Wer den Animationsfilm „Ratatouille“ gesehen hat, kennt die Schlüsselszene, in der das titelgebende Gericht (gekocht von einer Ratte!) einem übellaunigen Restaurantkritiker das Herz erweicht. Es erinnert ihn an seine Kindheit auf dem Land, an seine Mutter. So in etwa muss man sich die suggestiven Gerichte im Margaux vorstellen, einem Berliner Feinschmeckerlokal mit Michelin-Stern, das es nicht mehr gibt. Der Besitzer und Chefkoch Michael Hoffmann war Überzeugungstäter. Vor etwa zehn Jahren wollte er neben einem traditionellen Menü mit feinem Fleisch und Hummer ein vegetarisches Menü anbieten. Zum gleichen Preis. Aus Prinzip. Es lief aber nicht. Kaum jemand will über 100 Euro für ein Gemüsemenü bezahlen. Hoffmann führte daraufhin ein Mittagsmenü ein, zu absoluten Spottpreisen für ein solches Restaurant: 15 Euro für den ersten, zehn Euro für jeden weiteren Gang. Damals konntest du also im Herzen Berlins drei Gänge einer der besten Küchen der Stadt, vielleicht des Landes, essen – für 35 Euro. So billig bekam man nirgends Sterne-Essen.
Ich habe Hoffmanns Harakiri-Mittagsmenüs mehr als einmal gegessen. Wie der provenzalische Gemüseeintopf aus dem Film hatten die stärkste Wirkung die Gerichte, die sich um irgendein Gemüse, eine Knolle, ein Kraut oder einen Pilz gedreht haben. Zum Beispiel ein unscheinbares Mousse aus Pilzen und Bergpfirsich. Ich weiß leider nicht mehr, welche Pilze das waren, aber diese Speise hat etwas mit meinem Gehirn gemacht. Es hat mich an etwas erinnert, was ich noch gar nicht erlebt hatte. Oder wenigstens nicht bewusst. Ich hatte den Löffel noch im Mund und da lag es mir auf der Zunge, wortwörtlich, ich erinnerte mich, ich wusste nur nicht, woran. Es gibt Momente, da leistet die Spitzenküche Metaphysisches. Ihre besten Gerichte sind gleichzeitig Feiern des Erfindungsreichtums und Messen der Empfindsamkeit. Und natürlich sind solche Erlebnisse selten und das müssen sie auch sein. Die spektakuläre Wirkung stellt sich selbst in den besten Restaurants beileibe nicht immer ein. Aber wir haben begonnen, etwas aus dieser Küche, aus diesem Zugang, in den Alltag zu übernehmen. Und das aus zwei überraschenden Gründen.
So entwickelte sich neues Leben im Niemandsland zwischen Alltagsessen und Spitzenküche
1968 verlangte der US-Literaturwissenschaftler Leslie Fiedler in einem berühmten Aufsatz: „Cross the border, close the gap“ („überquert die Grenze, schließt die Lücke“). Fiedler wollte die Trennung zwischen Unterhaltungs- und Hochkultur einreißen, er wollte ein Ende der Hierarchisierung in der Kunst. Wir sind auf einem guten Wege, wenn auch an einer von Fiedler vermutlich nicht gemeinten Baustelle: der Gastronomie. Die spannendsten kulinarischen Entwicklungen finden nämlich in dem vormaligen Niemandsland zwischen Alltagsessen und Spitzenküche statt.
Margaux-Chef Hoffmann hat es schon 2013 beschrieben: „Private Kochclubs und Salons, temporäre Pop-up-Restaurants oder der Street-Food-Market in der Markthalle Neun – alle haben eine hohe Qualität. Man muss also nicht mehr unbedingt ins Sterne-Restaurant gehen, um ein tolles kulinarisches Erlebnis zu haben.“
Die Markthalle Neun in Berlin-Kreuzberg ist der Apple Store unter den Wochenmärkten. Nicht Omas schlurfen auf der Suche nach Mirabellen durch die Gänge, es sind die beairmaxten zugezogenen Mittdreißiger, die hier ihr Agenturgehalt raushauen. Die Produkte kommen aus der Region, aber die Händler und Hersteller von überallher. Ja, hier wird noch selbst gebacken, aber der Bäcker heißt Alfredo Sironi und sein Brot ist aus Nudelteig. Am Barbecue-Stand schmurgelt Duroc-Bioschwein im Räucherofen, die Kundschaft bestellt auf Englisch. Und die Kreuzberger Markthalle ist nicht die einzige ihrer Art. Auch Streetfood-Märkte und Foodtrucks, bei denen man nicht mehr nur Currywurst kriegt, bezeugen das gestiegene Interesse an guter Küche – unter Umgehung klassischer Gourmetattribute wie Silberbesteck und Kristallgläsern. Und zu deutlich niedrigeren Preisen.
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Wer all das als Hauptstadt-Hipsterscheiß abtut, übersieht womöglich, dass sich die gleiche Entwicklung auch in den Supermärkten vollzieht. Ende der Nullerjahre startete Rewe seine gehobene Produktreihe „Feine Welt“, die mittlerweile sogar Kaufland kopiert hat („K-Exquisit“). Wie selbstverständlich gibt es bei Aldi Serranoschinken und Crème brûlée. Der Wettbewerb unter den Discountern wird mittlerweile eine Etage weiter oben geführt: Man will die Kundschaft gewinnen, die Neues ausprobieren möchte und gewillt ist, dafür mehr zu bezahlen. Ein Grund dafür sind die „Verfeinerungsstrategien“, mit der die Lebensmittelindustrie ihre Kund:innen erzieht.
Verfeinerung ist kein Hipsterscheiß, sie hat Methode
Wie rechtfertigt eine Marke, dass ihr Produkt besser (und teurer) ist als ein anderes? Geschützte Herkunftsangaben wie Parmaschinken und Nürnberger Lebkuchen spielen hier eine wichtige Rolle (hier kannst du alle in der EU geschützten Herkunftsangaben nachlesen). Oder es geht um ein aufwendigeres Herstellungsverfahren (mit Sauerteig!), eine umweltbewusstere Herstellungsweise, faireren Handel. Besonders hochwertige Produkte sind gar nicht im Supermarkt erhältlich, sodass speziell geschultes Personal die Herstellung des Produkts erläutern und auf die Besonderheit des Geschmacks hinweisen kann (man denke an Weinhandlungen oder kleine Kaffeeröstereien, dazu gleich mehr). Der Marketingprofessor Franz Liebl sagt, dass die auf diese Weise gegebene Orientierung nahtlos in Erziehung übergeht. Industrie und Handel erziehen sich ihre Kundschaft. Anstatt den Verbraucher:innen nach dem Maul zu reden, ist es für Liebl durchaus legitim, ihnen zu sagen, was für sie gut und richtig ist. Auch wenn sie das erstmal nicht verstehen. Auch wenn es polarisiert. Diese extreme Form der Orientierung reduziert die Komplexität, die heutige Verbraucher:innen fertigmacht. Andererseits schafft sie Exklusivität, sie ist kostenlose Nachhilfe in acquired taste, das heißt in erworbenem Geschmack. Irgendwann will man die billigen Sachen dann einfach nicht mehr, so die Hoffnung der Branche, und verschmäht womöglich gar den Supermarktkaffee, der meist ein Verschnitt verschiedener Sorten ist, zugunsten sortenreiner Kleinauflagen von namentlich bekannten Kaffeebauern. Anders gesagt: Wenn deine Eltern aus dir keinen Kaffeesnob gemacht haben, macht das jetzt eben die Industrie.
Überhaupt, Kaffee. An kaum einem anderen Alltagsprodukt lassen sich die Verfeinerungsstrategien der letzten Jahre besser ablesen. Kaum ein Viertel, in dem nicht zuletzt ein Café mit ernst dreinblickendem Barista aufgemacht hat. (Auch ein Wort, das vor einigen Jahren noch erklärungsbedürftig war.) Wir befinden uns nämlich in der dritten Kaffeewelle. Die erste Welle war die Popularisierung von Kaffee im 19. Jahrhundert, die zweite bestand aus dem Boom von Espresso, Cappuccino (in den 1970er bis 1990er Jahren) und deren Süßspeisenvarianten à la Starbucks. Die amerikanische Kette hat mit Sahne, Sirups und Streuseln aus Kaffees trinkbare Desserts gemacht und damit ein Imperium aufgebaut. Die dritte Welle nun würdigt die Bohne mit der gleichen Ernsthaftigkeit wie die Weintraube: Es zählen Herkunft, Anbau, es wird verkostet und ein erstaunliches Gewese gemacht um die Filterung des Wassers, die korrekte Brühtemperatur (bei Filterkaffee 92 bis 96 Grad) bis hin zur richtigen Riffelung des Kaffeefilters. Ganz im Sinne der Erziehung ihrer Kundschaft werden in sogenannten Third-Wave-Coffeeshops gerne mal Laptops verboten (manchmal sogar Kinderwagen).
Kaffee lässt man einen ganzen Tag lang in mit Stickstoff gefüllten Fässern ziehen, damit er nicht oxidiert. (Eine einfachere Version dieses Cold Brew kannst du auch selber machen.) Das neue Kaffeeinteresse hat auch zur Renaissance von Omas Filterkaffee geführt, der von der Italophilie der zweiten Welle weggespült worden war. Der Kaffee der Zehnerjahre ist aber nicht mehr Jacob’s (auch wenn man sich dort redlich um eine Aktualisierung der Marke bemüht). Es ist der vieler kleiner Röstereien, denn wie immer bei Verfeinerung geht es auch um Distinktion, um Abgrenzung: Ich kenne was, das du nicht kennst. Wie soll ich meine Kennerschaft belegen, wenn alle das Gleiche trinken? Und natürlich ist der Kaffee teurer, der nicht in riesigen Mengen abgenommen (und fairer bezahlt) wird. Eine dänische Rösterei der dritten Welle zahlt ihren Kaffeebauern das Vierfache des Marktpreises und druckt diesen Faktor, effektvoll Qualitätsbonus genannt, auf die Verpackung. Die Zurschaustellung eines besonders hohen Preises – ist das affig oder vielleicht sogar notwendig in dem sehr kaputten Kaffeemarkt? Fest steht: Wir reden darüber. Kaffee wurde zum High-Involvement-Produkt. Es ist nicht mehr egal, welchen man kauft. Und er ist nur ein besonders prägnantes Beispiel für die gesteigerte Aufmerksamkeit, die mehr und mehr Produktkategorien zuteil wird – auch Brot und Bier werden gewürdigt, wie es noch in den 1990ern völlig undenkbar gewesen wäre.
Man häuft Erlebnisse an statt Eigentum
Aber was ist anders als vor dreißig Jahren? Warum fallen die Verfeinerungsstrategien von Alltagsprodukten heute auf so fruchtbaren Boden? Der Gastrokritiker Ulf Sundermann nennt mögliche wirtschaftliche Gründe: Die Generation der in den 1980ern Geborenen wird vielfach nicht die ökonomischen Erfolge ihrer Eltern feiern können. Es ist deutlich unwahrscheinlicher geworden, sich wie die Elterngeneration Haus und Auto kaufen zu können. Immobilienpreise haben sich von der Gehaltsentwicklung entkoppelt und Autos sind sowieso problematisch. Gutes Essen dagegen ist eine der günstigsten Formen der Lebenskunst (und der Repräsentation). Selbst wenn man 150 Euro für ein Abendessen bezahlt, ist das deutlich erschwinglicher als die Anschaffung eines Porsches (von einer Wohnung innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings ganz zu schweigen).
Bereits in den 1990ern beschrieb der US-Wirtschaftswissenschaftler Jeremy Rifkin in seinem Buch „Access“ das „Verschwinden des Eigentums“. Statt Besitztümer würde die kommenden Generationen Erlebnisse anhäufen. Sie würden sich Autos mieten, anstatt sie zu besitzen, sie würden mehr in Reisen als in Wohneigentum stecken. Wir würden eine „Transformation vom industriellen zum kulturellen Kapitalismus“ erleben. Und kulturelles Kapital kann man erwerben. Deine Lieblingslokale, deine Kennerschaft, dein Genuss, das ist Luxus jenseits des Besitzes. Er ist also oft auch Abgrenzung von dem, was die Eltern angestrebt haben (und Luxus ist immer auch Abgrenzung). Dass dieser Besitz prekär ist, weil er im Gegensatz zur Eigentumswohnung keine Rendite abwirft, weil man in einem Laib Morbier nicht wohnen kann, das ist aber eben auch wahr.
In der Sterneküche geht es nicht ums Geldverdienen
Ein Sternerestaurant zu betreiben, ist generell keine gute Idee, wenn man Geld verdienen muss. So teuer die Abende in der Spitzengastronomie sind, viele dieser Restaurants verlieren mit jedem servierten Teller Geld. Der Wareneinsatz ist enorm, der Verschnitt groß, die Zubereitung ist personalintensiv, der Service auch, und von den Mieten in den besten Lagen haben wir da noch gar nicht angefangen. Es ist praktisch unmöglich, mit dem Betrieb von Spitzenrestaurants in einer Großstadt Geld zu verdienen. Man betreibt sie, indem man ein Unternehmen findet, das die Verluste auffängt, meist sind das Hotels, die sich etwas Streulicht vom Heiligenschein der Sterneküche erhoffen. Oder man macht es gleich wie die Restaurantbesitzer in Frankreich, die sich neben einem Gourmetrestaurant noch ein paar Bistros halten, die das Geld verdienen (das dann in der Feinschmeckerküche wieder verjubelt wird). So oder so: In der Sterneküche geht es nicht ums Geldverdienen, es geht auch nicht ums Essen. Es geht um Kunst des Genießens, kleine Gerichte, die höchste Aufmerksamkeit erfordern (und verdienen). Es geht im besten Falle um nichts weniger als Bewusstseinserweiterung. Und ja, es geht auch um mit Pinzetten platzierte Blättchen oder mit Gold bestäubte Schokolade, aber wer diese Küche auf solche Mätzchen reduziert, tut ihr unrecht.
Das Margaux gibt es nicht mehr. Das Sterne-Mittagsmenü für 35 Euro war eine Verzweiflungstat, es war wirtschaftlicher Selbstmord, vielleicht aus Angst davor, von den Mietkosten umgebracht zu werden. Oder der Begriffsstutzigkeit der fleischfixierten Gäste, die noch nicht bereit waren für Michael Hoffmanns Gemüseküche. Im Frühjahr 2014 gab es den letzten Service, dann schloss das Margaux für immer. Heute existiert kein Sternerestaurant mehr in Berlin, in dem man für 35 Euro ein Drei-Gang-Mittagsmenü bekommt. Wir nähern uns preislich dem Doppelten an. Dafür bestellen die Gäste heute mehr Gemüse. Immerhin.
Rezept: Käsetoast
Im Rezept dieser Folge geht es wieder darum, etwas Einfaches ernst zu nehmen. Es gibt Käsetoast (oder wie man in Amerika sagt: Grilled Cheese) und es ist eigentlich gar kein richtiges Rezept, so einfach ist es. Du brauchst keinen Toaster und auch keinen Grill, nur eine Pfanne. Die Zutaten sind weißes Sauerteigbrot, Butter oder Mayonnaise, Cheddar oder Gouda (beides gibt es schon geraspelt im Supermarkt) – und Zeit. Sie ist vielleicht die wichtigste Zutat, denn man kann sie durch nichts ersetzen außer durch mehr Zeit.
Du schneidest zwei daumendicke Scheiben Brot ab und bestreichst eine Seite davon mit Butter oder Mayo. Du erhitzt die Pfanne auf etwas weniger als mittlerer Temperatur. Es kommt kein Fett in die Pfanne, aber nach ein paar Minuten legst du die Scheiben mit der bestrichenen Seite nach unten (!) hinein. Dann streuselst du den Käse auf die Scheiben. Wenn du denkst, jetzt reicht es aber mit dem Käse, nimmst du noch mehr Käse.
Wir wollen ein extrem knuspriges, goldbraunes Brot, deshalb braten wir es in Butter an. Wenn man das zu schnell macht, verbrennt die Butter und alles ist hin. (Wer vorsichtiger ist, nimmt Mayonnaise.) Wenn man es schön langsam macht, werden wir Zeuge, wie der Milchzucker in der Butter karamellisiert.
Wenn der Käse etwa zur Hälfte geschmolzen ist (das kann gut fünf Minuten dauern), legst du die beiden Scheiben aufeinander, den Käse in der Mitte, und presst sie fest zusammen, zum Beispiel indem du Alufolie auf das Brot legst und dann mit dem Boden eines Topfes fest draufdrückst. Wir wollen ein absolut formstabiles Ergebnis. Jetzt noch ein oder zwei Minuten pro Seite weiterbraten. Wenn die Temperatur nicht zu hoch ist, wird das Brot langsam auf beiden Seiten goldbraun und knusprig sein. Brot aus der Pfanne nehmen und in der Mitte durchschneiden. Fertig. Diesen Grilled Cheese kann man variieren, indem man karamellisierte Zwiebeln einfügt oder gebratene Apfelscheiben. Man kann ihn hervorragend zu Tomatensuppe essen. Oder zu eingelegten Gürkchen. Oder einfach so.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel, Audioversion: Christian Melchert