Die Agrarindustrie. Sie hat ein sehr schlechtes Image, wie eigentlich alles, in dem das Wort -industrie vorkommt. Zu groß, zu giftig, zu gierig. Der Gegensatz dieses Feindbilds ist der kleine Bauernhof. Am besten ein Familienbetrieb, mit Landwirt:innen, die naturverträglich arbeiten und Tiere respektieren. Wer sie unterstützen will, kauft sein Gemüse und seine Wurst am besten nicht im Supermarkt, sondern direkt ab Hof oder auf Wochenmärkten.
Das dachte ich zumindest. Und habe in den bald zehn Jahren, in denen ich über Lebensmittel und Essen schreibe, oft darauf hingewiesen, dass es eine gute Idee ist, direkt bei Erzeuger:innen auf dem Markt zu kaufen: Weil man so genauer erfahren kann, wem man sein Geld gibt und wofür. Und nebenbei ein bisschen die Entfremdung der Plastikschalenwelt des Supermarkts überwindet. Aber dann habe ich einen Artikel eines Landwirts aus den USA gelesen, der mir zu denken gegeben hat.
Hühner, auf deren Haltungsbedingungen man neidisch ist
Chris Newman ist Landwirt in Virginia, einem US-Staat, dessen Motto interessanterweise der lateinische Satz „Sic Semper Tyrannis“ (sinngemäß: „Tod den Tyrannen“) ist, den Brutus bei der Ermordung von Caesar gesagt haben soll. Das hat aber wohl nichts mit Newmans Motivation zu tun, auch wenn er durchaus ein bisschen rebellisch unterwegs ist: Ein von der Agrarindustrie unabhängiger Landwirt, der interessant gefleckte Schweine hält, die er mit Namen kennt. Und Hühner, auf deren Haltungsbedingungen man neidisch ist, wenn man selbst in einer Großstadtwohnung lebt. Zu Newmans Hof gehören etwa 40 Hektar. Mit dieser Größe wäre er in Deutschland im unteren Drittel, in den USA ist er recht klein: Dort beträgt die durchschnittliche Größe einer Farm das Zehnfache. Newman verkauft seine Ware auf Wochenmärkten und an Bestellkund:innen. Und er hat diesen Essay geschrieben, in dem er erklärt, warum Wochenmärkte keinen nennenswerten Beitrag zur Agrarwende leisten können.
Dieser Text ist ein Newsletter von Theresa Bäuerlein. Parallel zu unseren langen Magazin-Texten verschicken unsere Reporter:innen immer wieder kurze Analysen, Lesetipps und Rechercheskizzen, die einen Blick in ihre Arbeit hinter den langen Stücken ermöglichen sollen. Manche der Newsletter sind Kickstarter für anschließende, tiefere Recherchen. Und manche halten wir für interessant auch für Leser:innen, die die einzelnen Newsletter gar nicht abonnieren. Deswegen holen wir sie ab und an auf die Seite.
Newman hat in einer ruhigen Minute ein paar Zahlen durchgerechnet: Damit er seine Ware auf einem der größten Bauernmärkte seiner Region verkaufen kann, investiert er im Jahr etwa 5.850 Dollar (darin enthalten sind Gebühren, Vorbereitung, Personal, Treibstoff etc.). Dieser Markt hat 100 Teilnehmer:innen. Wenn man davon ausgeht, dass die anderen 99 Markteilnehmer:innen ähnlich viel zahlen wie Newman, geben sie zusammen 585.000 Dollar aus. Die meisten nehmen an mindestens zwei Märkten teil, also lässt sich die Summe der Kosten verdoppeln.
Mit einem jährlichen Budget von über einer Million Dollar, sagt Newman, könnten diese Bauern bequem einen großen städtischen Markt mieten, beliefern und mit Personal ausstatten, der zwölf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche und das ganze Jahr über geöffnet ist.
Stattdessen geben Newman und seine Kolleg:innen das Geld für einen Wochenmarkt aus, der in ihrer Gegend nur die Hälfte des Jahres geöffnet ist, nur an zwei Tagen in der Woche, und nur jeweils vier Stunden. Und wenn das Wetter sehr schlecht ist, ist der ganze Verkaufstag ruiniert.
Bauernmärkte machen zwei, Supermärkte hunderte Milliarden Dollar
Das Problem daran ist, dass Bauern wie Newman ihre Ressourcen und Arbeit auf eine Weise investieren, die am grundlegenden Problem der Lebensmittelproduktion nichts ändert. Der Anteil, den Bauern wie Newman mit ihren Produkten am Lebensmittelmarkt haben, ist verschwindend gering: Die Verkäufe aller Bauernmärkte in den USA machen weniger als zwei Milliarden Dollar aus, im Vergleich zu hunderten Milliarden Dollar im Einzelhandel. Und die kleinern Erzeuger:innen zahlen dafür den hohen Preis einer knochenharten Arbeit bei schlechter Bezahlung.
Newmans Essay ist jedoch kein Plädoyer gegen Wochenmärkte. Sondern eines für den Abschied von der romantischen Vorstellung des kleinen, unabhängigen Familienbauernhofs als Treiber der Agrarwende. Und für ein anderes System.
Aber bevor ich dazu komme, reden wir über Deutschland.
Man kann Newmans Überlegungen nicht unmittelbar auf Deutschland übertragen. Aber ich habe mir ein paar Zahlen zum Vergleich angesehen, die zeigen, dass seine Gedanken auch hier wichtig sein könnten.
Eine im August letzten Jahres veröffentlichte Statistik schätzt den Umsatz des Einzelhandels auf Märkten für 2020 auf knapp eine Milliarde Euro. Und zwar nicht nur für Lebensmittel, sondern inklusive Getränken, Tabakwaren und Genussmitteln wie Kaffee und Schokolade.
Der Gesamtumsatz aller Lebensmittelhändler, also aller Supermärkte, Discounter, Tankstellenshops und so weiter, lag laut dieser Statistik 2020 dagegen bei knapp 140 Milliarden Euro. Du siehst selbst: Der Unterschied ist gewaltig.
Auszubildende bei Aldi verdienen kaum weniger
Was den schlecht bezahlten Knochenjob angeht: Das gilt auch für Menschen in der Landwirtschaft in Deutschland. Angestellte in der Landwirtschaft arbeiten bei uns etwa 48 Stunden die Woche und verdienen dafür im Durchschnitt 17.975 Euro brutto. Jährlich. Das ist ein etwas höheres Gehalt als das von Auszubildenden bei Aldi (laut dieser Aufstellung). Selbstständige in der Landwirtschaft verdienen jährlich 34.825 Euro brutto. Ihre Arbeit hört nie auf. (Hier die Quelle für diese Zahlen.)
Bauern bleibt unter diesen Umständen kaum eine Wahl. Sie müssen wachsen oder aufgeben. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte ist die Zahl der Lebensmittelproduzenten in Deutschland immer geringer geworden und die Betriebsgröße der verbleibenden immer größer.
Wenn man sich diese Zahlen ansieht, ist klar, dass Einkäufe auf Wochenmärkten keinen nennenswerten Beitrag dazu leisten können, dass die Idee einer umwelt-, tier-, und menschenfreundlicheren Landwirtschaft, wie viele sie sich wünschen, auf einer größeren Ebene realer wird.
Eine Idee, wie es besser werden kann
Vielleicht ist das okay. Nicht alle, die samstags auf dem Wochenmarkt kaufen, haben dabei weltbewegende Absichten. Manchmal will man einfach ein paar Eier und Petersilie kaufen und die Erzeuger:innen unterstützen, die diesen Job noch machen. Auch kleine Gesten haben einen Wert.
Das heißt aber nicht, dass es nicht auch besser gehen kann. Newton hat dafür einen Vorschlag: Er glaubt, dass kleine Landwirte sich viel mehr vernetzen, zu Kooperativen zusammenschließen und auf gemeinsame ethische Produktionsstandards einigen müssen. Auf diese Weise verlieren sie etwas Unabhängigkeit, aber sie gewinnen Zeit und sparen Ressourcen und Geld, weil sie nicht mehr alle Aufgaben allein erledigen müssen, sondern teilen können: Buchhaltung zum Beispiel, Maschinen oder Saatgutbestellungen.
Nachhaltige Landwirtschaft wäre dann nicht mehr etwas, für das Menschen sich aus Liebe zur Sache selbst ausbeuten. Sie könnte sogar eine attraktive Berufsoption sein. Und vielleicht wären diese Kooperativen ein stärkeres Gegengewicht zur unbeliebten „Agrarindustrie“ (warum ich auch dieses Feindbild infrage stelle, werde ich an anderer Stelle aufgreifen).
Klar, auch das wird nicht die eine Lösung sein, die alles heilt, was am jetzigen System, das unsere Lebensmittel produziert, krank ist. Aber wenn wir ein anderes wollen, brauchen wir viele größere und kleinere Bausteine, die ineinandergreifen.
Dazu gehören auch Konsument:innen, die direkt bei Erzeuger:innen kaufen. Aber ohne die Bedeutung dieser Geste zu überladen.
Schlussredaktion: Susan Mücke