Am Abend vor dem Treffen gerate ich in Panik. Ich habe mir etwas vorgenommen, das für mich als Fotografin völliges Neuland ist: Ich werde fotografieren, wie eine Sexarbeiterin mit einer Klientin arbeitet. Auf einmal wird mir klar, was alles schiefgehen könnte.
Auslöser für diese Idee war ein Krautreporter-Artikel, in dem die Sexarbeiterin Kristina Marlen sagt, dass seit Jahren immer mehr Frauen zu ihr kommen. Vierzig Prozent ihrer Klient:innen seien weiblich, schätzt sie. Die Zahl machte mich neugierig und ich wollte herausfinden, wie eine bezahlte Sex-Session zwischen zwei Frauen aussah. Also nahm ich Kontakt mit Marlen auf und sie lud mich ein, bei einer Session dabei zu sein.
Noch nie bin ich als Beobachterin in einem Raum gewesen, in dem andere Menschen Sex hatten. Was, wenn die Situation mir furchtbar peinlich sein wird und ich die Atmosphäre kaputt mache? Was, wenn die Klientin sich mit der Kamera im Zimmer unwohl fühlt? Je mehr ich darüber nachdenke, desto verkrampfter werde ich. Meine Gedanken kreisen wie verrückt um den nächsten Tag. Aber letztlich bereitet mich nichts darauf vor, was wirklich passieren wird.
Lena braucht Schmerz für ihre Lust
Lena (in Wirklichkeit heißt sie anders) ist Krankenschwester und arbeitet in einem Krankenhaus für alzheimer- und demenzkranke ältere Menschen. Sie verbringt ihre Tage also mit einer der anspruchsvollsten und seelisch aufreibendsten Tätigkeiten, die es gibt. Wenn sie kann – also nicht in Zeiten von Kontaktbeschränkungen – reist sie alle paar Wochen nach Berlin, um Marlen für ein paar Stunden zu treffen, in denen nur Lenas Bedürfnisse wichtig sind.
Wir treffen uns bei Marlen. Marlen arbeitet seit zehn Jahren als Sexarbeiterin und weiß sehr viel über Berührungen und Körper: Sie ist ausgebildete Physiotherapeutin, Yogalehrerin und Tänzerin und kennt sich mit Tantra genau so aus wie mit BDSM. An den Wänden in ihren Räumen hängen Peitschen und Seile, in Regalen liegen Metallwerkzeuge, die ich noch nie gesehen habe, sowie Dildos, Seile und Gleitmittel. Die Dildos hatte ich erwartet, aber was sind das für Werkzeuge? Das erste Foto, das ich mache, ist von einem Gerät, das wie ein stacheliger Pizzaschneider aussieht.
Zu Beginn sitzen Marlen und Lena auf zwei goldenen Polsterstühlen und erzählen einander, was seit ihrem letzten Treffen passiert ist. Es wirkt wie ein lockeres Gespräch zwischen Freundinnen, die über ihre Familie, ihre Arbeit und ihre Schwierigkeiten im Leben sprechen. Ich höre zu und machte Fotos von der Seite, wobei die beiden Frauen mich nicht weiter beachten. Irgendwann dreht sich Lena zu mir und sagt, dass sie es normalerweise nicht mag, fotografiert zu werden. Wir sprechen kurz darüber, dass Frauen oft ein Problem damit haben, wie andere ihre Körper sehen. Lena sagt mir, dass sie beschlossen hat, diese Sorge heute loszulassen.
Lena hat sich eine BDSM-Sitzung gewünscht. Es ist für sie nicht einfach, Orgasmen zu haben, sie braucht dafür ganz bestimmte Berührungen und Schmerzerfahrungen, die Marlen bereits vertraut sind. Während Marlen und Lena sprechen, hantiere ich mit meinen eigenen sperrigen Werkzeugen, Beleuchtung, Stativ und Objektiven. Ich versuchte, herauszufinden, wie ich die Szene fotografieren kann, ohne zu viel zu unterbrechen und ohne zu häufig Blitzlicht zu benutzen, um die Frauen nicht zu stören.
Aus der starken Krankenschwester wird eine Puppe, die an Seilen hängt
Die nächsten zweieinhalb Stunden sind faszinierend. Ich fühle mich erstaunlich wohl, während ich meine Fotos mache. Alles fühlt sich sicher und warm an. Marlen arbeitet hochkonzentriert, während sie Lena mal in komplizierten Posen fesselt, mal Wachs auf sie tropfen lässt oder innig umarmt. Es fallen nur wenige Worte. Manchmal lachen die beiden über etwas, das ich nicht sehen kann, das nur zwischen ihnen passiert. Vor meinen Augen verwandelt sich Lena: Von einer durchsetzungsstarken, zähen und hart arbeitenden Krankenschwester zu einer Puppe, die an Seilen hängt und keinen einzigen Muskel rührt. Die allein von den Seilen bewegt wird, und von Marlens geschickten Händen.
Ich versuche mir vorzustellen, was Lena fühlt, was der Schmerz in dieser Situation mit ihr macht. Vielleicht ist es wie bei einer Massage, wenn ein Griff auf eine gute Weise wehtut und etwas im Körper ins Fließen bringt. Ist es nicht ohnehin so, dass Gesichter im Schmerz und in der Lust sehr ähnlich wirken?
Es gibt Momente, in denen ich kurz denke, dass ich vielleicht eingreifen muss. Einmal etwa schnüren die Seile Lenas Hand so sehr ein, dass sie lila anläuft. Ich halte mich zurück und vertraue der Erfahrung von Marlen und ihrem Fachwissen. Später erklären mir die Frauen den körperlichen Prozess, der dieses Phänomen verursacht, und warum er völlig ungefährlich ist.
Nach der Sitzung setzen wir drei uns zusammen und reden. Ich zeige Lena die Fotos, die ich gemacht habe und sie strahlt vor Freude. Sie hat diese Stunden intensiver Körperarbeit mit verbundenen Augen erlebt. Hinterher die Fotos zu sehen, ist eine starke Erfahrung für sie, und sie sagt, dass sie sich sehr darüber freut. Und dass sie während der Sitzung ganz vergessen hat, dass ich auch im Raum war.
Besonders Männer haben Schwierigkeiten mit den Fotos
Ich verlasse Marlens Atelier völlig überwältigt, bin voll von Bildern und Gefühlen über das, was ich gerade erlebt habe. Es hat etwas Magisches, das ich nicht in Worte fassen kann. Gleichzeitig will ich es mit allen Menschen, die ich kenne, teilen. Aber als ich die Bilder schließlich einigen meiner Freund:innen zeige, bin ich überrascht, wie schwierig es für sie ist, die Fotos anzuschauen. Etwas daran wirkt offenbar hart und spiegelt überhaupt nicht das schöne Gefühl wieder, das ich bei den Aufnahmen gehabt habe.
Oder sind meine Freund:innen vielleicht verschlossen gegenüber der Schönheit, die in den Bildern liegt und der Begegnung der zwei Frauen, die darin passiert? Vor allem meine männlichen Freunde wenden den Blick ab, wenn ich ihnen die Fotos zeigte. Als ob diese aus einer fremden Welt kämen, zu der sie keinen Zugang haben oder haben sollten. Meine Freundinnen wiederum sagen immer wieder, dass es sehr mutig von Lena sei, ihren Körper auf diese Weise zu zeigen. Sie sehen überhaupt nicht, dass diese Bilder eine Frau zeigen, die sexuell völlig erfüllt ist.
Ich denke an den Moment, in dem Marlen nach der Sitzung ihre Ausrüstung zusammengeräumt hat. Drei Stunden lang hatte sie hart gearbeitet, und ihr eigener Körper glänzte vor Schweiß. Ich denke daran, dass auch Marlen vielleicht eine Art Krankenschwester ist, die sich um erschöpfte Körper kümmert und ihnen die Berührung, Nähe und Aufmerksamkeit schenkt, die sie brauchen. Ich frage mich, warum es normal ist, Therapeut:innen dafür zu bezahlen, unseren Gefühlen und Gedanken zuzuhören, wir uns aber dafür schämen, dass uns jemand gegen Bezahlung berührt. Ich habe darauf keine Antwort. Aber ich weiß, dass ich etwas gesehen habe, das über bloßen Sex hinausgeht.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Bildredaktion: Martin Gommel; Schlussredaktion: Belinda Grasnick.