Mein Leben lang habe ich für meine Ernährung Regeln aufgestellt. In der Grundschule wollte ich irgendwann nur noch Äpfel essen. Als Teenager habe ich zusammen mit meiner Mutter Diät gehalten. Seitdem ich 16 bin, ernähre ich mich vegetarisch. Lange Zeit habe ich einmal im Jahr eine Woche lang eine Saftfastenkur gemacht, um zu „entschlacken“ (ohne dass ich so richtig weiß, was genau das eigentlich bedeuten soll). In meinen 20ern habe ich sehr oft auf Kohlenhydrate verzichtet. Mit Ende zwanzig war ich drei Jahre lang Veganerin.
Ich weiß: Ich vermische hier spezielle Diätformen und eine ethisch-moralisch begründete Lebensweise. Das mache ich absichtlich, denn für mich persönlich war beides Teil eines Problems. Irgendwann hatte ich mich beim Essen so sehr eingeschränkt, dass jeder Einkauf eine Höchstanstrengung war. Denn ich wollte mich zum einen gesund ernähren und schlank bleiben, zum anderen moralisch möglichst nichts falsch machen. Also habe ich mir eine Biokiste aus Brandenburg mit frischem, zur Jahreszeit passenden Gemüse aus der Region bestellt. Was soll ich sagen? Drei Jahre Rote Bete und Wurzelgemüse im Winter waren kulinarisch eine Herausforderung.
Darüber, wie falsch ich meinen Körper wahrnehme, habe ich schon geschrieben. Jetzt möchte ich über etwas sprechen, das eng damit zusammenhängt: die Ernährung. Und warum ich mir mehr Gedanken über gesundes Essen gemacht habe, als gesund ist.
Nachdem ich ein paar Sitzungen bei meiner Körpertherapeutin verbracht hatte, sagte sie zu mir: „Veganerin und Körperwahrnehmungsstörung, das geht nicht.“ Erst einmal fühlte ich mich vor den Kopf gestoßen. Schließlich gab es ja gute Gründe dafür, dass ich vegan lebte: Für mein Essen sollten keine Tiere leiden und ich wollte der Umwelt so wenig wie möglich schaden. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir: Ich beschäftige mich nicht nur viel mit meinem vermeintlich zu dicken Körper – sondern auch mit dem, was ich esse.
Also ging ich zusätzlich zu einer Ernährungsberaterin. Sie hat mir ein paar einfache Tipps mit auf den Weg gegeben, worauf ich beim Essen achten sollte: neben Gemüse immer eine gute Portion Kohlenhydrate und Eiweiß auf dem Teller, drei Mahlzeiten am Tag und ein Snack in einer längeren Pause zwischen den Mahlzeiten. Sie hätte mir auch Hilfe für eine ausgewogene vegane Ernährung gegeben. Aber da hatte ich für mich schon beschlossen, dass ich Wege finden musste, meine Ernährungsweise zu vereinfachen und weniger intensiv über jede Mahlzeit nachzudenken. Seitdem mache ich Ausnahmen und bin wohl eher wieder Vegetarierin, die aber trotzdem lieber Hafermilch trinkt.
Wenn du aufmerksam gelesen hast, hast du vielleicht gemerkt: Auch die Ernährungsberaterin gab mir wieder neue Essensregeln. Noch mehr Regeln, um weniger zwanghaft beim Essen zu sein? Ja, das klingt seltsam. Aber mir haben diese Regeln tatsächlich geholfen, etwas entspannter mit dem Essen umzugehen. Bis heute brauche ich die Vorgaben der Ernährungsberaterin, um nicht zurück in alte Essensmuster zu fallen. Um nicht wieder Mahlzeiten ausfallen zu lassen und das Brot am Abend wegzulassen, den Hunger nicht mehr zu ignorieren und mich für vermeintliche Essenssünden später mit Kalorienverzicht zu bestrafen. Ich glaube, wenn man so lange wie ich seine Ernährung eingeschränkt hat, fällt es schwer, plötzlich komplett auf Regeln zu verzichten.
Das Ziel der Ernährungsberatung war aber auch klar: Irgendwann sollte es mir leichtfallen, selbst zu erkennen, was mein Körper braucht. Ich soll dann essen, wenn ich Hunger habe, und zwar das, worauf ich Lust habe, so lange, bis ich satt bin. Weil ich vor langer Zeit aufgehört habe, auf diese körperlichen Zeichen zu hören, fällt es mir immer noch schwer, sie zu erkennen. Und ich bin nach wie vor skeptisch: Esse ich dann am Ende nicht total viel Schokolade? Ist das dann wirklich gesund?
Gesund ist nicht gleich schlank
Gesund heißt für die meisten von uns auch: schlank. Die US-amerikanische Wissenschaftsjournalistin Harriet Brown hat ein ganzes Buch darüber geschrieben, dass der weit verbreitete direkte Zusammenhang zwischen Schlanksein und besserer Gesundheit nicht der Realität entspricht, sondern kulturellen Normen. (Meine Kollegin Theresa Bäuerlein fasst Browns Buch in diesem Artikel zusammen.)
Übergewichtige werden in unserer Gesellschaft extrem diskriminiert, wie eine Psychologin in diesem Text zeigt. Die Diskriminierung trägt dazu bei, dass viele übergewichtige Menschen sich selbst die Schuld an gesundheitlichen Problemen geben. Aber sie führt auch dazu, dass die meisten Menschen regelrecht Angst davor haben, als zu dick – und damit als ungesund – zu gelten.
Die Food-Journalistin Alicia Kennedy schrieb im Oktober in ihrem englischsprachigen Newsletter darüber, dass „Fatphobia“, also Fettphobie, viel zu wenig Beachtung in den Medien findet. Vor allem auch dann, wenn es um Essen geht. Sie schreibt, dass es ein Problem ist, wenn nur übergewichtige Menschen in persönlichen Aufsätzen Fettphobie thematisieren, „als ob nur fette Menschen von Fettphobie betroffen sind.“ Dabei könne die Diskriminierung ähnlich wie Frauenfeindlichkeit auch Menschen innerlich schaden, die nicht direkt davon betroffen sind.
Die Literaturwissenschaftlerin Christine Ott kommt in ihrem Buch „Identität geht durch den Magen“ zu dem Schluss, dass insbesondere Frauen permanent mit unrealistischen Körperidealen konfrontiert werden, die sie durch das richtige Essen erlangen sollen:
„Zwar sind nicht alle Frauen essgestört, doch sie alle haben (…) ein schwieriges Verhältnis zu ihrem Körper. Die Medien nämlich konfrontierten Frauen unaufhörlich mit extrem dünnen Schönheitsikonen, die zudem beständig dünner würden, wie Bordo durch den Vergleich von Werbebildern aus den 60er und den 90er Jahren zeigt. Magersüchtige Frauen (…) interpretieren diese Bilder keineswegs ‚falsch‘, sie leiden auch nicht an einer gestörten Wahrnehmung ihres eigenen Körpers. Vielmehr interpretieren sie den Appell, den die Bilder dürrer Models transportieren, völlig korrekt. Frauen von heute haben demnach keinesfalls mit einem ‚unbewussten‘, sondern vielmehr mit einem allzu bewussten Problem zu tun: dem Problem, mit einer sich unaufhörlich steigernden Anforderung an den ‚perfekten‘ Körper nicht mithalten zu können. Das Dilemma wird dadurch verschärft (dieser Befund gilt heute mehr denn je), dass die Werbung die Verbraucher mit zwei völlig widersprüchlichen Botschaften konfrontiert: Einerseits werden wir dazu aufgefordert zu genießen und zu konsumieren, andererseits dazu, unseren Körper und unseren Appetit durch Diät und Fitness zu formen und zu disziplinieren.“
Das alles erinnert mich an die Frage meines Psychotherapeuten, die er mehr als einmal gestellt hat: „Was passiert denn, wenn Sie fünf Kilogramm zunehmen?“ Tja. Was passiert dann? Eigentlich: nichts. Aber meine Angst vor dem Zunehmen war lange so groß und so irrational, dass ich mir die Frage nie wirklich gestellt habe. Stattdessen habe ich mein Essen kontrolliert, weil es sich so angefühlt hat, als seien Essen und Gewicht eben die Dinge, die ich besonders gut kontrollieren kann. Aber um ehrlich zu sein: Mich so gesund zu ernähren, war ganz sicher alles andere als gesund für mich.
„Intuitives“ Essen passt nicht zu mir
Seit einigen Jahren sprechen immer mehr Menschen davon, dass sie intuitiv essen. Intuitives Essen ist ein Essenstrend, der den strengen Diätnormen widerspricht – und eigentlich genau das, wovon meine Ernährungsberaterin gesprochen hat. Auf den eigenen Körper hören, Signale wie Hunger und Appetit verstehen. Die Theorie des intuitiven Essens ist: Wenn du immer alles essen darfst und dir keine vermeintlich schädlichen Lebensmittel wie Schokolade oder Chips mehr verbietest, hast du am Ende auch viel weniger Lust darauf. Das umgekehrte Phänomen gibt es auf jeden Fall, das kann ich bestätigen: Oft hatte ich in der Vergangenheit nach einiger Zeit besonders großen Heißhunger auf die Dinge, die ich mir verboten habe.
Im Stern erzählt die Instagrammerin Melanie Schaible, dass sie sich in der ersten Woche mit intuitivem Essen nur von Oreo-Keksen und grünem Curry ernährt habe. Dann sagt sie: „Heute kann ich keinen einzigen Oreo-Keks mehr sehen.“
Was mich daran verblüfft: Am Ende geht es doch wieder darum, gar keine Lust mehr auf die Kekse zu haben. Das erinnert mich an meine Cousine, die im Teenageralter begeistert von Hexerei war. Sie hat damals gemeinsam mit mir ein Ritual ausgetestet, das Schokolade für sie ungenießbar machen sollte. Wir saßen zwischen Kerzen und sie aß das Stück Schokolade, das ihr allerletztes sein sollte. Irgendeinen Spruch musste sie auch dazu aufsagen, glaube ich. Hat das geklappt? Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie danach immer wieder gesehen habe, wie sie genüsslich Schokohappen verzehrt hat.
Ungefähr so kommt mir auch das Versprechen vor, dass ich dank intuitivem Essen plötzlich keine Lust mehr auf Süßes oder Fettiges haben soll. Es passt jedenfalls nicht zu meiner Erfahrung. Auch wenn ich meine früheren strengen Essensverbote aufgehoben habe, muss ich mir eingestehen, dass ich immer noch ein schlechtes Gewissen habe, wenn ich Schokolade esse. Das Schokoladenpapier landet nach wie vor ganz unten im Mülleimer, damit möglichst niemand sieht, dass ich schon wieder eine ganze Tafel vertilgt habe. Es ist ein durch und durch mit Scham- und Schuldgefühlen besetztes Lebensmittel, das ich leider trotzdem sehr gern mag.
Das sind meine neuen Vorbilder
Nachdem ich Christine Otts Buch „Identität geht durch den Magen“ gelesen habe, weiß ich: Es liegt nicht an mir, dass ich mir so viele Gedanken über das Essen mache. Ständig und überall wird uns vorgegeben, wie wir uns ernähren und wie wir aussehen sollen. Dadurch kommen Diättrends zustande, die eigentlich kaum durchzuhalten sind. Und dadurch gibt es überhaupt erst Schuld und Scham beim Essen.
Zum neuen Jahr will ich keine neuen Vorsätze, wie ich noch fitter und gesünder werde. Ich habe in den vergangenen Monaten auch aufgepasst, wer meine Vorbilder sind. Beim Thema Ernährung sind es jetzt vor allem die Menschen in meiner Umgebung, die sich eben nicht so viele Gedanken über die Nährstoffe machen, die sie zu sich nehmen, sondern einfach gerne essen.
Einer von ihnen ist mein Kollege Gabriel Yoran. Als er im Auftakt zu seiner Genuss-Kolumne beschreibt, wie er eine dänische Fløddebolle genießt, fühle ich mich richtig gut. Schaumig und knackig, süß und herb, der perfekte Sturm. Der Genuss, den Gabriel beschreibt – ich kenne ihn nur, wenn ich morgens mit einer Tasse grünem Tee auf der Couch sitze. Der leicht süßliche, erdige Geruch. Der würzige Geschmack. Das warme Gefühl, das der Tee auf meiner Zunge hinterlässt. Daran muss ich bei Gabriels Text denken. Aber ist es nicht bezeichnend, dass ich diesen Genuss bislang nur bei Tee kenne? Ich möchte auch sonst viel mehr genießen.
Durch meinen Vegetarismus und Veganismus, durch all den Verzicht auf kohlenhydrat- und fettreiche Kost habe ich einen kleinen Tick entwickelt: Ich fühle mich ganz komisch, wenn ich einen Tag lang kein Gemüse gegessen habe. Und mit Gemüse meine ich nicht einfach nur die Tomate, die ich mit den Nudeln mit Pesto anbrate. Ich brauche mindestens einen knackigen Salat oder einen Teller voll frischem Ofengemüse. Etwas zum Beißen und Schmecken, nach dessen Verzehr ich mich frisch und fit fühle. Mich amüsiert es inzwischen ein bisschen, dass ich dieses Gefühl habe, und ich bin überzeugt davon, dass der Zwang zum Gemüse viel mehr kulturell geprägt ist als natürlich. Aber ich nehme ihn jetzt als Teil von mir an. Denn wenn ich eines gelernt habe, ist es das: Es ist besser für mich, einen kleinen Essenstick zu haben, als mich ständig selbst zu verurteilen.
Normalerweise schreibe ich für Krautreporter über die Themen Migration und Rassismus. Weil ich aber eine Körperschemastörung habe und das Thema wichtig finde, veröffentliche ich auch ab und zu einen Text über Körper und Essen.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele.