Wann hast du das letzte Mal etwas zum ersten Mal getan?
Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal einen Flødebolle gegessen habe, den dänischen Schaumkuss. Ich erwarte nichts Besonderes, denn ich kenne ja seinen deutschen Bruder. Ich beiße hinein und erlebe den perfekten Sturm: Zuerst mal ist der Schaum dichter, er ist nicht puff, sondern däng. Die Farbe ist anders und er schmeckt nach – Lakritze! Noch während ich diesen herben Schock verwinde, meldet sich ein süßes, kompaktes Gegenmittel: Der Boden ist keine einfache Waffel, die bestenfalls den Schaum hält, sondern versöhnliches Marzipan. Und zusammengehalten wird diese kleine Eskapade von hervorragender, knackiger, glänzender, etwas dickerer Schokolade als beim deutschen Schaumkuss. Sie muss etwas dicker sein, weil man sonst nicht würdigen könnte, wie gut sie ist. Mein erster Flødeboller ist für mich der Inbegriff von Genuss. Ich erinnere mich ganz genau daran.
Man muss nicht überlegen, ob man etwas genießt
Seit Corona kann ich die Tage kaum noch voneinander unterscheiden. Welchen Tag haben wir heute? Welchen Monat? Was, das geht schon ein halbes Jahr so? Fast alles findet jetzt daheim statt, es fehlt an Abwechslung, es fehlen die Momente, an die man sich erinnern kann, weil sie anders waren als der Alltag. Das Virus macht aus unseren Leben Soße. In dieser Krise können wir etwas Genuss nicht nur gebrauchen, wir sind auch empfänglicher für ihn. Denn Genuss erzeugt einen kleinen, wertvollen Moment – in einer sonst gleichförmigen Zeit. Und Genuss ist unmittelbar: Du musst nicht überlegen, ob du etwas genießt. Du weißt es und du weißt es sofort. Die Welt ist kompliziert, die Menschen sind schwierig, aber probiere eine belgische Nougatpraline, beiße in einen saftigen Burger mit karamellisierten Zwiebeln, lass dir den Saft eines ganz reifen, ganz saftigen Pfirsichs in der sengenden Mittagssonne durch die Finger rinnen oder bestelle endlich mal wieder ein Spaghettieis mit Erdbeersauce wie im Eiscafé Capri vor vierzig Jahren und alles andere ist kurz unwichtig.
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Genießen aber gilt leicht als überflüssig, elitär, unsozial, verantwortungslos und bestimmt auch umweltschädlich. Mit einem globalen moralischen Horizont verbietet sich eigentlich der Genuss, denn er steht ja für das Überflüssige, das sinnlos Verfeinerte. Die Menschen leiden und du bist unzufrieden mit der Konsistenz des Milchschaums in deinem Cappuccino? Geht’s noch? Über Leute mit verfeinertem Geschmack macht man sich lustig, sie gelten als Snobs und schwierig, sie werden auch nicht mehr nach Hause zum Essen eingeladen, weil man befürchtet, nicht das richtige Olivenöl parat zu haben. Oder nur das billige Salz.
Essgewohnheiten sind auch nur Gewohnheiten – das heißt man kann sie ändern
Aber Gehabe ist nicht Genuss. Genuss ist ein inneres Phänomen. Nur du selbst kannst wissen, ob du etwas genossen hast. Aber wenn du mehr weißt, hast du mehr davon. Es beginnt damit, die Aufmerksamkeit bewusst auch auf die einfachsten Dinge zu richten: Wie genau schmeckt zum Beispiel ein Toffifee? Welche Oberflächen haben das Karamell, die Schokolade, die Haselnuss? Wie schmecken sie einzeln, warum sind sie zusammen so gut? Da kommt Hartes, Schmelzendes, Knackiges und Zähes zusammen. Und welche Rolle spielen Farbe, Verpackung, deine Erwartung? Wer Toffifee abfällig ein Industrieprodukt nennt, ist selber schuld: Die Erfahrung, wie es ist, ein Toffifee zu essen, hat eine ausführliche Beschreibung verdient. Immerhin tun Millionen Menschen das jeden Monat.
Ich möchte in dieser Reihe einige meiner Genuss-Episoden mit euch teilen, weil ich so oft denke: Das ist so gut! Warum kannte ich das noch nicht? Probiere doch auch mal! Ich habe so viele Leute in fantastische Lokale geschleift, weil ich Angst hatte, dass diese Lokale pleite gehen (es ist leider sehr oft so gekommen, weil gute Küche noch kein gutes Restaurant macht, aber mehr dazu ein andermal). Vor allem aber hatte ich das Glück, dass mein Vater, ein leidenschaftlicher Esser, mich schon sehr früh in interessante Restaurants mitgenommen hat. Als Zehnjähriger wurde ich so mit gepfefferten Erdbeeren konfrontiert. Seitdem denke ich bei Erdbeeren immer: Die könnten etwas groben Pfeffer vertragen – das würde die ganze Sache so viel spannender machen! Aber selbst wäre ich nie darauf gekommen. Die Gewohnheit, Erdbeeren mit Sahne zu essen, ist einfach sehr stark. Als ich dann ein paar Jahre in den USA gelebt habe, merkte ich, wie viel von unseren Essgewohnheiten eben genau das sind: Gewohnheiten. Ich habe dort im Supermarkt abgepackte Sets aus Salzbrezeln und Hummus-Dip entdeckt. Und während wir ja beide Produkte kennen, tauchen sie hierzulande nie zusammen auf. Das Authentizitätsgebot ist stark in Deutschland: Salzbrezeln gibt es zum Bier, Hummus zum Falafel. Die Amerikaner:innen haben da eine unbeschwerte Experimentierfreude: Sie mixen alles zusammen, was die Leute aus ihren Heimatländern mitbringen, irgendwas davon wird schon funktionieren. Ich kann bestätigen: Salzbrezeln mit Hummus funktionieren.
Ich habe schon mal von Ulf berichtet, einem Freund, der für ein Gourmet-Magazin schreibt. Er kann mir sagen, was ich an einem Wein gut finde: „Du magst den, weil der so cremig ist.“ Ich wäre nie auf die Idee gekommen, einen Wein „cremig“ zu nennen, aber seine Beschreibung traf es perfekt. Natürlich ersetzt Ulfs Begriff nicht den eigenen Eindruck beim Trinken, aber erst jetzt weiß ich, dass ich „cremige“ Weine mag. Ulf hat mir gezeigt, dass diese Weinsprache nicht nur Getue ist, sondern dass ich mehr genießen kann, wenn ich die richtigen Worte dafür habe. Das muss man lernen. Wir wachsen nicht damit auf. Wir müssen auch lernen, darüber zu reden. Ich kann zwar im Stillen genießen, aber zumindest mir geht es so, dass ich es (mit)teilen will, wenn ich etwas genossen habe. Gib deiner Empfindung einen Namen und sie wird bleiben. Und du kannst sie leichter teilen. Nicht nur auf Instagram.
Immer mehr Alltagslebensmittel wandeln sich zu Delikatessen
Während das kühle Feierabendbier sozial erwünscht ist (solange es nur eins und nicht elf sind) und Millionen Menschen festgefügte Meinungen über Bier haben, ist es bei, sagen wir, Weinkennern schon ganz anders. Essen gehen mit einem, der Weine nach dem Probeschluck tatsächlich zurückgehen lässt. Anstrengend! Peinlich! Uff! Dabei will der doch auch nur genießen! Es ist also einerseits ein Klassending, aber eben nicht nur. Ich zum Beispiel habe eine starke Rübenmeinung! Ich habe Meinungen zu Teltower Rübchen und Pastinaken! Beides wirklich keine Luxusartikel. Aber sich damit zu befassen, ist nicht unbedingt mehrheitsfähig.
Zum Glück verschwimmt die Bier-Wein-Linie: Seit einigen Jahren wächst das Interesse an unbekannteren Biersorten. Dass Bier nicht nur süffig oder herb schmecken kann, spricht sich langsam herum. Man probiert sogenannte India Pale Ales (IPAs), die nach Zitrone und Maracuja schmecken. Derweil bieten Discounter immer mehr Feinkost an. Alltagslebensmittel wandeln sich zu Delikatessen. Genuss heißt nicht länger nur Hummer und Langusten. Wir können selbst entscheiden, was wir genießen wollen. Ich nehme ein Butterbrot ernst, ich nehme ein Knoppers ernst, ich finde, auch Limos haben eine ernsthafte Auseinandersetzung verdient.
Genuss ist Selbstfürsorge
Und ja, Genuss lässt sich auch alleine mit einem Buch haben, bei einem Spaziergang mit einem Freund, beim Sex mit dem richtigen Partner, dem Blick über den Comer See. Diese Genüsse sind gute Genüsse. Aber es gibt einen Grund, warum in Marcel Prousts Jahrhundertroman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ der Genuss einer in Tee getunkten Madeleine (einem muschelförmigen Kleingebäck) die Erinnerung des Ich-Erzählers triggert und damit den gesamten Roman. Es gibt einen Grund, warum sich der Großvater in dem alten Fernsehspot für Werthers Echte (die heute Werther’s Original heißen) daran erinnert, wie er als Kind sein erstes Karamellbonbon bekam – in Goldpapier eingewickelt, überreicht wiederum von seinem Großvater. Die Unmittelbarkeit des Sinneseindrucks beim Essen und Trinken verschafft sich eine besondere Aufmerksamkeit. Sich ihr bewusst zuzuwenden, heißt, genießen lernen. Und dafür ist es höchste Zeit, denn wir brauchen ein paar Dinge, die das Leben jetzt sofort schöner machen können. Insbesondere in der Corona-Krise, am Vorabend eines absehbaren Winters des Missvergnügens. Wir müssen uns um uns selbst kümmern, damit wir uns um andere kümmern können. Genuss ist Selbstfürsorge. Wir dürfen, wir müssen uns etwas gönnen.
Dabei will diese neue Serie mithelfen. Wir werden über englischen Strawberry Shortcake reden und darüber, was Lasagne mit Jesus zu tun hat; wir werden Industriesüßigkeiten ernst nehmen; es wird um Kaffee gehen (natürlich!); wir werden über die Lücke zwischen Fast Food und Fine Dining sprechen und warum sie so spannend ist; wir spüren nach, warum Backen gegen Übellaunigkeit hilft, sprechen über vegane Speisen, an die sich professionelle Gourmets zuerst erinnern und welche drei Gemüse man auf eine einsame Insel mitnehmen würde. Es wird um tolle Gerichte gehen aus Zutaten, die du daheim hast, aber auch um den Sumpfeibisch (die Marshmallow-Pflanze!).
Die Vergangenheit kann uns täuschen und die Zukunft kennen wir nicht. Analysen und Interpretationen können falsch sein oder schlicht unmöglich. Aber die Möglichkeit des Genusses ist jetzt. Genuss ist so unmittelbar und echt und wahr wie Schmerz, aber er tut halt nicht weh. Es ist Zeit, dass wir über Genuss reden.
Gute Rezepte brauchen keine teuren Zutaten, sondern klare Kontraste
Wann hast du das letzte Mal etwas zum ersten Mal getan? Du musst ja nicht gleich auf die Suche nach Flødeboller gehen. Du könntest aber zum ersten Mal einen Haferbrei machen, der so gut schmeckt, dass du ihn Freunden vorsetzen kannst. Und du wirst ihn vermutlich eher Porridge nennen wollen, weil es nicht ganz so oll klingt.
Dieser Haferbrei ist auch ein kleines Lehrstück, denn in ihm kann man mit einfachen Zutaten und ohne Aufwand das erzeugen, was alle guten Gerichte ausmacht: Kontraste. Heiß und kalt, weich und hart, süß, salzig und sauer. In diesem Porridge-Rezept passiert das alles gleichzeitig. Man braucht ein paar Anläufe, um es richtig hinzukriegen (wie bei vielen Rezepten), denn der Brei soll relativ fest sein, nicht zu flüssig, nicht zu schleimig. Die Menge der Milch spielt eine Rolle und wie lange man den Brei abkühlen lässt. Vor allem aber hängt das Ergebnis von den Haferflocken ab. Wenn man feststellt, dass Haferflocken nicht gleich Haferflocken sind, bekommt man Respekt selbst vor den einfachsten Zutaten. (Die für „Haferschleim“ gedachten Flocken sind für dieses Rezept ungeeignet. Man kann sich gegen übermäßige Schleimigkeit auch behelfen, indem man einen Teil des Hafers gegen Buchweizen austauscht.) Das Salz muss grob sein, damit es den Crunch hat, der dem Gericht sonst fehlt. Die Butter muss kalt sein, damit es einen schönen Kontrast zu dem heißen Brei gibt, auf dem sie beim Essen langsam schmelzen kann. Das Rezept braucht keinen Zucker, weil der Ahornsirup in den Brei einsickert. Der Zitronensaft verhindert, dass das ganze zu süß wird. Eine einfache, runde Sache. Das Rezept basiert auf dem Oatmeal des Cafés „The Shop“ in Providence, Rhode Island (USA). Probiere diesen Haferbrei jetzt aus und thank me later.
Mein Rezept für Haferbrei
Für eine Portion: 70 Gramm Haferflocken mit 150 Milliliter kochender Vollmilch übergießen, 5 Minuten zugedeckt stehen lassen. Dann Zimt und etwas Zitronensaft einrühren, zum Schluss 20 Milliliter Ahornsirup, ein Stück kalte Butter und etwas grobes Salz draufgeben, fertig.
Du schließt die Augen oder du rollst die Augen, du schüttelst den Kopf, weil es so gut ist. Du wirst dich fragen: warum erst jetzt? Und du wirst etwas zum ersten Mal gemacht haben, nämlich einen richtig guten Haferbrei. Es ist nur Haferbrei, aber was für einer! Nicht schlecht für den Anfang, oder?
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel, Audioversion: Christian Melchert