Es gibt drei Kategorien von Menschen: Sportliche Menschen, Menschen mit Hund und solche, die nur verschwommene Fotos von sich machen. Zumindest, wenn man nach Tinder-Profilen geht. Die Dating-App, auf der einem zufällig Fotos von Menschen aus der Umgebung angezeigt werden. Mit einem Swipe (auf deutsch: Wisch) nach links vergibt man ein „Nope“ mit einem Swipe nach rechts ein „Like“. Geben sich beide Personen ein Like, hat man ein „Match“ und kann Nachrichten austauschen.
Im November 2020 nutzten rund 1,3 Millionen Deutsche Tinder – ein Jahr zuvor waren es noch 757.000. In Zeiten von Kontaktbeschränkungen läuft es kurioserweise besonders gut für Dating-Apps. Über eine Million Menschen suchen auf Tinder nach Liebe, One-Night-Stands oder neuen Bekanntschaften.
Dabei will Tinder nicht, dass du dich verliebst und jahrelang mit deiner Freundin zusammenbleibst. Tinder will auch nicht, dass du sehr schnell und unkompliziert One-Night-Stands findest. Tinder will, dass du tinderst. Und zwar so viel wie möglich. Ganz freiwillig versackt dort niemand: Wir reagieren nur auf bestimmte Reize, meistens unbewusst und ohne es unterdrücken zu können. Apps wie Tinder machen sich das zunutze. Wer versteht, wie die Manipulation funktioniert, kann bessere Strategien entwickeln, um weniger Zeit am Handy zu verbringen.
Drei biologische Schwachstellen machen uns anfällig
Drei Mechanismen bewirken, dass wir fast schon reflexhaft Tinder öffnen und uns mindestens 20 Minuten nicht losreißen können: Der „Novelty Effect“, „Mating“-Verhalten und unsere Sucht nach Belohnung.
Dadurch, dass im Sekundentakt unbekannte Fotos auftauchen, sind wir in kurzer Zeit vielen neuen Reizen ausgesetzt. Für unser Gehirn ist das interessant und wir reagieren positiv. Das nennt man den „Novelty Effect“. Auf Instagram oder Snapchat ist der Effekt ähnlich: Mit jeder Story erscheint ein neues Foto oder Video, jedes Mal unbekannt, oft bunt und im Bruchteil einer Sekunde ist es wieder weg.
Dazu kommt unsere ständige Suche nach dem idealen Fortpflanzungspartner. Auf Englisch klingt das ein bisschen hübscher, man nennt es „Mating“. Auch wenn Heiraten und Kinderkriegen in unserer Gesellschaft nicht mehr die obersten Ziele sind, gehören Paarungsstrategien trotzdem zu einem menschlichen Urtrieb. Man nennt das einen natürlichen Verstärker, also etwas, das wir unbedingt haben wollen. Essen beispielsweise ist auch ein natürlicher Verstärker. Das Wort Verstärker klingt ein bisschen irreführend. Gemeint ist damit ein angenehmer Reiz, den wir erreichen wollen und uns deshalb auf eine bestimmte Art und Weise verhalten. Der Reiz ist also ein Verstärker dieses Verhaltens.
Und schließlich geht es noch um Schönheit. Unser Gehirn bewertet automatisch das Aussehen eines anderen Menschen. Wenn uns jemand gefällt, dann wird in unserem Gehirn der Kreislauf der ästhetischen Belohnung aktiviert. Der Mechanismus ist der gleiche, wenn wir beispielsweise in eine Ausstellung gehen oder eine schöne Landschaft betrachten.
Wir wollen den Dopamin-Kick
Dabei spielt – wahrscheinlich – Dopamin eine wichtige Rolle. Dopamin ist ein Neurotransmitter, also ein Botenstoff, mit dessen Hilfe Nervenzellen untereinander kommunizieren können. Dopamin wird oft als „Glückshormon“ bezeichnet, obwohl das nicht ganz zutrifft. Tatsächlich sorgt Dopamin dafür, dass wir Antrieb und Motivation haben. Es ist also verantwortlich für unser Belohnungssystem, auch das „Seeking-System“ genannt. Wer gerade einen Dopamin-Schub hat, der hat einen Motivationsschub, fühlt richtigen Drive, will unbedingt etwas haben.
