An einem kühlen Aprilmorgen nahm mir ein kleiner Mann unschätzbaren Alters den Spaß an meinem Lieblingshobby. Ich saß mit zehn Frauen und Männern im Praxisraum eines Yogaretreats in Nepal und blickte auf einen nebelverhangenen See. Ich wollte mich entspannen. Aber der Vortrag, den unser Yogalehrer hielt, ließ das nicht zu. Maheswar Man Shresta sagte: „Viele aus dem Westen kommen und denken, sie wissen, was Yoga ist. Sie zwingen ihre Glieder in Positionen, die ihnen wehtun, weil sie denken, dass es beeindruckend aussieht. Sie bewegen ihre Körper, aber sie bewegen nicht ihren Geist.“ Maheswar lachte gequält: „Das hat gar nichts mit Yoga zu tun.“
Seine Augen blitzten in meine Richtung. Ich fühlte mich ertappt. In den vergangenen Jahren hatte ich im Uni-Sport und ein paar Yogakursen gelernt, wie ich ein paar Atemzüge im Kopfstand stehen und gut gedehnte Oberschenkel antrainieren konnte. Das brachte mich dazu, zu Beginn des Retreats stolz zu verkünden, ich sei fortgeschrittene Yogini.
Jetzt fühlte ich mich ein bisschen schuldig. Gut, „fortgeschritten“ war vielleicht übertrieben.
Die Yogastunde, die folgte, war anders, als ich es aus Berlin kannte. Sie begann mit einer Meditationseinheit. Zuerst sollten wir uns der Geräusche bewusst werden. Rauschendes Wasser in der Ferne. Ein bellender Hund. Atemgeräusche meines Nachbarn. Mein schlagendes Herz. Dann begann die Asana-Praxis, eine Serie aus Kraft- und Dehnübungen. Maheswar erinnerte uns daran, dass es völlig egal war, wie wir bei den Übungen aussahen oder wie weit wir uns dehnten. Es war eine Stunde fernab von Leistungsdruck und Konkurrenzdenken, und mit einer inneren Einkehr, die ich nicht gekannt hatte.
In den nächsten Tagen atmete ich Yoga, in einem immer gleichen Tagesablauf: morgens um 6 Uhr aufstehen, meditieren, singen, Tee trinken, zwei Asana-Klassen täglich, Meditation vor einer Kerze. Maheswar beeindruckte und verschüchterte mich zur gleichen Zeit. Er erklärte uns, dass die physischen Übungen nur dazu dienten, den Körper auf die Meditation vorzubereiten. „Mit einem kaputten Auto“, so sagte er, „kann man sein Ziel nicht erreichen.“ Aber die Übungen seien eben kein Selbstzweck. „So wie viele im Westen Yoga praktizieren, ist es eine Verschwendung.“
So oberflächlich ist Yoga im Westen
Mit einem unentwirrbaren Gefühlsknoten im Bauch flog ich nach Deutschland zurück. Ich war beeindruckt. Verunsichert. Ich hatte das Gefühl, es die ganze Zeit völlig falsch angegangen zu haben. Und war entschlossen, es besser zu machen.
Nach meiner Rückkehr tingelte ich quer durch die Berliner Yogastudio-Landschaft, auf der Suche nach etwas, das an meine Erfahrung in Nepal anknüpfen konnte. Zu Ende der ersten Stunde rief die Lehrerin: „Jetzt noch einmal alles geben, das verbrennt das HÜFTGOLD!“ Verärgert verließ ich das Studio, um nie wieder zurückzukommen. Hier lief doch etwas falsch. Mir fehlte die Meditation. Mir fehlte die Hingabe an die kleinen Bewegungen.
Das andere war das erleuchtete Lifestyleyoga, das ich überall entdeckte: Die Lehrer:innen sprachen, als ließe sich jedes Problem mit einer positiven Einstellung aus dem Weg lächeln. Ich dachte an Maheswars Predigt über die Oberflächlichkeit von Yoga im Westen und fühlte so etwas wie Schuld.
Dann hörte ich die Worte von Susanna Barkataki und mir wurde einiges klar. In dem Podcast „From the Heart“ erzählte Barkataki, eine in den USA lebende Yogalehrerin mit indischen Wurzeln, wie Yoga im Westen ausgeübt werde, losgelöst von seinem Ursprungsgedanken. „Die Praxis dort schließt oft Leute aus“, sagte Barkataki. Und berichtete von ihrer Tante, die in den USA lebt, einen Sari trägt und sich noch immer sehr mit Indien verbunden fühlt. Sie habe sich im amerikanischen Yogastudio völlig fehl am Platz gefühlt.
Das erinnerte mich an die Worte einer Freundin. Sie fand Yoga zwar interessant, aber war nach ein paar Kursen in Berlin davon überzeugt, dass ihr Körper nicht dafür gemacht sei. Nur besonders dünne Frauen könnten ihrer Ansicht nach „gut darin sein.“ Immer, wenn ich durch meinen Instagram-Feed wischte, sah ich weiße, schlanke Frauen, die zu den krassesten Verrenkungen fähig waren. Zur Vorbereitung auf die Meditation braucht man das sicher nicht, dachte ich. Ihr Zweck schien es zu sein, wahlweise veganes Proteinpulver oder figurformende Yogaleggings zu vermarkten.
Kulturelle Aneignung ist Teil eines systemischen Rassismus
Susanna Barkataki gab meinem Unbehagen einen Namen: Wenn kulturelle Praktiken ihrem Ursprung entrissen, durch die weiße Mehrheitsgesellschaft übernommen und zu Geld gemacht werden, sprechen Kulturwissenschaftler:innen von „Cultural Appropriation“, das heißt kultureller Aneignung. Wenn Weiße die Traditionen oder Praktiken von marginalisierten Gruppen, oft mit kolonialgeschichtlicher Vergangenheit, für sich erkennen, werden sie oft erst salonfähig. Es wird stumpf darüber hinweggegangen, dass diese kulturellen Elemente in einer Zeit der Unterdrückung zur Selbstermächtigung genutzt wurden. Die britischen Kolonialherren verachteten Yoga als primitive, heidnische Praxis.
Je tiefer ich mich ins Thema eingrub, desto unsicherer wurde ich. Die Religionswissenschaftlerin Shreena Ghandi schreibt über Yoga: „Kulturelle Aneignung ist zwar nichts Lebensgefährdendes, aber trotzdem gehört sie zum systemischen Rassismus in unserer Gesellschaft.“
Ich testete mich mit meinem neu erlangten Wissen weiter durch die Berliner Hipsterstudios. Ich wurde argwöhnisch. Auf Toiletten hielt ich Ausschau nach Buddhas, die auf dem Boden standen (denn das würde sie nach buddhistischem Verständnis entwürdigen) und achtete peinlich genau darauf, im Shavasana, der Endentspannung, meine Füße nicht in Richtung des Altars zeigen zu lassen, was ebenfalls als respektlos gilt. Ich lauschte genau auf die Botschaften der Lehrenden und wenn ihre anspornenden Worte mir suggerierten, mein Körper sei nicht gut genug, kam ich nicht wieder.
Ich war tief in meiner Yoga-Krise angelangt. Wer war ich denn? Eine bambuszahnbürstenbenutzende Superfoodfanatikerin, die sich Yoga aus dem Katalog verfügbarer Lifestyles ausgesucht hatte und die sich keinen Kopf darüber machte, wessen kulturelle Traditionen sie für sich nutzte.
Ich fragte mich, ob es überhaupt einen Weg geben konnte, als weiße, im Westen lebende Frau bedenkenlos Yoga zu machen. Mein Wunsch, respektvoller den Ursprüngen der Praxis gegenüber zu sein, kam mir platt vor. Einzig dieses buttrige Gefühl, das eine gute Yogaklasse bei mir auslöste, verhinderte, dass ich die Praxis komplett aufgab.
Meine Mitbewohnerin verstand das Problem nicht so richtig: „Was kann falsch daran sein, wenn du etwas gut findest, das in einer anderen Kultur seine Wurzeln hat?“, fragte sie.
Was kann falsch daran sein? Ich versuchte, es ihr zu erklären. Ich hatte von dem Unterschied zwischen kultureller Aneignung und kultureller Anerkennung gelesen. Der Unterschied liegt darin, mit welcher Haltung man etwas betreibt. Ich wollte wertschätzender sein.
Wie Yoga in den Westen kam, hat mich überrascht
Ich abonnierte fünf Podcasts über Yoga, trank kannenweise Tee und las alle Blogartikel, die das Internet hergab. Ich wollte wissen, wie Yoga in den Westen kam.
Am 11. September 1893 trat ein junger hinduistischer Mönch in einer ockerfarbenen Kutte ans Rednerpult der Weltkonferenz der Religionen. Schon seine ersten Worte „Meine Brüder und Schwestern Amerikas“ sorgten für langen Applaus. Swami Vivekananda war ein charismatischer Typ. Und er war ein Missionar, der aus Indien kam, um hinduistische Philosophie und Yogalehren im Westen zu verbreiten. Ihm sollten noch viele folgen.
Zur etwa gleichen Zeit wurde in Skandinavien eine besondere Form der Gymnastik erprobt. Diese Übungen ähneln den Posen des heutigen Hatha-Yoga, dem Ursprungsstil der körperlichen Praxis im Westen. Sie wurden damals zum Training von Soldaten genutzt, verbreiteten sich in Europa und könnten mit den Briten auch in Indien gelandet sein. Sie kamen auch in Maheswars Unterricht vor. So hat sich Yoga unter verschiedenen kulturellen Einflüssen im Laufe der Jahrhunderte auch in Indien stark verändert. Teile des heutigen Hatha-Yogas könnten auch aus Europa kommen.
Es dauerte noch einige Jahrzehnte, bis Yoga wirklich im Westen ankam. Dazu brauchte es noch die Hippiebewegung, die Pilgerreise der Beatles nach Indien, und den Aerobic-Boom der Achtzigerjahre. Aber was mir auffiel: Die Geschichte war komplizierter, als ich angenommen hatte. Missionare aus dem Osten. Skandinavische Gymnastik. Yoga im Westen war nicht einfach das Ergebnis einseitiger immaterieller Ausbeutung, es war eine kulturelle Melange, Produkte eines Hin- und Herwaberns über verschiedene Kontinente.
Eine Videokonferenz mit Kathmandu brachte mir eine wichtige Erkenntnis
Mein nepalesischer Lehrer Maheswar ging mir trotzdem nicht aus dem Kopf. Ich fragte mich, wie sehr jemand über die Entwicklung von Yoga, dass es im Westen so beliebt geworden ist, enttäuscht sein konnte, der selbst sein Geld damit verdient. Schließlich kamen die meisten der Besucher:innen des Yogazentrums aus Europa und Nordamerika. Ich beschloss, noch einmal mit ihm zu sprechen.
Vor unserem Videocall war ich nervös. Maheswar war mir immer ein bisschen unnahbar vorgekommen. Aber dann saß er vor mir in einem kleinen, etwas unaufgeräumten Zimmer in Kathmandu, trug ein T-Shirt und eine Trainingsjacke und lächelte breit in die Kamera.
Ich fragte Maheswar, ob es nicht eine Form der Doppelmoral sei, sein Geld mit Yogatourismus aus dem Westen zu verdienen und gleichzeitig anzuprangern, dass Yoga durch die Popularität verwässert werde. Er ließ mir das nicht durchgehen: „Mir geht es nicht ums Geld“, erklärte er. „Ich sehe es als eine sinnvolle Aufgabe an, die wahre Bedeutung und richtige Lehre von Yoga zu verbreiten.“
Er wolle gar nicht alles daran verurteilen, wie man Yoga im Westen unterrichtet. Er war ja noch nie dort, er sehe nur die Besucher:innen seines Zentrums in Nepal. „Viele sind sehr oberflächlich. Sie wollen nur die anspruchsvollsten Asanas lernen. Dabei sind die Leute im Westen längst viel besser darin als wir, die Posen auszuführen. Das Problem ist, dass bei der rein physischen Praxis zu viel verloren geht. Trotzdem bin ich froh über jede Person, hier oder im Westen, die Yoga-Asana macht.“ Das war viel versöhnlicher, als ich angenommen hatte.
Viele Personen im Westen hätten Yoga verstanden, erzählte Maheswar. Und gestand, was ihn wirklich bedrückte: „Ich mache mir große Sorgen um Yoga in Nepal. Dadurch, dass die Leute sehen, wie anderswo inzwischen Yoga gemacht wird, mit all den schicken Matten und den komplizierten Asanas, verliert die Praxis auch hier immer mehr an Tiefe.“
Wie man das verhindern könnte, wüsste er nicht. Sein Yogazentrum stünde zu sehr günstigen Preisen offen für die Nachbarschaft. Nur komme nie jemand. Aus Faulheit, vermutete er. Ich hatte nicht erwartet, dass Maheswars größte Sorge nicht in der Art und Weise liegt, wie Yoga im Westen praktiziert wird. Typisch, dass sich in meinem Kopf natürlich alles um das Tun von Menschen hier drehte.
Nach dem Gespräch fiel mir ein, dass Maheswar mir in Nepal erzählt hatte, wie er selbst zum Yoga gefunden hatte. Er war ein kränklicher Teenager gewesen. Mit 15 Jahren zwang ihn sein Bruder täglich zum Yoga, um sein Immunsystem zu stärken. Irgendwann gefiel es Maheswar, seine gesundheitlichen Probleme waren verflogen. Für den Yogalehrer, der mich in eine Sinnkrise stürzte, war Yoga am Anfang nicht mehr als Physiotherapie – heute ist es ein nicht wegzudenkender Teil seines Lebens. „Manchmal muss man sehr klein anfangen“, sagte er und gab mir damit ein großes Stück Gelassenheit zurück.
Denn auch das ist Teil von Yoga. Bei sich bleiben. Sich selbst beobachten. Frieden mit der eigenen Unzulänglichkeit schließen. Durch die Beschäftigung mit dem Thema der kulturellen Aneignung hat meine Yogapraxis eine neue Tiefe bekommen. Dafür bin ich Maheswar dankbar. Am Ende ist es eine Frage der Haltung, ob man sich kulturelle Elemente einfach ignorant aneignet oder sie anerkennt mit ihrer verworrenen Geschichte. Denn Kultur gehört niemandem. Sie ist teilbar und hat sich schon immer gewandelt.
Ich gehe heute nur noch in Klassen, in denen die Sanskrit-Namen der Posen genannt und erklärt werden und in denen sich die Lehrenden die Zeit nehmen, die südasiatischen Hintergründe von Yoga nicht unter den Tisch fallen zu lassen. Ich habe Räume gefunden, wo wirklich jede:r willkommen ist. Orte, an denen Yoga nicht als etwas dargestellt wird, das man sich beibringen lässt, sondern das man in sich selbst erfährt. Um die eigene innere Ruhe zu kultivieren und damit sich selbst und auch anderen gegenüber nachsichtiger zu werden. Die Aussicht ist nirgendwo so schön wie in Nepal, aber ich habe Yoga wiedergefunden.
Bei der Recherche geholfen haben mir die Hinweise der KR-Mitglieder Barbara, Ina, Roswitha und Selim. Vielen Dank für eure E-Mails!
Redaktion: Philipp Daum, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel; Audioversion: Iris Hochberger