Herr Kaufhold, Sie sind Historiker und Experte für mittelalterliche Geschichte. Neulich haben sie gesagt, dass Sie der katholischen Kirche in Deutschland noch zwanzig Jahre geben. Warum?
Der katholischen Kirche, wie wir sie heute kennen, ja. Als ich neulich mein Arbeitszimmer aufgeräumt habe, habe ich Notizen aus einer Vorlesung von vor über zehn Jahren gefunden: „Wahrscheinlich werden wir alle, die wir hier sitzen, erleben, wie die katholische Kirche stark an Ansehen verlieren wird“, heißt es da. Es ging noch schneller, als ich dachte.
Wie kommt man denn als Mittelalterexperte zu einer Prognose über die katholische Kirche im 21. Jahrhundert?
Die katholische Kirche hängt noch heute an einem Priesterbild aus dem Mittelalter. Der wichtigste Punkt an diesem tausend Jahre alten Bild ist, dass Priester bessere Menschen sind und Gott näher stehen als Laien. Durch ihre Weihe können sie den Menschen die göttliche Gnade weitergeben, in Form von Taufe, Sterbesakramenten, Buße und Eucharistie. Und sie damit vor der Hölle bewahren. Die Menschen brauchen das, weil sie alle Sünder sind, das gehört auch zu diesem Bild.
Und das nimmt man der Kirche heute nicht mehr ab.
Genau, man kann nicht auf Dauer gegen die Geschichte leben. Die Menschen in einer Gemeinde wussten früher vielleicht, dass ihr Priester nicht so lebt, wie er leben soll. Vielleicht war er auch kein sympathischer Typ. Aber er war ein Mann Gottes, also hat man ihn respektiert. Damals hat die Kirche ein Bedürfnis gedeckt, das die Menschen hatten. Jetzt erleben wir einen historischen Wandel: Wer sorgt sich denn heute noch um sein Seelenheil? Die Leute schlafen heute schlecht, weil sie etwas gegessen haben, das dem Klima schadet, nur noch selten, weil sie gesündigt haben. Sie sehen Priester als ganz normale Menschen, die man mit den gleichen Maßstäben misst wie alle anderen. Da spielt es keine wichtige Rolle, ob Priester die Beichte abnehmen können. Das war früher anders, da waren die Schlangen vor den Beichtstühlen so lang wie jetzt vor den Impfzentren. Hinzu kommt natürlich die moralische Korruption durch die Missbrauchsskandale, das beschleunigt den Niedergang der katholischen Kirche. Man hat dort nicht verstanden, dass es hier um alles geht. Kinder zu schützen ist für die Menschen elementar, und wenn das so eklatant verraten und dann auch noch an den höchsten Stellen gedeckt wird, ist die ganze Institution infrage gestellt.
Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki steht seit Monaten massiv in der Kritik, weil er ein Gutachten über Missbrauchsfälle nicht herausgeben wollte. Auf die Kritik antwortete er, er habe sein Gewissen geprüft und sei persönlich der Überzeugung, sich korrekt verhalten zu haben.
Das ist typisch für dieses problematische Priesterbild. Selbst sein Gewissen prüfen ist ja in Ordnung, wenn das, was man tut, keine öffentliche Qualität hat. Aber in einem solchen Fall müssen das schon diejenigen beurteilen, die den Schaden haben. Dem Selbstverständnis der katholischen Kirche zufolge aber unterstehen Priester letztlich allein dem Gesetz Gottes, weil sie besonders herausgehoben sind. Ein Fehltritt eines Geweihten ist deswegen auch nicht so schlimm wie bei einem Laien.
Diese Vorstellung ist also aus dem Mittelalter.
Ja. Sie ist in einer Zeit entstanden, in der die Bevölkerung eine bestimmte Art von Kirche wollte, die jetzt nicht mehr gebraucht wird. Die Menschen hatten damals, im 11. Jahrhundert, große Sorge um ihr Seelenheil und sie glaubten, dass der Klerus sich vom Rest der Bevölkerung abheben und bestimmte Regeln einhalten musste, um gültige Sakramente spenden zu können. Die Menschen haben also zum Beispiel gefordert, dass Priester nicht mehr mit Frauen zusammenleben sollten.
Moment. Eines der umstrittensten Elemente des Katholizismus, der Zölibat, war ursprünglich gar keine Idee der Kirche?
