Nach sechs Jahren, im Sommer 2018, trennten wir uns. Mein Partner und ich saßen im 18. Stock eines Art-Deco-Hochhauses in der Innenstadt von Providence (Rhode Island, USA) bei der Scheidungsanwältin. Sie sagte: „Ich kann nur einen von Ihnen vertreten, aber da Sie ja nun beide da sind, nehme ich an, es ist amicable“, einvernehmlich. Das war es, wenn auch nicht freiwillig. Die Wahl Trumps hatte einen Strich durch meine Visumspläne gemacht und damit durch unser gemeinsames Leben. Das Programm, das mir Aufenthalt und Arbeit ermöglicht hätte, wurde noch vor Trumps Vereidigung eingestellt.
Nach dem Termin klärten wir, was das Auto noch wert war und wer das Bett bezahlt hatte. Wir gingen noch ein paar letzte Male essen. Wir wussten nicht mehr, worüber wir reden sollten, es war ja alles gesagt, aber beim Essen kann man gut gemeinsam schweigen, man hat ja eh den Mund voll. Zum Schluss gingen wir in das azurblaue Holzhaus des Café Pastiche und aßen Strawberry Shortcake. Mir ging die schlimme Songtextzeile „Lebenswege führen an Menschen nur vorbei“ durch den Kopf. Dann verabschiedeten wir uns, und ich stieg ins Flugzeug zurück nach Berlin.
Der Strawberry Shortcake ist, wie so viele einfache, aber nicht zu verbessernde Backwaren, eine englische Erfindung. Diese Süßspeise hat in ihrer archaischen Lieblichkeit etwas Zeitloses. Es ist eine Art Küchlein aus etwas weicherem Mürbeteig (mit viel Natron), der mit mazerierten Erdbeeren und Erdbeersauce übergossen wird. Bei der Mazeration werden Früchte in Zucker eingelegt, was ihnen Flüssigkeit entzieht. Diese Flüssigkeit ist die Basis für die famose Sauce, die dann mit einem üppigen Gemisch aus Frischkäse, Butter und Puderzucker getoppt wird. Obendrauf kommt dann noch ein Küchlein. Dieser Stapel sieht traditionell weniger aus wie ein Kuchen, eher wie ein Auflauf, denn die Erdbeeren sind noch warm und ihr Saft tränkt den Teig und überall quillt die Buttercreme heraus – der Shortcake ist schlichte, formlose Wonne. Er ist wie wenn man vor Rührung weinen möchte, aber als Dessert.
Wenn der Herbst kommt und die Sonne nur noch kurz und orange aufscheint und man alleine daheim sitzt und die Entscheidungen des letzten Sommers bereut (obwohl man ja weiß, dass es besser so war), dann muss man sein Selbstmitleid in produktive Bahnen lenken: in Teig. Backen hilft.
Jetzt, wo uns die Pandemie auseinandertreibt, ist das Backen die heimische, sinnliche Tätigkeit der Wahl
Wer seine Arbeitszeit vor dem großen Bildschirm verbringt, um dann seine Freizeit vor dem kleinen Bildschirm zu verbringen, dem verschafft das Manschen mit Butter, Eiern und Mehl, das Kneten und Falten von Teig ein schönes haptisches Erlebnis. Es macht sofort Spaß, es ist eine Kindertätigkeit für Erwachsene. Besonders jetzt, da viele pandemiebedingt unter Berührungsentzug leiden, wo wir noch mehr auf mediales, also im Wortsinn mittelbares Erleben zurückgeworfen sind, ist das Backen die heimische, sinnliche Tätigkeit der Wahl. Wer noch nicht backt, fängt jetzt an.
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Backen ist eine der Lieblingstätigkeiten der Deutschen und zudem eine erstaunlich gut erforschte. Der kreative Aspekt beim Backen, zum Beispiel das Entwickeln eigener Rezepte, hebt die Laune, hat eine neuseeländische Studie herausgefunden. Besser noch: Die so gehobene Laune befördert wiederum die Kreativität. Ich weiß nicht, wie das Gegenteil eines Teufelskreises heißt, aber genau so einen setzt man mit dem Backen in Gang.
Backen bedeutet überschaubare Arbeit mit absehbarem Ende und greifbarem Ergebnis. Das ist das Gegenteil von dem, was Arbeit für viele Online-Menschen bedeutet. Fürs Backen braucht es kein Brainstorming und keine Teammeetings. Die Kekse sind heute noch fertig, nicht erst übernächstes Quartal oder nie. Das Ergebnis der Arbeit lässt sich anfassen und auch deine Eltern verstehen es ohne gewundene Erklärungen. Alle lieben dich für deine Arbeit, niemandem sind Kekse egal. Man backt immer mehr Kekse, als man sinnvollerweise selber essen sollte, also hat man einen Anlass, andere Menschen zu treffen (was wiederum vielen gegen Übellaunigkeit hilft). Und wenn das aus viralen Gründen nicht geht, verschickt man die Kekse eben per Post. Niemand freut sich nicht über Kekse per Post.
Aber nicht nur das Ergebnis, schon der Prozess tut gut. Ein Rezept der Köchin und Kochbuchautorin Alison Roman ist ein gutes Beispiel. Vor ein paar Jahren wurde sie mit ihren besonders umständlichen gesalzenen Shortbread-Cookies mit Schokoladenstücken berühmt. Das Rezept entstammt ihrem Kochbuch „Dining in“ und firmiert auf Twitter nur noch unter dem Hashtag #thecookies.
Kekse helfen gegen Hibbeligkeit und gegen den wackeligen Serotoninspiegel
Diese Kekse zu backen, ist mühsam. Aber das gehört zum Erfolg des Rezepts bei Romans Zielgruppe: Großstadtmenschen, die gegen ihre Hibbeligkeit, ihre von den sozialen Medien zertrümmerte Aufmerksamkeitsspanne und ihren wackeligen Serotoninspiegel ankochen und -backen.
Backen ist eine Prozedur, und das muss es sein. Denn ein Erfolgserlebnis stellt sich nur dann ein, wenn man wenigstens ein kleines Hindernis überwunden hat. Der Teig ist störrisch, er muss zu Rollen verarbeitet werden, die dann ein paar Stunden im Kühlschrank zubringen, um dann mit Eigelb eingepinselt und in Demerara-Zucker gewälzt zu werden. (Diesen Rohrzucker mit hohem Melasseanteil muss man auch erstmal finden. Nebenbei kommen noch zwei weitere Zuckerarten zum Einsatz.)
Dann müssen die Teigrollen in Scheiben geschnitten werden. Und da Roman ihre nervöse Zielgruppe kennt, schreibt sie vorsorglich: „Wenn du auf ein Stück Schokolade triffst, säge [mit einem scharfen Messer] langsam vor und zurück durch die Schokolade.“ Ja, du wirst auf Hindernisse stoßen. Gib nicht auf! Der Lohn der Mühe sind sehr befriedigende, wegen des Melasseanteils im Demerara-Zucker extrem nostalgisch schmeckende Kekse. Auch das ist ein Geheimnis dieses Rezepts, seiner suggestiven Kraft, seiner tröstenden Wirkung. Erinnert ihr euch an Omas blaue Blechdose mit den dänischen Keksen? Die Shortbread-Cookies sind ein bisschen so, als wäre Oma wieder da.
Die Köchin Christina Tosi hat aus einer dieser Kindheitserinnerungen ein ganzes Imperium gebaut: Nämlich aus dem Geschmack der Milch, die übrig bleibt, wenn man die Frosties weggelöffelt hat. Sie röstet süße Frühstücksflocken im Backofen, weicht sie in Milch ein und siebt nach einer halben Stunde die Flocken heraus. Die so hergestellte Cerealien-Milch bildet die Basis von Eiscreme, Kuchen und Pannacotta – und die Kund:innen kriegen nicht genug davon. Ihr Dessertrestaurant „Milk Bar“ hat mittlerweile 16 Filialen in den USA. Und der schiere Anblick von Tosis Geburtstagskuchen aus Teigschichten voller bunter Zuckerstreusel und Buttercreme macht gute Laune.
Tipp: Setze dich mit einer Torte in die U-Bahn und die Leute werden dich anlächeln, selbst in Berlin. Na gut, sie lächeln nicht dich an, sondern die Torte. Aber immerhin.
Wer eine Torte hat, kann kein schlechter Mensch sein. Und wer eine backt, erst recht nicht. Den Beleg erbringt die BBC-Backshow „The Great British Bake Off“ seit vielen Jahren. Eine Reihe Hobby-Bäcker:innen tritt über Wochen in vielen Disziplinen gegeneinander an: Sie backen einfache Brote, schwierige Torten, schwere Pasteten und leichtes Gebäck, derweil wir Vignetten aus ihren Leben gezeigt bekommen. Schicksalsschläge, Krankheiten, Diskriminierung, alles ist da, und mit der Zeit wachsen einem die Kandidat:innen ans Herz. Vor allem, weil es in der Show nie gemein zugeht, niemand wird vorgeführt oder verächtlich gemacht. Auch wenn natürlich enormer Erfolgsdruck herrscht, schließlich sahen in der letzten Staffel im Schnitt über zehn Millionen Briten zu. Das ist wie „Tatort“, nur halt in nett.