Allerdings ist das nur eine Hypothese, zwar eine, die als sehr wahrscheinlich gilt, aber bewiesen ist es nicht. Dopamin direkt im menschlichen Gehirn nachzuweisen, ist quasi unmöglich. Zwar kann man die Konzentration von Neurotransmittern im Gehirn mit Sonden messen, in Tierversuchen haben die Tiere das aber meist nicht überlebt. Was Wissenschaftler:innen untersuchen können, sind die Areale des Gehirns, die besonders stark aktiviert werden, wenn wir uns auf etwas freuen oder einem bestimmten Reiz ausgesetzt sind. Ein Like beispielsweise führt zu einer starken Aktivität im Belohnungssystem – dort, wo auch Dopamin ausgeschüttet wird. Wenn wir Süßigkeiten essen oder eine Zigarette rauchen, wird das gleiche Areal aktiviert.
Wer Menschen verstehen will, muss Mäuse beobachten. Fand zumindest Burrhus Frederic Skinner, Psychologe und bekanntester Vertreter des Behaviorismus. Er erfand die sogenannte Skinner-Box. Das ist ein Käfig, in dem man das Verhalten von Tieren untersuchen und möglicherweise auf menschliches Verhalten schließen kann. Drückt die Maus auf einen Hebel, bekommt sie etwas zu fressen. Bekommt sie nicht jedes Mal etwas, drückt sie den Hebel viel öfter. Tinder funktioniert genauso. Wir wissen schließlich nicht, wer als Nächstes kommt: Wieder ein 18-Jähriger, der seinen Bizeps fotografiert hat? Jemand, dessen Alter offensichtlich gelogen ist? Oder vielleicht doch das nächste Traum-Date?
Es ist wie beim Glücksspiel. Jemand, der 10.000 Euro gewonnen hat, spielt immer weiter, denn es geht irgendwann nicht mehr um das Geld, sondern um das Glücksspiel an sich. Genauso bei Tinder: Es geht nicht darum, jemanden kennenzulernen, es geht um das Tindern, also das Spielen an sich. Tristan Harris, ehemaliger Google-Mitarbeiter und Designethiker, verglich sein Handy in einem TED-Talk mit einem Spielautomaten. Es ist wichtig, sich diesen Vergleich in Erinnerung zu rufen. Denn so passiert es, dass zwei Freundinnen den ganzen Nachmittag auf dem Sofa liegen und tindern. Oder dass sich eine Frau, die in einer glücklichen Beziehung ist, das Handy eines Freundes schnappt, um von dessen Account aus weiter zu tindern. Es ist ein Spiel. Ein Spiel, das süchtig macht.
Wie attraktiv findet dich der Tinder-Konzern?
Tinder weiß das und nutzt, wie alle anderen Tech-Konzerne auch, unsere Schwachstellen aus. Das klingt erst mal fies, ist aber bei einem kommerziellen Konzern erwartbar. Richtig durchtrieben ist die Strategie, mit der Tinder die Nutzenden in der App hält. Denn welcher Account einem nach jedem Swipen angezeigt wird, ist kein Zufall.
Stattdessen hat Tinder seine Nutzer:innen jahrelang, platt gesagt, unterteilt in „Hot or Not“. Grundlage dieser Zuteilung war der Elo-Score, den nur die Tinder-Firma sehen konnte. Ursprünglich war der Elo-Score eine Wertungszahl, um gleich starke Schachspieler gegeneinander antreten zu lassen. Auf Tinder berechnete sich der Elo-Score nach der Zahl der Likes, also der erhaltenen Swipes nach rechts. Je mehr Likes, desto höher der Score. Wer tinderte, sah also nur Leute, die, berechnet nach dem Elo-Score, in der eigenen Liga spielten.
Das führte zu einer Welle der Entrüstung. Und zu jeder Menge Ratschlägen von selbst ernannten „Flirt-Coaches“, die Tipps gaben, um den eigenen Elo-Score zu pushen. Seit 2019 spielt der Elo-Score keine Rolle mehr – sagt Tinder zumindest. Wie genau der Algorithmus funktioniert, nach dem uns Profile angezeigt werden, verrät Tinder aber immer noch nicht.
Inzwischen passt Tinder unsere Präferenzen mit jedem Swipe nach links oder rechts an. Klingt erst mal sinnvoll – schließlich ist es erklärtes Ziel der App, dass sich Menschen treffen, die sich mögen könnten. Aber wer so einfach denkt, vergisst, was Tinder eigentlich will. Die Nutzenden sollen möglichst viel Zeit in der App verbringen und sich irgendwann für eines der kostenpflichtigen Abonnements entscheiden, zum Beispiel Tinder Gold für 8,99 Euro im Monat. Mit diesem Abo schlägt Tinder beispielsweise jeden Tag „Top-Picks“ vor, also Profile von besonders attraktiven Menschen, die besonders gut zu einem passen sollen.