Die Bevölkerung war der Grund dafür, dass sich diese Idee durchsetzen konnte. Da muss ich einmal ausholen. Von etwa 500 bis 1000 nach Christus, also im Frühmittelalter, ist die Kirche eine elitäre Veranstaltung, die an Königshöfen stattfindet. Das sind ein paar hundert Leute, die sich namentlich kennen. Schauen Sie sich einmal das Krönungsbild Heinrichs II. an, der bis 1024 römisch-deutscher Kaiser war: Da sehen sie einen König und Heilige, von normalen Menschen keine Spur. Es gibt noch keine wichtigen Städte in Europa, Rom ist ein mittelgroßer Ort. Ab Mitte des 11. Jahrhunderts kommt Europa in Bewegung. Die Bevölkerung wächst, der Handel nimmt zu, Wälder werden gerodet, Städte werden größer. Auf der Bühne tauchen auf einmal ganz normale Leute auf. Vorher war es ein Kammerspiel, jetzt ist es wie die Passion in Oberammergau, die ganze Bühne voller Leute, und die kennen sich teilweise gar nicht mehr. Auf einmal gibt es ein Volk, das Forderungen an die Kirche hat, weil es ein großes psychologisches Bedürfnis nach Klarheit gibt.
Was denn für Forderungen?
Die Priesterrolle wird ab circa 1050 sehr scharf in Abgrenzung von den Laien formuliert. Laien machen sich die Hände schmutzig, töten Menschen, haben Umgang mit Frauen. Priester sollen besser sein. Das bedeutet auch, dass es für sie besonders strenge Regeln geben muss, weil sie die Gnade Gottes vermitteln.
Wie kommt eine Bevölkerung auf einmal auf solche Ideen?
Papst Gregor VII. hat das sehr stark propagiert. Heute würde man Gregor VII. einen jungen Wilden nennen. Er wollte die Kirche reformieren und hat dafür unter anderem verlangt, dass der Klerus den Zölibat einhielt, auch Simonie wurde verboten, dass sich also einer ein geistiges Amt kauft. Adel und Klerus waren damals miteinander vermischt. Zuvor war es seit Jahrhunderten etablierte Praxis gewesen, dass zum Beispiel der Bruder des Königs für das Bischofsamt qualifiziert war. Der Papst hat den Klerus nun als Spezialistenklasse mit besonderen Ansprüchen definiert. Das war eine Entsakralisierung des Königstums. Ein Skandal. Viele Bischöfe haben sich gewehrt, das waren ja hocharistokratische Figuren. Also hat der Papst die mittlere Ebene einfach übersprungen und sich direkt an die Gläubigen gewandt. Er schrieb: Ihr müsst euch gegen euren Bischof stellen, denn er sagt euch nicht, dass die Sakramente nicht gültig sind, wenn der Bischof sich nicht von Rom bestätigen lässt und wenn eure Priester mit Frauen zusammenleben. Das heißt, sie können auch nichts für euer Seelenheil tun.
Wie bitte, der Papst hat Briefe an die Gläubigen geschrieben?
In Konstanz schon. Sonst wissen wir es nicht genau, es gibt nicht viele Chroniken aus dieser Zeit. In vielen Fällen haben wir nur die Briefe aus dem Archiv des Papstes. Also, eventuell hat er Priester geschickt, die den Inhalt dieser Briefe bekannt gemacht haben. Öffentlichkeitsarbeit war damals nicht ungefährlich. Man konnte nicht einfach im Bistum Sachen verlesen. Wer das im Konfliktfall tat, riskierte Gesundheit, Besitz und manchmal: sein Leben.
Eine öffentliche Auseinandersetzung im 11. Jahrhundert, wie kann ich mir das vorstellen?
Es gibt einen Bericht eines Geistlichen aus der Gegend von Lüttich aus dieser Zeit, Sigebert von Gembloux, ein distinguierter, gebildeter Herr. In seinem Bericht beschreibt er völlig entgeistert, wie der Pöbel in die Kirchen einbricht und den Priestern die Hostien aus der Hand reißt und zertrampelt, weil sie mit Frauen zusammenleben.
Also hat der Papst die Bevölkerung benutzt, um seinen Willen durchzusetzen.
So wird das gerne erzählt, aber das stimmt nicht ganz. Die Forderung nach dem Zölibat gibt es seit der Urkirche, aber sie konnte sich erst zu dieser Zeit durchsetzen. Es gab, wie gesagt, ein großes, psychologisches Bedürfnis nach Klarheit in der Bevölkerung, und danach, dass einer sagt, wo es langgeht. Wo auch immer dieses Bedürfnis herkam, es war da und es war eine historische Kraft. Der Papst hat das unterstützt und genutzt. Und so kam es allmählich zu einer Hierarchisierung der Kirche und zu dem Priesterbild, das es noch heute gibt.
Martin Kaufhold, Jahrgang 1963, ist Professor für mittelalterliche Geschichte in Augsburg. Er studierte an der Universität Heidelberg Geschichte und Germanistik. 1993 wurde er in Heidelberg promoviert, seine Habilitation folgte im Jahr 2000. Seit dem Wintersemester 2003/2004 hat er den Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte an der Philologisch-Historischen Fakultät der Universität Augsburg inne.
Und die katholische Kirche schafft es nicht, von diesem Bild abzulassen.
Sie verteidigt das mit Händen und Füßen. In Rom kann man diesen Anspruch noch ganz verdichtet erleben. Ich war da einmal in der päpstlichen Pönitentiarie, dorthin können sich Gläubige wenden, wenn sie besonders schwere Verfehlungen begangen haben. Aber es ist nicht so, dass alle Sünden vergeben werden. Da bekommen Gläubige auch schon mal die Antwort, dass man sich bei aller Erwägung leider nicht in der Lage sieht, ihrer Sünde Absolution zu erteilen. Und das in einer Institution, die Kindesmissbrauch in den eigenen Reihen deckt. Der Anspruch an die Gläubigen ist also höher als an den Klerus, weil der über der Welt steht.
Ich bin verwirrt. Es ist doch ein Widerspruch, dass Priester bessere Menschen sein sollen, der Fehltritt eines Geweihten aber weniger schlimm wiegt als bei einem Laien.
Natürlich sagt die Kirche einem Priester, dass die Ansprüche an ihn und seine Lebensweise besonders hoch sind. Aber man sagt ihm auch: Du wirst dich vor Gott verantworten müssen, nicht vor einem weltlichen Gericht. Mit dem gleichen Argument hat die Kirche im Mittelalter keine Steuern gezahlt. Um die Ordnung und die Hierarchie stabil zu haben, dürfen Sie die Gültigkeit eines Amtsinhabers nicht davon abhängig machen, wie er sich verhält.
Ich habe immer noch ein Problem damit, mir vorzustellen, dass sich das Priesterbild der katholischen Kirche seit tausend Jahren nicht geändert hat.
Natürlich haben sich Dinge geändert. Aber die Architektur, das Skelett dieser Priesterfigur, ist noch das mittelalterliche. Es gibt viele Priester, die sich überhaupt nicht für etwas Besseres halten. Aber in der Hierarchie der Kirche sitzen die oben, die ähnlichen Vorstellungen anhängen wie vor tausend Jahren. Sie regieren immer noch mit einer Kirchenordnung, die nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist. Wenn Sie sich jetzt Argumentationen eines bischöflichen Kirchengerichts anhören, fragen Sie sich, ja, wo lebt ihr denn? Was sagt man dort Leuten, die Mitte dreißig oder vierzig sind, wenn ihre Ehe scheitert? Da wird es feierlich und es heißt: „Das ist eine Herausforderung. Ab jetzt müsst ihr enthaltsam leben.“ So etwas können Sie nur sagen, wenn Sie von der Realität sehr weit weg sind. Das hat im Mittelalter kaum jemand gesagt, da war die Kirche noch viel näher dran an den Menschen und dem, was sie tatsächlich schaffen können.
Ist das Problem der Kirche nicht eher, dass immer weniger Leute gläubig sind? Eine Umfrage des Spiegel von 2019 hat ergeben, dass nur noch 55 Prozent der Deutschen an einen Gott glauben.
Ich glaube das nicht. Ich habe den Eindruck, dass die Leute heute in vielen Bereichen von einer spirituellen Unruhe erfasst sind. Es gibt ein Interesse an nicht-materiellen Dingen und Werten, an Yoga und Zen zum Beispiel, aber das kirchliche Gottesbild gibt nicht die Antwort auf die Fragen, die die Menschen haben.
Der Kern der katholischen Kirche ist einfach ziemlich mittelalterlich. Es gibt eine offene Geringschätzung von Frauen, abgesehen von der Marienverehrung, aber Maria ist ja gewissermaßen eine geschlechtslose Frau. Der Zölibat wiederum sagt im Kern, dass Sexualität ein Problem ist. Und dass sie eigentlich nur zum Zweck des Kinderkriegens in der Ehe erlaubt ist. Das ist heute kaum vermittelbar.
Die evangelische Kirche ist in vieler Hinsicht progressiver als die katholische, aber das scheint ihr nichts zu nützen. Sie verliert genauso viele Mitglieder.
Das ist richtig. Ich denke, es gibt heute zwar ein sehr großes Bedürfnis, sich um große Fragen Gedanken zu machen, aber das drängt die Menschen nicht in eine institutionell verfasste Religion. Die Leute wenden sich ab oder nehmen so viel an, wie sie wollen, den Rest aber nicht. Das ist aber nicht nur ein Problem der Kirche. Bei allen Institutionen ist die Bindungskraft heute nicht mehr stark. Ich denke aber, dass die katholische Kirche spezifische Probleme hat, die zu ihrem Niedergang beitragen und die Reformen sehr schwer machen werden.
Aber das Priesterbild der katholischen Kirche gibt es ja nicht erst seit gestern. Warum wiegt es ausgerechnet jetzt so schwer?
Warum führen wir ausgerechnet jetzt dieses Gespräch? Vor ein paar Jahren hätte sich noch kein Mensch dafür interessiert, was ein Mittelalterhistoriker dazu zu sagen hat. Ich würde historisch argumentieren, dass wir an einem Punkt sind, an dem die Kirche sich entscheiden muss. Das alte System und die Begründung dafür tragen nicht mehr. Vor vierzig oder fünfzig Jahren wäre das anders gewesen. Meinem Vater hätte man nicht erklären müssen, wozu man Priester braucht. Ihm war auch klar, dass ein Priester jemand ist, den man nicht hart angeht, selbst wenn er einem auf die Nerven geht. Er nimmt einem die Beichte ab, das erfordert Respekt. Aber wer weiß heute noch, was Eucharistie ist? Die gewandelte Hostie? Man muss das alles erklären, weil es vielen Leuten heute fremd ist. Und dazu gibt es noch eine moralisch extrem empörende Missbrauchsgeschichte, die ein Ausdruck dafür ist, wie sehr die Kirche aus der Zeit gefallen ist. So sieht ein historischer Wandel aus, wenn man ihn live erlebt.
Es gibt auch Stimmen, die meinen, dass wir jetzt an einem ähnlichen Punkt sind wie vor der Reformation, dass es eine Spaltung geben könnte.
Das passiert wahrscheinlich nicht. Zumindest nicht in dieser Form. Und zwar deswegen nicht, weil die Kirche die Menschen einfach nicht genug interessiert. Im 16. Jahrhundert gab es eine Kraft, die zur Kirchenspaltung gedrängt hat. Die gibt es heute nicht, der Zustand der Kirche ist kein Thema, das viele quält. Die Menschen quält der Klimawandel.
Sie sind selbst katholisch. Werden Sie aus der Kirche austreten?
Nein. Das wäre ein kurzer Moment, in dem man die Tür zuschlägt und danach ist es nicht besser.
Das heißt, Sie haben noch Hoffnung, dass sich die katholische Kirche ändern wird.
Ja, aber das wird kein friedlicher Wandel. Die Vertreter eines konservativen Kirchenbildes handeln nach ihrem Verständnis in göttlichem Auftrag. Darüber kann man nicht verhandeln. Ein richtiger Wandel erfordert Konflikte. Ob Neues daraus entsteht, hängt davon ab, ob Personen auftauchen, die sagen, es muss und kann im Rahmen der Kirche anders gehen.
Ist Papst Franziskus für Sie so eine Person?
Der Papst ist immer noch ein Papst. Er ist zu sehr ein Mann des Apparats und in Strukturen eingebunden. Die Leute, die in der Religion etwas vorangebracht haben, sind immer von außen gekommen. Jemand wie Franziskus von Assisi. Jesus kam auch nicht aus der Gruppe der Hohenpriester. Es wäre Zeit für eine Figur mit religiösem Charisma. Ich denke, heute müsste es eine Frau sein.
Eine Art katholische Greta Thunberg?
Ich denke jedenfalls, eine Frau.
Redaktion: Philipp Daum, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele