Mit zittriger, nervöser Stimme steht meine Mutter an einem Sonntag im Frühjahr 2018 auf dem Podium unserer Kirchengemeinde. Sie erzählt von einer Vision, einem „prophetischen Wort“, das Gott ihr mitgeteilt habe: Eine Schlachtszene habe sie vor ihrem inneren Auge gesehen. Gut gegen Böse, Teufel gegen Gott. „Ihr seid in einem geistlichen Kampf“, sagt sie, an uns Jugendliche gewandt. Und wir, der Gemeinde-Nachwuchs, seien Gottes Krieger.
Ich und die anderen Jugendlichen sitzen im Gottesdienst meist gemeinsam in einer Ecke, auch an diesem Sonntag. Als der Pastor uns nach der Rede meiner Mutter bittet, nach vorne zu kommen, stehen alle meine Freunde auf und gehen zum Kreuz auf der Bühne. Auch meine Mutter steht noch immer vorne. Nur ich, ihre Tochter, bleibe als einzige sitzen. Daran erinnere ich mich heute noch sehr lebendig. Es war der letzte Gottesdienst, den ich jemals besuchte.
Ich bin in einer evangelikalen Freikirche im Süden Deutschlands aufgewachsen. Die Grundlage des Glaubens meiner Gemeinde ist: Gott und alles, was in der Bibel steht, ist wahr. Unser Ziel ist, Gottes Auftrag zu erfüllen und so viele Menschen wie möglich an unserer „Wahrheit“ teilhaben zu lassen – heißt: sie zu bekehren. Das irdische Leben ist nur ein kleiner Moment in der Ewigkeit. Es ist nicht wichtig, dass es gut ist. Denn danach stehen uns die Türen zum Paradies offen.
Freikirchen sind unter anderem Anlaufstellen für Personen, denen der evangelische und katholische Glaube nicht spannend genug ist. Freikirchliche Gottesdienste sind nicht so verklemmt und eingestaubt wie die Gottesdienste in den Landeskirchen, wo man zum Beispiel zum Gebet knien muss. Man darf tanzen, sich frei bewegen und so seine Liebe zu Gott ausdrücken. Die Musik ist modern und poppig, mit Schlagzeug und Gitarre und englischen Texten. Es gibt auch keine hierarchischen Strukturen wie in den Landeskirchen. Die Mitglieder können das Gemeindeleben mehr mitgestalten. Über einen Kamm scheren lassen sich Freikirchen nicht: Jede freikirchliche Gemeinde und auch jede Familie lebt ihren Glauben ein wenig anders.
Was die meisten Freikirchen aber eint, ist die Bedeutsamkeit des Heiligen Geistes. Durch ihn, heißt es, haben wir Gott in uns. Und durch uns spricht Gott. In vielen Gemeinden nehmen sogenannte Geistesgaben damit eine wichtige Stellung ein, wie Geistheilung oder Prophetie.
Die Gemeinde, in der ich aufgewachsen bin, ist recht groß – und sehr jung. Es gibt viel Nachwuchs, junge Menschen schließen sich regelmäßig der Gemeinde an und Mitglieder, die wegziehen, gründen in anderen Städten neue Gemeinden.
In den Predigten geht es oft darum, wie man sich richtig verhält
Als Kind besuchte ich jeden Sonntag die Kirche. Es gab einen Kindergottesdienst pro Jahrgang, aufgeteilt in Mädchen und Jungen, mit Predigten und Andachten. Denke ich heute daran zurück, ging es darum oft um das „richtige“ Handeln und Denken. Die Devise lautete: In unserem Handeln repräsentieren wir Gott. Und auf bestimmte Gedanken folgen bestimmte Handlungen.
Um das zu belegen, zitierte der Pastor immer wieder eine Stelle aus der Bibel, in der steht: Guckt man als verheirateter Mann eine Frau nur an, ist das Ehebruch. Und weiter: „Wenn aber dein rechtes Auge dir Anstoß gibt, so reiß es aus und wirf es von dir.“ Denn es sei besser, sein eigenes Auge auszureißen, als in der Hölle zu landen, so die These. Auch Neid, Selbstbefriedigung und homosexuelle Handlungen gelten als Sünde.
Zu dem Zeitpunkt, an dem das alles großen Einfluss auf mich nimmt, bin ich zwölf oder dreizehn Jahre alt. Meine Mutter hat meinen kleinsten Bruder zur Welt gebracht und ist mit allem sehr überfordert. Für mich verändert sich damit viel: Ich spiele fortan die Ersatzmutter für meine Geschwister und entwickle ein großes Verantwortungsgefühl für meine Familie, aber auch vor Gott.
Ich will ein besserer Mensch werden: immer alles perfekt machen. Nie Schimpfwörter sagen. Immer freundlich sein. Als ich 14 Jahre alt bin, werde ich konfirmiert. Danach beginne ich, Kleingruppen zu leiten: den Kindergottesdienst, oder ein Bandprojekt. Um das zu dürfen, muss man ein „besonders reines Herz“ haben. Ständig frage ich mich: Habe ich oft genug gebetet? Habe ich einen guten Einfluss auf die Kinder? Hat Gott mir alle meine Sünden vergeben?
Ich lege mir sogar einen Kalender für meine Sünden an. Das gibt mir niemand vor, das denke ich mir selbst aus. Jeden Tag schreibe ich darin auf, was ich falsch gemacht habe. Mehr Schokolade gegessen, als es meine Eltern erlaubt hätten, zum Beispiel. Oder nicht genug gebetet.
An einen Moment, in dem man mir vorgeworfen hätte: „Du bist ein schlechter Mensch. Du kannst keine Christin sein“, erinnere ich mich nicht. Der Pastor sagte immer, unser Handeln solle aus Freiwilligkeit und Liebe zu Gott geschehen. In mir baute sich zwar ein unglaublicher Druck auf, die Auslöser waren aber eher subtil: Blicke, Konkurrenzkampf oder das schlechte Gewissen, wenn ich etwas tat, das ich nicht „durfte“.
Ich will nicht Gottes Marionette sein
Bis zur Oberstufe bin ich in die Gemeinde sehr integriert. Eine „Vorzeige-Christin“. Dann müssen wir uns in der Schule für Leistungskurse entscheiden. Ich entscheide mich für Religion, in der Annahme, dass ich dann zwischen evangelischem und katholischem Unterricht wählen könnte. Denn der evangelische Glaube ist näher an dem meiner Gemeinde. Doch der Kurs richtet sich nach der Konfession der Lehrerin – und die ist Katholikin.
In einer Unterrichtsstunde legt meine Lehrerin einen Apfel auf den Tisch und fragt uns Schüler:innen: Ihr nehmt diesen Apfel zwar wahr, aber ist er deshalb wirklich da?
Für mich ist das damals eine Grundsatzfrage. Ich sage: Ja, dieser Apfel liegt da, und das ist die Wahrheit. Punkt. Basta. Sie ist aber der Meinung: Der Apfel könnte auch nur ein Pappschild sein. Wer sagt, was wirklich wahr ist? Wir kommen nie auf ein richtiges Ergebnis. Aber das regt mich zum Denken an.
Dieses kritische Hinterfragen – das wird in der Gemeinde nicht gelehrt. Gibt es eine Fragestellung, sucht man nur nach Argumenten, die für die Antworten der Bibel sprechen. Aber im Religionsunterricht waren die Antworten manchmal anders. Weltoffener, als ich es kannte. Und mir fällt zum ersten Mal auf, dass man bei Fragestellungen Pro und Contra abwägen kann – ohne, dass die Antwort schon vorgegeben ist. In der Predigt frage ich mich deshalb immer öfter: Wie kommt der Pastor auf seine These? Und stimmt die überhaupt?
Als meine Mutter dann im Gottesdienst – meinem letzten Gottesdienst – von einem Krieg in Gottes Namen spricht, stellen sich mir alle Haare auf. Ich finde das Wort total unpassend und denke mir: Warum sind wir Menschen denn nur Marionetten, die Gottes Wünsche ausführen?
Als ich zum Studium auszog, war das ein kompletter Kulturschock
Ein halbes Jahr später ziehe ich von zu Hause aus, nach Freiburg, zum Studium. Das ist ein Wendepunkt: Bis dahin habe ich zwar an vielem in der Gemeinde gezweifelt, aber glaube noch an Gott und denke, ich komme vielleicht zurück. Erst in der neuen Stadt überlege ich, wie ich mir ein Leben außerhalb der Freikirche aufbauen kann – und welche Alternativen es gibt. Mir wird mehr und mehr bewusst: Nein, ich bin keine Kriegerin für eine höhere Macht. Ich lebe mein eigenes Leben und möchte das genießen.
In Freiburg bin ich dann völlig überfordert von der fremden Welt. Es sind nur 90 Kilometer Luftlinie nach Hause, aber ich habe einen kompletten Kulturschock. Ich treffe mich viel mit Chemie- und Biologiestudierenden. Alles extreme Freidenker, das komplette Gegenteil von den Leuten in der Gemeinde. Ich versuche, da reinzupassen. Aber ich kenne keine Musik, keine Filme. Wir haben keine Interessen, die sich überschneiden. Als eine Uni-Freundin sich in einen Typen aus dem Studium verliebt, gibt sie ihm den Spitznamen Gandalf – weil er so einen langen Bart hat, wie der Charakter aus „Herr der Ringe“. Und während alle anderen darüber lachen, sitze ich nur da und frage mich: Was ist ein „Gandalf“? In solchen Situationen fühle ich mich einfach anders, und das zieht mich wirklich runter.
Es fällt mir außerdem schwer, mich auf andere Menschen einzulassen. In meiner Jugend habe ich Freundschaften außerhalb der Gemeinde immer mit einem Zweck aufgebaut: um den Personen die „Wahrheit“ über Gott zu sagen – und sie zum Glauben zu führen. Ich hatte nicht die Idee, dass eine Freundschaft auch auf Augenhöhe sein kann, sondern dachte immer, ich muss etwas geben. Und weil ich keinen Glauben mehr hatte, konnte ich nichts geben. Dass andere mir helfen, das habe ich nie richtig zugelassen.
Meine Zweifel hat erst das Klinikpersonal ernst genommen
In dieser Phase vertraue ich meine Zweifel zum ersten Mal jemandem an: einer Verwandten. Wir gehen zusammen Eis essen. Sie ist fast wie eine große Schwester für mich, auf jeden Fall eine Bezugsperson. Dann zitiert sie einen Spruch aus der Bibel: Es sei besser für einen gläubigen Menschen, mit einem Mühlstein um den Hals gebunden ins Meer geworfen zu werden, als vom Glauben abzukommen.
Das finde ich einfach unmöglich. Gleichzeitig bin ich aber noch immer in meinen alten Denkmustern gefangen und denke: Sie meint das nur gut.
Der Umzug in die neue Stadt, der Leistungsdruck in der Uni, das wirft mich völlig aus der Bahn. Ich trauere um das Leben, das ich hinter mir gelassen habe und fürchte mich davor, meinen gewohnten Rückhalt in der Gemeinde zu verlieren. Ich habe Angst, völlig auf mich allein gestellt zu sein, das alles nicht hinzukriegen. Und im Schlaf überkommt mich regelmäßig eine andere Angst: Ich träume von Gott, der mich in die Hölle schickt.
Dieser emotionale Stress staut sich an, so lange, bis ich mich mehrere Tage in meiner Wohnung verschanze. Ich hungere lieber, als einkaufen zu gehen. Beim Gedanken an Menschenmassen bekomme ich Panik. Ich kann mich kaum aus dem Bett aufraffen. Auf Nachrichten meiner Uni-Freund:innen antwortet ich nicht mehr. Ich bin innerlich kaputt.
Schließlich telefoniere ich mit einer Freundin aus meiner Heimatstadt. Ich kenne sie aus einem Jugendcamp der Gemeinde. Sie sagt zu mir: „Hannah, du packst jetzt deine Zahnbürste und Unterwäsche ein. Ich schicke dir eine Adresse, und da gehst du hin. Schaffst du das?“ Und ich schaffe es. Ich gehe zur Notaufnahme der psychiatrischen Klinik und weise mich ein, noch am selben Tag. Neun Monate verbringe ich von da an, mit kleinen Unterbrechungen, in der Klinik. Die Diagnose lautet: schwere Depression.
Als meine Eltern mich dort besuchen kommen, erzähle ich ihnen zum ersten Mal davon, dass ich nicht mehr an Gott glaube. Richtig wahrhaben wollen sie das nicht. Sie sagen sowas wie: Ach, du weißt doch selber, dass das nicht stimmt. Meine Mama meint später zu mir, meine kleine Schwester habe Rotz und Wasser geheult, als sie davon erfuhr. Sie hat wirklich geglaubt, ich komme jetzt in die Hölle. Das war für mich eigentlich das Schlimmste.
Danach breche ich den Kontakt zu meinen Eltern erst einmal ab. In der Klinik tut es mir sehr gut, die Rückmeldung von Fachkräften und anderen Patient:innen zu bekommen. Das Verhalten meiner Verwandten kann ich oft gar nicht einordnen. Ich brauche ewig, um einfach mal ein bisschen sauer zu sein.
Richtig aus der Freikirche „aussteigen“ muss ich zum Glück nicht. Dort ist man lange kein eingetragenes Mitglied. Deshalb muss ich mich auch nirgends austragen. Da bin ich sehr froh drum. Heute würde ich meinen Abschied ein bisschen besser kommunizieren. Aber um ehrlich zu sein: In dem Moment war ich so psychisch labil, dass ich einfach froh bin, dass es auch so geklappt hat.
Ich nähere mich meinen Eltern an, aber eine Distanz bleibt – nur so kann ich mein Leben leben
Ich bin jetzt 22 Jahre alt. Beinahe zweieinhalb Jahre hatte ich kaum Kontakt zu meinen Eltern, seit etwas mehr als einem Jahr nähern wir uns langsam wieder an. Die Emotionen sind mit der Zeit runtergekocht. Wenn wir uns treffen, wissen wir eben, dass wir anderer Meinungen sind. Wir versuchen, die Zeit, die wir miteinander haben, zu genießen. Und das möchte ich auch: mehr Zeit mit ihnen verbringen.
Eine Distanz ist da aber noch immer. Weil ich der Konfrontation entgehen möchte, aber auch, weil ich ihnen viele Dinge nicht erzählen kann. Dass ich schon einmal gekifft habe zum Beispiel oder auf Partys geknutscht. Ich nutze eine Zeitlang den Netflix-Account meines Vaters mit. Einmal besucht mich mein Bruder in Freiburg, und wir wollen zusammen einen Film schauen – schaffen es aber nicht, uns einzuloggen. Mein Bruder ruft daraufhin meinen Vater an und fragt, ob er das Passwort geändert habe. Mein Vater meint: „Ja. Da hat jemand einen Film gesehen, in dem Zauberei vorkommt.“ Das war ich. In solchen Momenten merke ich: Ich muss mich von meiner Familie distanzieren, sonst kann ich mein Leben nicht leben. So ein Theater – wegen eines Films!
Ab und an vermisse ich das Vertraute in der Gemeinde. Einen Ort zu haben, an dem ich weiß, wie die Leute ticken. An dem ich bei allem mitreden, mich zurücklehnen und entspannen kann. Auch die Gemeinschaft fehlt mir manchmal. Dass ich an einen Ort gehen kann, an dem immer etwas los ist, wo es fast jeden Tag Programm gibt, von Jugendtreffen über Bandprojekte bis zu Pfadfindergruppen. Solche Orte gibt es bestimmt auch in der „normalen Welt“, die kenne ich aber nicht. Und es ist natürlich auch gemütlich, dass in meiner alten Gemeinde Meinungen schon vorgegeben waren. Es macht das Leben weniger kompliziert. Und manchmal, ganz manchmal, wenn ich mit einer schwierigen Fragestellung konfrontiert bin, wünsche ich mir jemanden, der mir den Weg leitet.
Im Endeffekt hat der Glaube für mich aber einfach nicht gepasst, das Erzwungene daran.
Den Gedanken an die Hölle habe ich lange Zeit einfach verdrängt. Mittlerweile denke ich darüber nicht mehr nach. In der Klinik habe ich diese Angst bearbeitet und musste irgendwann sagen: Es ist weder das eine noch das andere beweisbar. Meine Grundlage lege ich nun nicht mehr darauf, was „wahr“ ist. Ich möchte keinen Zweck mehr erfüllen, sondern mein Leben so leben, dass es die Menschen um mich herum, aber vor allem auch mich, glücklich macht.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele
*Der Name der Protagonistin wurde geändert, ist der Autorin aber bekannt.