Wie nett, erzählte Moderatorin Sue Perkins dem Guardian. Wenn die Bäcker:innen aus Frust oder Enttäuschung in Tränen ausbrechen, kommt sie oder ihre Co-Moderatorin Mel Giedroyc ins Bild und gibt Obszönitäten von sich – damit es die Szene nicht in die Sendefassung schafft. Wie wholesome ist das bitte?
Und darum geht es ja beim Backen: sich und anderen gute Laune zu machen, oder sogar Trost zu spenden. Trauernden Menschen etwas zu essen zu bringen, ist ein uralter Brauch. Dies gilt vor allem für Hinterbliebene, die in vielen Kulturen mit Essensgeschenken bedacht werden, wie die Psychologieprofessorin Susan Whitbourne erzählt. Wenn man zum Beispiel in einer Mormonengemeinde zu einer Trauerfeier kommt, bringt man „Beerdigungskartoffeln“ mit (ein mit Cornflakes überbackener Kartoffelauflauf, kein Witz).
Backen heißt: Keine Entscheidungen fällen zu müssen und sich ganz auf eine Sache zu konzentrieren
Der irischen Autorin Marian Keyes gelang 2012 mit ihrem Buch „Saved by Cake“ (deutscher Titel „Glück ist backbar“) ein Bestseller. Darin beschreibt Keyes, die jahrelang an schweren Depressionen litt, die segensreiche Wirkung des Backens. Eine Depression ist eine ernste Krankheit, die sich nicht einfach wegbacken lässt (mein Krautreporter-Kollege Martin Gommel beschreibt sie hier aus Sicht eines Betroffenen). Im Rahmen einer Verhaltenstherapie kann Backen aber tatsächlich helfen, weil es die Aufmerksamkeit auf eine konkrete Aufgabe richtet. Man muss ein Rezept penibel befolgen, falsche Mengen lassen sich im Nachhinein nicht mehr korrigieren. Backen verlangt mehr Konzentration als Kochen, erklärt auch Valerie van Galder, die mit Backevents Geld für Einrichtungen für psychisch Kranke sammelt.
Es muss aber nicht gleich um Erkrankungen gehen. Die Ernährungstherapeutin Julie Ohana sagt, dass gerade unter Pandemiebedingungen die Konzentration auf eine konkrete und machbare Aufgabe auch auf gesunde Menschen stressabbauend wirkt. Backen vermittelt ein Gefühl von Kontrolle in einem Leben, das wir nicht unter Kontrolle haben. Man muss keine großen Entscheidungen fällen. Was zu tun ist, steht im Rezept. Der Teig darf nicht zu flüssig sein oder nicht zu trocken, die Butter nicht zu kalt oder nicht zu warm, die Sahne gerade steif genug geschlagen, aber nicht zu steif. All dies richtet die Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt, es ist schlicht keine Zeit, sich eine Grube zu grübeln. Backen ist eine Tätigkeit, die im besten Sinne ablenkt, es fordert vom Ungeübten volle Aufmerksamkeit, für die Erfahrene hingegen ist es die reine Meditation. Beides hilft. Und wenn mit etwas Übung die Ergebnisse immer besser werden, hilft auch das. Laut einer Studie der Uni Konstanz empfinden viele Menschen es als stressabbauend, in einer Sache Meisterschaft zu entwickeln, neben dem Gefühl, wieder etwas Kontrolle über eine Situation zu haben.
An Heiligabend 2018 buk ich erstmals The Cookies von Alison Roman. Es war mein erstes Weihnachten als Single seit Jahren und ich wusste noch nichts von all den heilsamen Wirkungen des Backens. Ich machte mich auf die Suche nach den drei verschiedenen Zuckersorten, informierte mich über Schokolade, die beim Backen nicht in lappigen Schlonz zerrinnt, und beschaffte das Salz mit dem richtigen Flockigkeitsgrad. Ich dachte nicht mehr an die Entscheidung von letztem Sommer. Ich knetete den Teig. Ich rollte ihn und sägte die Rollen in Scheiben. Ich dachte nicht mehr an den Termin bei der Scheidungsanwältin. Ich ließ mich von den Schokoladenstücken beim Sägen nicht beirren und bewegte das Messer langsam vor und zurück. Ich dachte nicht mehr an den Sadisten im Weißen Haus, der meine Ehe zerstört hat. Ich dachte an unsere sechs Jahre zusammen und unseren letzten gemeinsamen Strawberry Shortcake, den wir stumm verspeisten, weil man manchmal einfach nichts mehr sagen muss.
Meine Kekse wurden nicht perfekt, aber ganz gut. Bis zur Meisterschaft dauert es eben noch ein bisschen. (Nächstes Mal nehme ich richtige Butter, nicht diesen Mix mit Rapsöl.) Ich stapelte die Kekse vorsichtig in eine Plastikdose, packte sie zu den anderen Geschenken und fuhr zum Heiligabend bei meinen Eltern.
Darauf verzichten wir dieses Jahr, aber niemand freut sich nicht über Kekse per Post.
Das Rezept
Wer den Aufwand für die Cookies von Alison Roman scheut, aber trotzdem etwas Spektakuläres backen möchte, dem sei das folgende uralte Rezept ans Herz gelegt. Wir machen Pfitzauf, Yorkshire Pudding oder Popovers. Das ist alles das Gleiche: im Backofen frittierte Mini-Pfannkuchen oder einfache Soufflés. Es klingt kompliziert, aber ist es nicht. Diese aufgeblähten, goldenen, knusprigen, fluffigen Backwaren isst man in Schwaben mit Kompott oder Puderzucker. („Ausgezogene“ oder Langos sind etwas anderes, weil aus Hefeteig.) In England heißt das gleiche Backwerk Yorkshire Pudding, wird dort aber traditionell herzhaft verwendet, zum Beispiel als Beilage zu Roastbeef. (Das Wort Pudding hat in Großbritannien übrigens keine brauchbare Funktion mehr, es bezeichnet tausend verschiedene Speisen, süße, herzhafte, welche, die man wie Wurst herstellt oder die aus Teig sind oder auch nicht oder aber Aufläufe oder mit Ei verdickte Speisen, aber nicht immer, man könnte verzweifeln, wenn es nicht so albern wäre.) Und in Amerika, wo alle Küchen parallel existieren, werden Popovers, wie sie dort heißen, einfach süß und herzhaft gegessen. Warum denn auch nicht.
Du brauchst für 12 Pfitzauf (genug für 4 Personen als Beilage oder 2 als Hauptspeise):
- ein Muffinbackblech (ein Blech mit 12 Mulden) oder 12 kleine Auflaufformen
- 2 große Eier
- 160 Milliliter Vollmilch
- 115 Gramm Mehl Typ 405 (das normale für Brot)
- 60 Milliliter Fett (Schweineschmalz, Rapsöl oder Olivenöl; Butter könnte verbrennen)
- 1/2 Teelöffel feines Salz
Zubereitung:
- Eier, Milch und Mehl in einer Schüssel mit einem Schneebesen oder einfach einer Gabel vermischen. Nicht übertreiben. (Der Teig kann variiert werden: mit einem Teelöffel frischem Thymian und etwas geraspeltem Käse für eine herzhafte Variante oder mit einem Teelöffel Zucker für eine süße.)
- Die Schüssel eine halbe Stunde in den Kühlschrank stellen.
- Den Ofen auf 200 Grad vorheizen.
- Wenn du Schmalz verwendest, gib es in eine Schüssel und schmelze es in der Mikrowelle oder in einer Pfanne (bei Ölen entfällt dieser Schritt).
- Wenn der Ofen 200 Grad warm ist, das Muffinbackblech 6 Minuten im Backofen erhitzen.
- Muffinbackblech entnehmen und in jede Mulde etwa einen Teelöffel Fett geben, so dass die Böden der Mulden gut bedeckt sind. Vorsicht, das Blech ist sehr heiß. Das Blech zurück in den Ofen stellen.
- Nach weiteren 6 Minuten das Blech entnehmen und den Teig gleichmäßig auf die 12 Mulden verteilen.
- Das Blech zurück in den Ofen stellen und das Spektakel genießen: Durch die Temperaturdifferenz zwischen dem kalten Teig und dem heißen Öl geht der Teig in wenigen Minuten auf und es formen sich dramatische Halbkugeln (die dann aber schnell wieder zusammenfallen). Den Ofen während dieses Vorgangs nicht öffnen. (Das Öffnen ist der Hauptgrund, warum Speisen im Ofen länger brauchen, als erwartet.)
- Wenn die Pfitzauf goldfarben und knusprig aussehen, nach 10 bis 12 Minuten, das Blech vorsichtig entnehmen und sie aus den Mulden hebeln, das überschüssige Fett in den Mulden belassen. Dann sofort servieren, entweder süß oder herzhaft befüllt oder einfach mit Puderzucker bestäubt.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert