Jede Schneeflocke ist einzigartig. Der Begriff „Snowflake“ ist im anglo-amerikanischen Raum längst etabliert und bezeichnet Personen, die sich einzigartig vorkommen. Es gibt sogar eine ganze „Generation Snowflake“. Diese Generation ist jung, links, politisch korrekt, überempfindlich und fühlt sich anderen moralisch überlegen – so empfinden es zumindest ihre Kritiker:innen.
Über die Snowflakes wurde in letzter Zeit viel geschrieben. Meistens in einem distanzierten, vorwurfsvollen Ton: Diese jungen Menschen, so ist zu lesen, stellten Sprachverbote auf, schüchterten Andersdenkende ein und errichteten überhaupt eine Art Schreckensherrschaft auf dem Campus. Was selten passiert: Dass mal eine:r diese:r konservativen Kritiker:innen mit den empfindlichen jungen Leuten redet.
Deswegen haben wir diesen Text von James Hatch ins Deutsche übersetzt. Afghanistanveteran trifft Snowflakes – das klingt wie ein Witz. Aber Hatchs Artikel ist wertvoll. Er spendet Trost. Denn er zeigt, dass miteinander reden immer etwas bringt. Und: Wie wichtig es ist, sich selbst zu hinterfragen – egal, ob man eine Schneeflocke ist oder nicht.
Im Mai 2019 wurde ich in das Eli-Whitney-Studierendenprogramm der Universität Yale aufgenommen.
Mit 52 Jahren war ich der älteste Studienanfänger. Vor meiner Zulassung wusste ich nicht wirklich, was mich erwarten würde. Ich hatte das berüchtigte Youtube-Video gesehen, in dem Studierende einen Professor anschreien.
Ich hatte auch gehört, dass die Yale-Studierenden in verschiedenen Social-Media-Müllhalden als „Snowflakes“ bezeichnet werden, Schneeflocken, und gelegentlich war mir der Begriff in den Medien begegnet.
Ich sollte ein bisschen mehr über mich erzählen: Ich war ein unscheinbarer und schwieriger Schüler und besuchte staatliche Schulen. Mit 17 Jahren ging ich zum Militär und war fast 26 Jahre in der Marine. 22 Jahre davon war ich Teil der Navy Seals, einer Spezialeinheit. Ich durchlief zweimal die Seal-Ausbildung, brach beim ersten Mal ab und schaffte es gerade so beim zweiten Mal. 2009 wurde ich bei einem Einsatz verwundet, als wir eine amerikanische Geisel retteten.
Jeden einzelnen Tag ging ich mit Menschen zur Arbeit, die besser waren als ich selbst. Die Standards waren hoch, weil man sich seinen Platz in der Einheit verdienen musste. Nicht nur einmal. Jedes Mal, wenn man zur Arbeit erschien, musste man seinen Wert unter Beweis stellen.
Das Aufnahmeverfahren für die Seals ist schwierig. Der Anteil derer, die es schaffen, ist klein.
Es ist eine merkwürdige Parallele, aber ich empfinde dasselbe für Yale, trotz meiner kurzen Zeit hier.
Nachdem ich die Zulassungsmail bekommen hatte und langsam wieder zu mir gekommen war, beschloss ich, nach Connecticut zu ziehen und mein Bestes zu geben. Viele Leute haben mich gefragt: Warum willst du mit 52 Jahren aufs College gehen, und warum an eine Ivy-League-Institution wie Yale?
Ich hätte ja einfach in Virginia bleiben und ein Community College in der Nähe besuchen können. Die Antwort ist wohl: Ich war beim Militär. Also assoziiere ich ein schwieriges Aufnahmeverfahren mit Qualität. Und ich hatte mit dieser Vermutung Recht.
Noch wichtiger ist aber: Ich möchte einfach ein besserer Mensch sein. Und ich habe das Gefühl, dass mir eine erstklassige Ausbildung an einer großartigen Institution wie Yale dabei helfen wird. Gibt es andere Orte, an denen man eine großartige Ausbildung erhalten kann? Natürlich, aber ich habe mich für Yale entschieden.
Ich war für sie ein Außerirdischer
Die erste Stunde des Semesters war absolut schrecklich. Ich weiß nicht, ob es meinen Kommiliton:innen auch so ging, aber für mich war es einfach schrecklich. Wir hatten ein Literaturseminar mit dem fantastischen David Quint, Sterling Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft.
Fantastisch ist David Quint insofern, als er sein Leben der Literatur gewidmet hat, und er weiß, wovon er spricht. Wir diskutierten über die altgriechische Ilias. Ich hatte in meiner Militärzeit einmal ein wenig in der Ilias gelesen und sie definitiv nicht verstanden. Als ich Professor Quint zuhörte, wurde mir klar, wie sehr ich sie nicht verstanden hatte.
Meine Kommiliton:innen kamen mir wie Kinder vor. Zum Teufel, sie waren Kinder, aber immer wenn sie sprachen, und für einige von ihnen ist Englisch ihre zweite Sprache, klangen sie wie sehr eloquente Erwachsene. Diese jungen Studierenden hatten ein gutes Gespür für die Literatur, und obwohl es ihnen an Erfahrung fehlte, um sie mit ihrem Leben zu vergleichen, gingen sie all in bei dem Versuch, den Sinn der Texte zu ergründen.
Einmal im Seminar sagte ich: „Hey, ich bin nur ein alter Kerl, der hier mit einem Haufen kluger Leute sitzt, aber ich denke…“. Und sie alle lächelten, einige von ihnen nervös, weil ich für sie im Grunde genommen ein Außerirdischer war: Ein alter Kerl mit tätowierten Armen und mit einem holländischen Schäferhund neben sich, der eine amerikanischen Flagge auf dem Halsband trug. Nach dem Seminar kam Professor Quint auf mich zu und sagte: „Hey, spielen Sie Ihre Intelligenz nicht herunter. Sie sind klug.“
Ich dachte: Ich habe ihn getäuscht! Wie sich später herausstellte, als ich meine erste Arbeit einreichte, hatte ich ihn definitiv nicht getäuscht, aber das ist eine andere Geschichte für ein anderes Mal.
Nach ein paar Unterrichtsstunden begann ich, einige meiner Kommiliton:innen genauer kennen zu lernen. Sie alle sind faszinierende Menschen, die es trotz ihres Alters ziemlich ernst mit ihrer Karriere meinen.
Eine junge Frau hat mich sehr beeindruckt. Eines Tages kam sie nach dem Unterricht auf mich zu und sagte: „Ich bin wirklich froh, mit Ihnen hier in Yale zu sein. Mein Großvater ging nach Yale, und als der zweite Weltkrieg begann, wurde er Pilot und flog über dem Pazifik. Danach kehrte er hierher zurück, aber er schaffte es nicht mehr. Er schloss sich ein, fing an zu trinken und musste das Studium abbrechen. Für mich fühlt es sich so an, als würde ich ihm helfen, hier in Yale fertig zu werden. Und ich darf das mit Ihnen zusammen machen, einem Veteranen.“
Ich war überrascht und gerührt. Außerordentlich gerührt. Sie fuhr fort: „Ich kann Ihnen ein Foto von ihm schicken“, und ich sagte ihr, dass mich das freute. An diesem Abend schickte sie mir dieses Foto von ihrem Großvater:
Ich habe früher Geschichten über Männer wie ihn gelesen. Für mich sind sie Helden. Offensichtlich ist der Großvater dieser Frau auch für sie ein Held. Sie wird ihn ziemlich stolz machen. Mit diesem Weltkriegsveteranen über seine Enkelin verbunden zu sein, ist ein Geschenk für mich. Eines von vielen Geschenken, die mir Yale fast jeden Tag machte.
Diese Jugendlichen arbeiten sich den Arsch ab
Einmal erwähnte ich in einem anderen Seminar ein Buch, das ich vor langer Zeit gelesen hatte: „Taxi Driver Wisdom“ von Risa Mickenberg, Joanne Dugan und Brian Lee Hughes. Danach kamen einige Studierende auf mich zu und erzählten mir, dass ihre Väter als Taxifahrer gearbeitet hatten, nachdem sie in den Vereinigten Staaten angekommen waren.
Denkt einen Augenblick darüber nach. Diese Studierenden sind Amerikaner:innen der ersten Generation. Ihre Väter sind in dieses Land gekommen und haben als Taxifahrer angefangen. Jetzt gehen ihre Kinder nach Yale. Ich bin ein patriotischer Mann und das sind Geschichten, die mir zeigen, dass der American Dream noch immer lebendig ist, trotz allem. Mein Herz hüpft vor Freude, wenn ich diese Jungs und Mädchen sehe.
Lasst mich das mit den „Snowflakes“ ansprechen. Dem Wörterbuch zufolge beschreibt Snowflake jemanden, der glaubt, ganz einzigartig und besonders zu sein, es aber in Wirklichkeit nicht ist. Der Begriff wurde durch den Film „Fight Club“ populär. Durch dieses Zitat: „Du bist nichts Besonderes. Du bist keine schöne und einzigartige Schneeflocke. Du bist die gleiche faulende organische Masse wie alle anderen.“
Ich höre den Begriff gelegentlich von guten Kumpels. Sie fragen mich dann Sachen wie: „Wie läuft’s denn da oben mit den ganzen liberalen Snowflakes?“
Ich kann euch versichern: Ich habe hier niemanden getroffen, auf den diese Beschreibung passt. Keiner dieser jungen Menschen scheint zu denken, dass sie besonderer sind als andere 18- bis 22-Jährige. Diese Jugendlichen arbeiten sich den Arsch ab. Ich habe ein paar von ihnen gebeten, mir beim Schreiben zu helfen. Eine junge Frau hat sich freiwillig bereit erklärt, mir beim Korrekturlesen meiner „Prosa“ zu helfen und, für’s Protokoll, ich glaube, dass sie eines Tages Präsidentin werden wird.
Kürzlich unterhielt ich mich mit einem meiner engeren Kumpels aus der Uni, einem Jungen aus Portland, Oregon. Er sprach über die Schönheit dieses verrückten mathematischen Problems, an dem er gerade arbeitete. In unserer Gruppe gibt es einen jungen Mann, der in Alaska aufgewachsen ist, schon als kleiner Junge auf Fischerbooten arbeitete und Cello spielt. Es gibt eine außergewöhnliche junge Frau aus Chicago, die einen Artikel für die „Yale Daily News“ geschrieben hat. Darin erklärt sie, wie wichtig Protest gerade jetzt sind, angesichts einer Schießerei der Polizei vor Kurzem.
Sie und ich sind extreme Gegensätze. Sie: eine junge schwarze Demonstrantin. Ich: sowas wie das Patriarchat. Sie ist nicht der Typ Mensch, mit dem ich normalerweise rede. Wir kommen aus verschiedenen Welten, und doch lesen wir beide die klassischen Werke – mit wachem Herz und Verstand.
Für mich ist es keine Schande, falsch zu liegen und zu lernen
Kürzlich trafen wir einen prominenten Schriftsteller aus einem Think Tank, der über den Zustand der Geisteswissenschaften forscht. Wir waren zu viert: zwei junge Männer, die junge Frau aus Chicago und ich, der alte Mann. Als die jüngeren Studierenden begannen, ihre Gedanken zu entwickeln, benutzte die junge Frau (wirklich ein Einhorn von einem Menschen) das Wort „safe space“.
Bisher reagierte ich immer, wenn ich dieses Wort hörte, damit, meine Augen in den hinteren Teil meines unbewohnten Schädels zu rollen und aus lauten Hals zu lachen. Dieses Mal stand ich buchstäblich unter Schock.
Mir wurde klar, dass das, was ich unter einem „safe space“ verstand, nicht richtig war. Diese junge Frau, die diesen Ausdruck benutzte, hatte keine Angst. Sie ist voller Lebenskraft, voller Güte und Stärke. Sie braucht niemanden, der ihr ein angenehmes Umfeld bietet. Mit „safe space“ meinte sie, dass sie glücklich war, in einer Umgebung zu sein, in der schwierige Themen offen diskutiert werden können, ohne die Gefahr, respektlos behandelt oder abgeurteilt zu werden.
Was ich damit sagen will: Diese junge Frau fühlte sich offensichtlich in diesem universitären Umfeld wohl. So wohl, dass sie kein Problem damit hatte, mit der aristotelischen Idee zu ringen, dass manche Menschen von Natur aus Sklaven sind.
Die Frage war nur: Wie wohl fühlte sich der 52-jährige weiße Typ in dieser Diskussion, also ich? War mir unbehaglich zu Mute? Oh ja. Und ich bin dankbar für das Unbehagen. Es ist eine gute Sache, über Dinge nachzudenken, die ich nicht verstehe oder die in meinem Leben bisher keine Rolle spielten.
Sich unwohl zu fühlen ist der Schlüssel in dieser Welt. Nicht ganz anders als in der Welt der militärischen Einsätze, wo die Arbeit unabhängig vom Wetter oder der persönlichen Gefühlslage erledigt werden muss. Die meisten Studierenden hier verstehen, dass es einen Ort geben muss, an dem man Ideen offen angreifen und sie energisch und respektvoll diskutieren kann – um den Zustand der Menschheit zu verbessern. Ich nenne das einen „safe space“, und ich bin froh, dass es solche Orte gibt.
Hier bestätigt niemand seine Meinung mit der immer gleichen Quelle. Stattdessen lesen wir einen zeitlosen Text mit schwierigem Inhalt. Diesen Inhalt diskutieren wir dann mit Menschen, die diese Werke und deren Bedeutung zu ihrer Berufung gemacht haben.
Meiner Meinung nach sind die wahren Snowflakes diejenigen Menschen, die sich vor dieser Situation fürchten. Die armen Seelen, die nie die Gelegenheit nutzen, Ideen in einer Gruppe von Menschen zu diskutieren, die ihnen sehr wahrscheinlich respektvoll widersprechen werden. Ich fordere jeden von euch übertriebenen Eiferern da draußen auf, sich mit einer Gruppe von Menschen zusammenzusetzen, die nicht eurer Meinung ist, und ich fordere euch dazu auf, bereit zu sein für eine Meinungsänderung. Ich spreche nicht davon, dass ihr eure tief verwurzelten Überzeugungen auf Twitter oder Facebook postet, um euch die Zustimmung eurer Follower zu holen. Das ist kein „safe space“, dort ist die Verantwortung für die eigenen Worte im Prinzip null und nichtig.
Ich habe meine Meinung hier in Yale ganz sicher geändert. Für mich ist es keine Schande, falsch zu liegen und zu lernen. Eine Schande ist es nur, wenn man vorsätzlich ignorant und respektlos ist.
Die Menschheit braucht nicht noch mehr Konflikte
Am Veteran’s day spielte sich auf dem Campus eine großartige Szene ab. Ein Haufen amerikanischer Flaggen war dort aufgestellt worden. Ich unterbrach meinem Morgenspaziergang zum Unterricht, machte Fotos von meinem Hund vor den Flaggen und schickte sie an meine Freunde. Irgendwann im Laufe des Tages legte eine junge Studentin einen Handschuh mit roter Farbe auf eine der Flaggen, um ihren Unmut über etwas zu zeigen… ich bin mir nicht ganz sicher, worüber.
Am selben Nachmittag schenkten mir einige meiner Kommilitonen nach einer Vorlesung das hier:
Auf dieser Karte dankten sie mir für meinen Dienst an unserer Nation. Ich war gerührt und erstaunt.
Diese fleißigen Jungs und Mädchen sind sehr freundlich und umsichtig. Sie sind ganz anders als sie in den Medien oft dargestellt werden.
Einer meiner Professoren, ein Professor für Philosophie, sagte mir einmal: „Gute Anführer:innen bauen Brücken.“ Professor David Charles ist ein Mann, der kluge junge Menschen in Oxford und Yale unterrichtet hat – und einige langsame und alte wie mich. Seit über 30 Jahren. Er ist bescheiden und freundlich und brillant.
Seine Worte motivieren mich: Ich möchte Brücken bauen. Ich möchte Gespräche führen, in denen wir aufhören, auf die vermeintlichen Unterschiede zwischen uns oder dieser und jener Gruppe hinzuweisen. Ich wünsche mir, dass wir stattdessen Gemeinsamkeiten entdecken. Die Menschheit braucht nicht noch mehr Konflikte. Sie braucht weniger. Ein Schritt dazu ist die Suche nach Gemeinsamkeiten. Ein anderer ist Respekt.
Bevor ihr jetzt denkt, „Oh, jetzt fängt er an zu predigen“, solltet ihr wissen, dass ich früher das genaue Gegenteil war. Ich suchte nach Gründen, um die Meinungen derer, die ich nicht respektierte, zu missachten. Ich strafte Menschen mit Geringschätzung. Besonders wenn es um Fragen der nationalen Sicherheit ging, war mir die Meinung anderer scheißegal. Diese Leute hatten schließlich nie eine Pistole in der Hand gehalten.
Ich betrachte diesen Artikel als meinen ersten Baustein einer Brücke. Es ist eine Brücke zwischen den Menschen hier in Yale und den Menschen, wie ich früher einer war. Uns eint mehr als uns trennt. Danke Yale, dass Sie mir geholfen haben, im Alter von 52 Jahren ein Brückenbauer zu werden.
In unserer Begrüßungsrede zu Beginn dieses Semesters, als wir Neulinge in Woolsey Hall saßen, sagte Präsident Salovey:
„Es gibt so vieles, das wir nicht wissen. Lassen Sie uns gemeinsam bescheiden sein. Und akzeptieren wir, dass wir noch viel zu entdecken haben. Wenn Sie alle Antworten wüssten, würden Sie Yale schließlich nicht brauchen. Und wenn die Menschheit alle Antworten wüsste, bräuchte die Welt Yale nicht.“
Nun zurück zu dieser Brücke. Ich muss herausfinden, wie ich eine solche Brücke bauen kann. Gut, dass ich einen Ort gefunden habe, wo ich Hilfe bekommen kann. Wenn dieser Ort von Snowflakes bevölkert ist, bin ich stolz darauf, eine von ihnen zu sein. Eine Schneeflocke mit violettem Herzen.
Peace.
James Hatch diente mehr als zwei Jahrzehnte in der US-Armee, bevor ihn eine Schussverletzung in den frühzeitigen Ruhestand zwang. Obwohl körperlich gesund, kämpfte er gegen ein Trauma und Depressionen. Heute setzt er sich für psychisch Kranke ein, hält Reden und hat ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben.
Übersetzt von Isolde Ruhdorfer, Redaktion: Isolde Ruhdorfer und Philipp Daum; Schlussredaktion: Belinda Grasnick; Bildredaktion: Martin Gommel.