahren jetzt endlich mal hereinzufinden. Zu tun, was ich möchte, auch wenn es ‚nichts‘ ist, empfinde ich als totalen Luxus. Ich bin kein Geldmillionär, sondern ein Zeitmillionär“, schreibt sie. Die meisten anderen Teilnehmer:innen der Umfrage reden davon, dass sie gerne fauler wären, aber es nicht können. „Faulheit ist nie entspannend, weil immer ein schlechtes Gefühl da ist, dass ich etwas nicht tue, was ich erledigen sollte“, sagt Michaela. Ein:e anonym:e Leser:in hat im vergangenen Jahr aus gesundheitlichen Gründen weder arbeiten, noch einen Job suchen können. „Ich hätte also viel Zeit zum Faulsein gehabt, war aber trotzdem gestresst wegen schlechtem Gewissen.“
Wer nichts leistet, ist unmoralisch
Der Sozialpsychologe Devon Price hat ein Buch mit dem Titel „Laziness does not exist“ (deutsch: „Faulheit gibt es nicht“) geschrieben. Denn die Verachtung von Faulheit ist auch so amerikanisch wie Apple Pie. „Die Faulheitslüge ist ein tief sitzendes, kulturell verankertes Glaubenssystem, das viele von uns dazu bringt, Folgendes zu glauben: Tief im Inneren bin ich faul und wertlos. Ich muss unheimlich hart arbeiten, die ganze Zeit, um meine innere Faulheit zu überwinden. Mein Wert wird durch meine Produktivität verdient. Die Arbeit ist der Mittelpunkt des Lebens. Jeder, der nicht leistungsfähig und getrieben ist, ist unmoralisch“, schreibt er.
Das dürfte vielen bekannt vorkommen, die in den vergangenen Monaten im Homeoffice saßen. Am Anfang der Pandemie war viel von Entschleunigung die Rede, aber man wirft nicht plötzlich seinen inneren Platon an, weil Läden geschlossen sind und das Wohnzimmer zum Büro wird. Erst recht nicht, wenn man sich nebenbei erinnern muss, wie nochmal der verdammte Dreisatz geht, weil die Kinder in der Mathestunde „Verbindungsprobleme“ hatten. Im Februar diesen Jahres sagte Price dem US-Nachrichtensender CNBC, dass viele Menschen im Lockdown Schuldgefühle haben, weil sie Feedback von außen brauchen, um zu verstehen, dass sie ihre Zeit gut nutzen. Dies könne dazu führen, dass Menschen denken, jeder Moment zu Hause könne mit Arbeit verbracht werden. Mehr, als das bei Anwesenheit im Büro jemals der Fall wäre, weil der Tag dort immer wieder natürliche Bruchstellen hat: Man pendelt zur Arbeit, spricht mit Kolleg:innen an der Kaffeemaschine, hat Mittagspause. Ohne diese Referenzpunkte, meint Price, wissen wir im Homeoffice nicht, wann und ob wir genug getan haben.
„Faulheit hat etwas mit Freiheit zu tun. Mit Selbstbestimmtheit. Und dann ab einem gewissen Punkt auch mit Vernunft. Als zweifacher Familienvater kann ich mir Faulheit gar nicht mehr leisten“, schreibt Daniel in meiner Umfrage. Natürlich hat er recht. Aber jeder Mensch hat fünf Minuten am Tag, in denen niemand etwas von ihm will. Wem gehört diese Zeit? Wenn Faulheit Selbstbestimmung ist, ist dann nicht jeder, der nicht faul sein kann, fremdbestimmt?
Wer seine Energie verschwendet, leistet nicht mehr
Was die Frage aufwirft: Stress ist scheiße, keine Frage, aber können wir überhaupt noch ohne? Manchmal scheint es, wir machen aus allem Stress. Aus Druck von außen, aber auch der Abwesenheit von Druck. Aus zu viel und zu wenig Anforderungen. Aus der Arbeit und aus dem Nichtstun. Ist es nicht der pure Wahnsinn, dass ein Konzept wie Fomo („Fear of missing out“, das heißt die Angst, etwas zu verpassen) überhaupt existiert? Oder„ Freizeitstress“? Luther wäre mit unserer psychologischen Komplexität überfordert gewesen.
Wir müssen über Löwen reden. Löwen schlafen bis zu 20 Stunden am Tag, mehr als Faultiere, aber niemand schimpft sie Faulkatzen. Man nennt sie Könige. Selbst Gerhard Schröder respektierte Löwen. Die Faulheit des Löwen ist edel, weil er schön ist und stark und mächtig. Seine bloße Existenz ist ein Geschenk an die Welt.
Die Wahrheit des Löwen ist, dass er nicht faul ist, sondern sich bewegt, wenn es sinnvoll ist. Für Menschen ist Stress ein Statussymbol. Auf so eine blöde Idee würde ein Löwe nie kommen. Er verschwendet seine Energie nicht. Der Computerwissenschaftler Cal Newport, der sieben Bestseller über Konzentration und effizientes Arbeiten geschrieben hat, glaubt, dass viele der besten kreativen Denker:innen sich genauso verhalten. Der berühmte Physiker Stephen Hawking, schreibt Newport, machte fast immer pünktlich Feierabend und soll einem seiner Doktoranden geraten haben, viel Zeit mit Freund:innen und Musikhören zu verbringen. Mit einer Ausnahme: „Wenn man eine Lösung für ein bestimmtes Problem gefunden hat, arbeitet man 24 Stunden am Tag und vergisst alles andere. So lange, bis das Problem vollständig gelöst ist.“
Faulheit ist jetzt ein Selbstoptimierungstool
Zur Wahrheit über Faulheit gehört auch, dass der Ruf des Nichtstuns heute viel besser ist als vor ein paar Jahrzehnten. Die Kulturwissenschaftlerin Yvonne Robel forscht an der Universität Hamburg dazu, wie sich die öffentliche Wahrnehmung des Nichtstuns seit den 1950er Jahren verändert hat. Sie sagt, dass der Begriff in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts kaum vorkam, aber ab den 1990er Jahren und vor allem den 2000ern immer wichtiger wurde. Heute, sagt sie, gibt es einen Muße-Hype.
Aber nicht, weil die Menschen besser genießen können. Sondern weil die Kultur des Schaffens und Machens eine Gegenbewegung hervorbringt, die in Wirklichkeit gar keine ist. Eine, die Faulheit und Nichtstun feiert und das „Selfcare“ nennt oder „produktives Nichtstun“. Denn, das ist ganz wichtig, diese Pseudo-Faulheit ist kein passives Rumhängen, sondern ein aktives Ausruhen, das gestaltet wird, damit man hinterher noch besser funktioniert. Es gibt Ratgeber, die beim Faulsein und Nichtstun helfen wollen und Apps, die ans Pausemachen erinnern. Willkommen im 21. Jahrhundert: Faulheit ist jetzt ein Selbstoptimierungstool.
Wir müssen über Ameisen reden. Fast jede:r kennt die Fabel über Grille und Ameise, sie hat den Ruf der Ameise als winzigen Workaholic über Jahrhunderte zementiert. Zur Erinnerung: Die Ameise schuftet den ganzen Sommer, die entspannte Grille singt. Im Winter sitzt die Ameise auf ihren hart erwirtschafteten Vorräten und die Grille hat ein Problem. Diese Geschichte braucht ein Update. Forscher der University of Arizona haben 2015 herausgefunden, dass ein Großteil der Ameisen einer Kolonie den ganzen Tag lang vor allem eines tut: nichts. „Sie sitzen wirklich einfach nur rum“, sagt der Insektenforscher Daniel Charbonneau, der das Verhalten rumhängender Ameisen für seine Doktorarbeit untersucht hat.
Sozialschmarotzer? Nicht doch. Die untätigen Ameisen erfüllen eine wichtige Funktion. Sie ersetzen die arbeitenden Ameisen, wenn diese erschöpft sind. Das unterscheidet die faulen Ameisen von Mitbewohner:innen, deren Haare den Badezimmerboden bedecken wie Regenwaldhumus, oder Kolleg:innen, die nie die Spülmaschine ausräumen. Die Ameisen sind gar nicht faul. Sie sind da, wenn sie gebraucht werden.
Existieren ist Leistung genug
Eigentlich ist Faulheit einfach. Es reicht, in die Welt zu starren und nicht zurückzuschrecken, wenn die Leere auf einmal riesig und endlos scheint. Wenn man Glück hat, kann man sich irgendwann einfach drin treiben lassen.
Ich erinnere mich an einen Sonntag vor ein paar Wochen, an dem ich nichts tun musste und mir genau das vorgenommen hatte: nichts. Noch nicht einmal meditieren. Nervös saß ich auf dem Sofa und versuchte, nicht versehentlich das Bad zu putzen oder meine Steuererklärung zu machen. Es war furchtbar. Irgendwann rutschte ich aus reiner Verzweiflung, ich übertreibe nicht, vom Sofa auf den Teppich. Dort war ein Sonnenfleck. Und weil ich schon am Rutschen war, legte ich mich wie ein Kind auf den Boden, den Kopf in das warme Licht. Und auf einmal war es da, dieses Gefühl, das ich gesucht hatte: Die Fülle im Nichts. Für ein paar Momente war Existieren Leistung genug.
Kein Mensch braucht Apps und Ratgeber zum Faulsein. Es reicht, kurz über Faultiere, Löwen und Ameisen zu reden. Von ihnen lässt sich die Kunst der Faulheit in drei Punkten lernen:
- Kümmere dich nicht darum, was andere über dich sagen (auch wenn es ein berühmter Naturforscher ist).
- Verschwende deine Energie nicht.
- Sei da, wenn du gebraucht wirst.
Redaktion: Philipp Daum, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger