Vor anderthalb Jahren wussten wir noch nicht, wie es ist, in einer Pandemie zu leben. Das kommt mir heute irre vor. Anfang 2020 habe ich noch ein Konzert verlassen, weil es mir zu voll und zu laut war. Heute sehne ich mich nach einer Zeit, in der Massen dicht gedrängter Menschen nur anstrengend sein werden, nicht bedrohlich.
Auf Youtube gibt es mittlerweile ein ganzes Genre an Videos, in denen Menschen ihrem früheren Selbst die Pandemie erklären (berühmt ist diese Serie der kanadischen Comedian Julie Nolke).
Wenn ich mit meinem früheren Selbst reden könnte, würde ich mir sagen: Stelle dich auf ein neues Gefühl ein, dass du noch nie hattest. Du wirst es Corona-Erschöpfung nennen. Später wirst du herausfinden, dass der Soziologie und Psychologe Corey Keyes diesen Zustand schon lange vor der Pandemie beschrieben hat. Er nennt ihn „Languishing“. Die New York Times wird darüber berichten und das Gefühl „die dominierende Emotion 2021“ nennen.
Die Abwesenheit von Wohlbefinden
„Languishing“ ist keine Depression und kein Burnout, sondern etwas dazwischen. Keine psychische Krankheit, sondern „die Abwesenheit von Wohlbefinden“, wie die New York Times schreibt. Eine endlose, zermürbende Pandemie ist der perfekte Nährboden dafür. Sie nimmt dem Alltag die Höhen und Tiefen. Darüber zu klagen, fühlt sich komisch an, wenn man zu den eigentlich Glücklichen gehört, die nicht gerade krank sind oder kranke Menschen betreuen müssen. Aber Corona-Erschöpfung ist deswegen nicht egal. Typische Symptome: Du kannst dich schlechter konzentrieren. Du hast kein Interesse an Dingen, die dir sonst Freude machen oder dir wichtig sind. Deine Leistung fällt ab.
Dieser Text ist ein Newsletter von Theresa Bäuerlein. Parallel zu unseren langen Magazin-Texten verschicken unsere Reporter:innen immer wieder kurze Analysen, Lesetipps und Rechercheskizzen, die einen Blick in ihre Arbeit hinter den langen Stücken ermöglichen sollen. Manche der Newsletter sind Kickstarter für anschließende, tiefere Recherchen. Und manche halten wir für interessant auch für Leser:innen, die die einzelnen Newsletter gar nicht abonnieren. Deswegen holen wir sie ab und an auf die Seite.
Immerhin würde ich meinem früheren Selbst sagen, du wirst damit nicht allein sein. Millionen Menschen auf der Welt werden dieses Gefühl gemeinsam mit dir haben. Kein Grund zur Freude, klar, aber immerhin einer, sich verbunden zu fühlen. Zum Beispiel, indem man diese Gedichte liest, die Menschen mit Corona-Erschöpfung verfasst haben: Lockdownlyrik.
Was gegen Corona-Erschöpfung hilft
Es hilft, dieses Gefühl beim Namen zu nennen. Und mit anderen darüber zu reden. Selbst wenn du es nicht hast: Wahrscheinlich gibt es jemanden in deinem Umfeld, der gerade damit kämpft. Ein Teil des Problems ist, dass viele vielleicht nicht merken, dass ihre Freude oder ihr Antrieb schwächer werden. Sie bemerken nicht, wie sie langsam in die Einsamkeit abgleiten: „Sie sind gleichgültig gegenüber ihrer Gleichgültigkeit. Also suchen sie sich auch keine Hilfe“, schreibt die New York Times. Das ist auch deswegen bedeutsam, weil Keyes nahelegt, dass nicht nur die Menschen in Zukunft Angststörungen oder Depressionen haben werden, die jetzt schon darunter leiden. Sondern diejenigen, denen es gerade mittelschlecht geht.
Du bist nicht sicher, ob du „nur“ Corona-Erschöpfung hast oder therapeutische Hilfe brauchst? Der Psychologe Tom Enders liefert hier eine Anleitung dafür, wie du einen Therapieplatz kriegst.
Corona-Erschöpfung verstehen bedeutet auch, sich klarzumachen, dass wir immer noch trauern: um eine Welt, die wir verloren haben, wie mir der Trauerexperte David Kessler im Mai 2020 erklärt hat.
Was helfen kann: Zeiten schaffen, in denen man sich konzentrieren kann. Ohne Mails, Messenger, Telefon. Und auf kleine Ziele konzentrieren: ein interessantes Projekt, ein lohnendes Ziel, ein sinnvolles Gespräch.
Klar, es ist schwierig, sich dazu aufzuraffen, wenn man gerade durch die Corona-Suppe stapft. Deswegen ist es eine gute Idee, auch die eigenen Erwartungen erstmal niedrig anzusetzen.
Das klingt deprimierend. Aber ich habe gerade einen wunderschönen kleinen Text im Magazin „The Atlantic“ gelesen, der klarmacht, warum niedrige Erwartungen so heilsam sein können.
Der Autor James Parker schreibt über eine Zeit in den Neunzigerjahren, in der es ihm richtig schlecht ging. Er sitzt vor einem Teller Rühreier in einem Café im Londoner Stadtteil Soho. (Damals konnte man noch in Cafés sitzen, erinnert sich jemand daran?)
Parker leidet. Unter Gefühlen, die man heute „Panikattacken“ nennen würde, die damals aber noch kaum jemand versteht. Verzweifelt nimmt er einen Schluck Tee und berührt dabei das Laminat der Tischplatte, das von seiner Tasse warm geworden ist.
Etwas in ihm registriert die Wärme, die durch den Gedankennebel zu ihm dringt. Plötzlich denkt er: „Eines Tages wirst du es schaffen, einfach zu schätzen, was vor dir ist. Der Tee, das Café, London, das bisschen Wärme auf dem Tisch. Eines Tages wird das genug sein.“
Ja, schreibt er, wir sollten versuchen, das Beste zu erreichen. „Exzellenz allein kann uns aus dem Schlamassel holen. Aber besser, die Latte niedriger anzulegen, wenn es um deine persönliche Bindung an die Welt geht. Wenn du dem schäbigen Sandwich, das du isst, dem albernen Film, den du dir ansiehst, der schwierigen Person, mit der du sprichst, einen Hauch tierischer Freude abgewinnen kannst, hast du es geschafft. Und wenn der Ärger kommt, wirst du umso bereiter dafür sein.“
Ich finde, Demut ist eine gute Emotion für 2021.
Schlussredaktion: Susan Mücke