Zeigt dir Tinder absichtlich unattraktive Menschen?
Alex Wordie hatte das Gefühl, dass Tinder ihm absichtlich Profile vorschlägt, die ihm nicht gefallen. Er ist Service-Designer, gestaltet also Apps und Internetseiten möglichst intuitiv und nutzerfreundlich. Im Schnitt wischte er neun Fotos nach links, bis ihm eines gefällt. Er fragte sich: In Zeiten, in denen Spotify ganze Playlists erstellt, die dem eigenen Musikgeschmack entsprechen und Youtube ein interessantes Video nach dem anderen vorschlägt, in diesen Zeiten zeigt ihm Tinder größtenteils unpassende Profile. Was steckt dahinter?
Seine These: Tinder weiß genau, was ihm gefällt und was nicht, will ihn aber möglichst lange in der App halten. Um das zu überprüfen, trainierte er eine KI mit den Daten seiner Matches und seiner „Left Swipes“. Anschließend wischte er sich durch die Ergebnisse, die die KI auf Basis seiner Präferenzen für ihn generiert hatte. Im Ergebnis wählte er knapp zwei Drittel der Vorschläge, gab ihnen also ein Like. Die Schlussfolgerung: Es wäre möglich, selbst mit einem sehr kleinen Datensatz die „Match-Quote“ zu erhöhen. Ein Hinweis, das Tinder uns absichtlich Profile zeigt, die uns nicht gefallen werden.
Klar, der Versuch ist nicht repräsentativ und das Ergebnis wenig überraschend. Es zeigt aber noch einmal, dass sich Tech-Konzerne ganz genau überlegen, was wir sehen und was nicht. Und ihre Intention ist nicht, dass unsere Wünsche, hier ein Date, möglichst schnell in Erfüllung gehen. Ihre Intention ist, dass wir möglichst lange in der App hängen bleiben.
Tinder hat andere Ziele als du
Alle Apps geben uns Beweggründe, um sie zu besuchen. Doch diese Beweggründe – das Tutorial zum Zusammenbauen des Ikea-Regals, die Nachricht einer Freundin oder eben ein Date – sind nur ein Vorwand, nicht das Ziel. Tristan Harris, der ehemalige Google-Mitarbeiter, hat das in einem Essay bei uns mit einem Supermarkt verglichen. Die meisten Menschen in den USA gehen in den Supermarkt, um Milch oder Medikamente zu kaufen. Aber Supermärkte wollen, dass die Kund:innen noch mehr kaufen, deshalb stehen Milch und Medikamente in der hintersten Ecke. „In anderen Worten sorgen sie dafür, dass du deine Beweggründe, in den Laden zu kommen (Milch, Medikamente) nicht mehr von ihren geschäftlichen Beweggründen unterscheiden kannst.“ Webseiten und Apps funktionieren genauso.
Bei Apps wie Tiktok oder Instagram ist einem wahrscheinlich bewusst, dass das reine Zeitfresser sind. Schließlich haben lustige Videos und schöne Fotos meistens wenig Nutzwert. Aber selbst wenn es ein scheinbares Ziel gibt, ist es nicht gewollt, dass die Nutzenden es erreichen.
Tech-Konzerne bedienen unsere Ur-Instinkte. Das können wir nicht einfach abstellen. Genauso wenig können wir verhindern, dass unser Insulinspiegel ansteigt, wenn wir eine Tafel Schokolade essen oder den Suchtfaktor einer Zigarette reduzieren. Meine Kollegin Theresa Bäuerlein plädiert in einem Artikel deshalb für eine „Strategie des Widerstands“. Dazu gehört, Tools und Apps einer Kosten-Nutzen-Rechnung zu unterziehen. Wenn dir das Chatten und Swipen wirklich Spaß macht und du nicht mehr Zeit in der App verbringst, als du eigentlich willst – kein Problem.
Aber wenn du wirklich jemanden kennenlernen willst und erst nach Stunden aus einem Sumpf an zweifelhaften Selfies und verstörenden Konversationen auftauchst, dann solltest du dich fragen, ob Tinder der richtige Ort ist. Ja, auch auf Tinder kann man sich verlieben oder Freund:innen finden. Die Frage ist, ob dieser potentielle Gewinn im Verhältnis zur investierten Lebenszeit hoch genug ist. Und ob es nicht bessere Möglichkeiten gibt, um neue Leute kennen zu lernen.
Redaktion: Philipp Daum, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert