Wir sehen eine Katze, die in der Nacht auf einem Regenbogen sitzt und gemütlich liest.

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Sinn und Konsum

10 Kinderbücher jenseits von Papa-Mama-Kind

Bücher helfen Kindern dabei, die Welt so zu sehen, wie sie ist. Umso wichtiger ist es, dass sie unsere Gesellschaft so divers wie möglich abbilden.

Profilbild von Pia Saunders

Sommer ist für mich die Lesezeit schlechthin. Früher verschickte meine Schule in der ersten Ferienwoche einen Brief an alle Eltern, in dem stand, welche Bücher wir Kinder bis zum Schulbeginn lesen sollten. Der Vorteil dieser Buch-Listen: Sie nahmen mir die Entscheidung ab, was ich lesen sollte. Die erste hitzige Debatte über Kinderbücher führte ich dann in der 11. Klasse. Mein Deutschlehrer thematisierte erstmals, dass die Sprache in einigen Kinderbüchern angepasst werden müsste – damit der Vater von Pippi Langstrumpf nicht mehr als „N-König“ bezeichnet werde, zum Beispiel. Damals hatte ich dafür kein Verständnis: „Pippi Langstrumpf“ war das wichtigste Buch meiner Kindheit, was gab es daran zu kritisieren? Heute, sieben Jahre später, sehe ich das ein bisschen anders. Ich habe viele Gespräche dazu geführt und Studien dazu gelesen, welche Wirkung Kinderbücher auf das Weltbild von Kindern haben.

Inzwischen wurde erforscht, wie wichtig diverse Kinderbücher sind, um Kindern ein vielfältiges Bild unserer Gesellschaft zu vermitteln. Deshalb möchte ich in diesem Text nicht erneut eine Debatte darüber führen, ob „Pippi Langstrumpf“ oder „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ angemessene Kinderbücher sind.

Stattdessen möchte ich eine Liste an Büchern vorstellen, die es besser machen. Gemeinsam mit unserer Community habe ich Kinderbücher gesammelt, die diverse Lebensrealitäten abbilden. Über 80 Menschen haben an meiner Umfrage teilgenommen und mir ihre Kinderbuch-Tipps geschickt.

Die überwiegende Mehrheit der Titel kannte ich nicht. Also bin ich vor einigen Tagen in meine Lieblingsbuchhandlung in Berlin gefahren. Ich habe in der Kinderbuchabteilung einen großen Stapel der mir empfohlenen Bücher zusammengesucht, mich in der Spieleecke auf den Teppichboden gesetzt und in ein paar Stunden ein gutes Dutzend Kinderbücher gelesen (für mich, die sich für 2020 vorgenommen hat, jeden Monat ein Buch zu lesen und damit kaum hinterherkommt, ein sehr befriedigendes Erlebnis). Basierend auf den Empfehlungen der KR-Community habe ich also ein Ranking von zehn Kinderbüchern erstellt. Ich habe die meistgenannten Bücher gelesen und diese Liste um einige persönliche Empfehlungen erweitert. Ein paar Bücher, die es nicht in die „Top Ten“ geschafft haben, die ich aus verschiedenen Gründen aber trotzdem erwähnenswert finde, findet ihr am Ende dieser Liste.

Platz 10: „Alles Familie“ von Alexandra Maxeiner, ab 5 Jahre

Mehr ein Erklär-Buch als eine Geschichte. „Alles Familie“ deckt gefühlt alle Familienkonstellationen ab, die es in unserer Gesellschaft gibt: Patchworkfamilien, Regenbogen- und Adoptivfamilien, Alleinerziehende… Das Buch erklärt Verwandtschaft in all ihren Facetten und bildet Familien aus vielen Teilen der Welt ab, was das Buch kommentarlos noch diverser macht. Silvia, Lisa, Johanna, Sören, Anne und Jana haben mich auf das Buch aufmerksam gemacht. Johanna schrieb mir, es rege ihre Kinder zu weiteren Fragen an – das kann ich mir gut vorstellen!

Wir sehen das Cover eines Buches, auf dem mehrere Erwachsene und zwei Kinder zu sehen sind.

© Klett Kinderbuch

Darin lag für mich die einzige Kritik an dem Buch: Weil es auf wenig Raum wirklich alles abdeckt, was man zum Thema Familie und Verwandschaft wissen kann, kann es auch erschlagend wirken. Durch Pfeile, Symbole oder Zeichnungen sollen die verschiedenen Beziehungen kindgerecht dargestellt werden. Bei mir erreichten sie manchmal das Gegenteil: Selbstverständliche Sachverhalte waren plötzlich unnötig kompliziert.

Platz 9: „Hilda und der Mitternachtsriese“ von Luke Pearson, ab 8 Jahre

Die Comicfigur Hilda lebt mit ihrer Mutter in einem Tal. Eines Tages fliegen Steine durch ihre Fenster, an die Drohbriefe gebunden sind. Hilda und ihre Mutter sollen das Tal verlassen. Verfasst haben die Briefe ein Feenvolk, deren Bewohner so klein sind, dass man sie gar nicht sehen kann. Es lebt um Hildas Haus herum und fühlt sich von ihrer Präsenz bedroht – immerhin wirken Hilda und ihre Mutter auf sie wie Riesen. Gleichzeitig streift nachts der sogenannte Mitternachtsriese um das Haus, eine gruselige Gestalt, von der Hilda nicht versteht, was sie im Tal verloren hat. Sie sucht das Gespräch mit dem Mitternachtsriesen und dem Feenvolk, um die Konflikte zu lösen.

Wir sehen die Titelseite eines Buches, auf dem ein Kind zu sehen ist, das ein Riese ist. Kleine schwarze Häuser umgeben es.

© Reprodukt

Thomas und Lisa haben mir die Comicbuchreihe um Hilda empfohlen. Ich muss zugeben, dass ich seit meiner Kindheit absolute Comic-Verweigerin bin und mir aus diesem Grund auch das Lesen von „Hilda und der Mitternachtsriese“ schwergefallen ist. Dennoch hat mich beeindruckt, wie Hilda mit ihrer direkten, aber offenen Art versucht, die Vorurteile, die zwischen dem Feenvolk, dem Mitternachtsriesen und ihrer Familie herrschen, abzubauen. So behandelt das Buch auf subtile Art große Themen wie Toleranz, Anderssein und Vorurteile.

Platz 8: „Willi Wiberg“ von Gunilla Bergström, ab 4 Jahre

Wir sehen eine Illustration eines Kindes, das eine langes Tesaband um sich herumgewurschdelt und eine Schere in der Hand hat.

© Oetinger

Ich habe zwar nur einige der vielen Geschichten um den kleinen Willi Wiberg und seinen Papa gelesen, aber das liebevolle Vater-Sohn-Gespann ist mir sofort ans Herz gewachsen. Egal ob Schleifen machen, ins Bett gehen oder pünktlich in den Kindergarten kommen, jede Aufgabe des Alltags wird auf humorvolle Art begleitet und mit kindlichen Zeichnungen illustriert.

Anja, Anne, Klara und Philine haben die Buchreihe von Gunilla Bergström empfohlen. Klara schreibt: „Willi lebt nur mit seinem Papa, einfach, weil das so ist, es wird nicht thematisiert.“ Tatsächlich: Dass Willis Vater alleinerziehend ist oder dass Willi manchmal zu spät für den Kindergarten ist, weil er seine Puppe Lisa noch anziehen muss, wird einfach hingenommen, ohne es zum Thema zu machen. Das ist beeindruckend, gerade weil die Bücher schon in den Siebzigern geschrieben wurden. Ein frühes Beispiel für ein Buch, das toll über veraltete Rollenklischees hinwegsieht.

Platz 7: „Nelly und die Berlinchen“ von Karin Beese, ab 2-6 Jahre

Wir sehen eien Mann mit einem Kleind im Kindersitz auf dem Fahrrad, davor eine Frau und davor ein Kind auf dem Fahrrad.

© HaWandel Verlag

Diese Empfehlung kam von Franziska und Lisa. Die Geschichte um die „Schatzsuche“, die die Freundinnen Nelly, Amina und Hannah füreinander veranstalten, ist zwar nicht wahnsinnig originell, aber das wird unter anderem durch die kreativen Reime, in denen die Geschichte geschrieben ist, wieder wettgemacht. Die „Berlinchen“ sind muslimisch, schwarz und ganz selbstverständlich divers, ohne dass es thematisiert werden muss. Das fand ich besonders toll. Ich muss zugeben, dass mich das Lesen in Reimen ziemlich angestrengt hat, aber ich kann mir vorstellen, dass Kinder daran mehr Spaß haben.

Platz 6: „Ich mag“ von Constanze von Kitzing, ab 3 Jahre

Das Buchcover von „Ich mag“ zeigt vier Kinder, eines auf der Schaukel, eines mit Fußball, eines mit Kochopf und ein anderes mit Farbtopf.

© Carlsen

„Ich mag“ ist ein Bilderbuch für ganz kleine Kinder, in dem Kinder zeigen, was sie alles mögen. Marianne und Hanna haben das Buch empfohlen. Die Kinder, die aus allen Teilen der Welt kommen, mögen Dinge entgegen aller gängigen Rollenklischees, ganz ohne Wertung. Das Buch füllt eine Lücke, denn die meisten diversen Kinderbücher haben Protagonist:innen, eine Handlung und sind an etwas größere Kinder adressiert. Durch die fehlende Handlung ist das Buch für Erwachsene vielleicht langweilig, aber die Ausrichtung für noch sehr kleine Kinder macht „Ich mag“ besonders wichtig, denn so lernen diese früh, dass es auf der ganzen Welt verschiedene Menschen gibt.

Platz 5: „Irgendwie Anders“ von Kathryn Cave, ab 4 Jahre

Wir sehen ein Puppentierchen, das auf einem Sessel sitzt.

© Oetinger

Weil er irgendwie anders ist als die anderen und es einfach nicht schafft, so wie sie zu sein, lebt Irgendwie Anders allein auf einem hohen Berg. Bis eines Tages jemand vor seiner Tür steht, der behauptet, genau wie er zu sein – irgendwie anders! Das Buch ist auch für Erwachsene so gut geschrieben, dass ich wirklich ein bisschen traurig wurde, als ich miterleben musste, wie Irgendwie Anders ausgeschlossen wird. Diversität wird zwar nicht direkt thematisiert, aber dafür die vielleicht noch wichtigere Botschaft, dass es völlig in Ordnung ist, nicht so zu sein wie alle anderen. Auch Monika findet, dass das Buch „wunderschön darstellt, dass es okay ist, anders zu sein.“ Christian erzählt, dass ihm „Irgendwie anders“ am besten geholfen habe, seine Kinder für „eine multiethnische, multireligiöse und multikulturelle Gesellschaft“ zu erziehen.

Platz 4: „Rosa Parks – Little People, Big Dreams“ von Lisbeth Kaiser, ab 5-8 Jahre

Rosa Parks war eine US-amerikanische Bürgerrechtsaktivistin, die in Zeiten der Segregation in Alabama aufwuchs. Als sie sich 1955 weigerte, ihren Sitz im Bus für einen weißen Mann freizumachen, wie es die Gesetze vorsahen, entfachte sie damit den sogenannten Montgomery Bus Boycott, der letztendlich zur Abschaffung der Segregation in öffentlichen Verkehrsmitteln führte. Diese Geschichte und Rosa Parks’ Leben erzählen Lisbeth Kaiser und Marta Antelo mit wunderschönen Illustrationen. Die Buchreihe „Little People, Big Dreams“ bereitet die Lebensgeschichten unterschiedlicher Persönlichkeiten für Kinder anschaulich und verständlich auf.

Wir sehen ein Kind of Color mit Brille, gelocktem Zopf und roten Bäckchen.

© Insel  

Es sind Geschichten von Menschen wie David Bowie, Anne Frank oder Marie Curie, die von klein auf an sich geglaubt und Hindernisse überwunden haben, die ihnen von der Gesellschaft in den Weg gelegt wurden. Beim Blättern durch die Bücher hatte ich Gänsehaut, weil mir wieder einmal klar wurde, wie viel wir als Gesellschaft Menschen zu verdanken haben, die sich für ihre Träume eingesetzt haben. Ein besonderes Beispiel dafür ist die Geschichte von Rosa Parks. Ich bin Daniela sehr dankbar für die Empfehlung dieses Buches, das mich auf eine so wichtige Buchreihe aufmerksam gemacht hat.

Platz 3: „Kalle und Elsa“ von Jenny Westin Verona, ab 3 Jahre

In einem dunklen Wohnzimmer stehen vier Kinder, zwei an einer offenen Tür.

© Bohem Press

In meinen Notizen steht zur Buchreihe um Kalle und Elsa: „was für ein süßes, unaufgeregtes Buch“, und besser kann ich es kaum beschreiben. Die Bücher kommen mit wenig Text aus, denn die Zeichnungen von Jesús Verona sind so schön und farbenfroh, dass ich mir die einfachen Geschichten auch lebhaft selbst vorstellen konnte. Die Freunde Kalle und Elsa gehen zusammen im Garten auf Abenteuerjagd oder bauen am Strand Türme. Die mutige Elsa fürchtet sich nicht, sich alleine im „Dschungel“ zu verstecken, um dem deutlich sensibleren Kalle einen Schreck einzujagen. Dass Kalle schwarz ist und gerne rosafarbene Gummistiefel oder Badehosen trägt, wird völlig selbstverständlich dargestellt. „Kalle und Elsa“ sind einfach schöne Bücher! Das scheinen auch Nico, Franziska und Dani so zu sehen, die mich auf die Reihe aufmerksam gemacht haben.

Platz 2: „Zwei Papas für Tango“ von Edith Schreiber-Wicke und Carola Holland, ab 4 Jahre

Wir sehen einen Pinguin, der zwei Tatzen rechts und links hält.

© Thienemann Esslinger

Beim Lesen von „Zwei Papas für Tango“ musste ich die ganze Zeit lächeln. Es erzählt die Geschichte von Roy und Silo: Die unzertrennlichen männlichen Pinguine wünschen sich sehnlich ein Pinguin-Baby, um dieses gemeinsam großzuziehen. Ihr Wunsch geht in Erfüllung, als eine Pinguin-Mama ihr Ei zurücklässt. Roy und Silo brüten es abwechselnd aus und kurze Zeit später schlüpft Tango aus dem Ei! Die Geschichte überzeugt fast allein durch ihre süßen Protagonisten, dass sie auch noch eine so tolle Botschaft über gleichgeschlechtliche Paare und diverse Familienkonstellationen vermittelt, ist die Kirsche auf der Torte. Empfohlen wurde sie mir von Alex, Samira und Anne – vielen Dank dafür!

Platz 1: „Julian ist eine Meerjungfrau“ von Jessica Love, ab 4 Jahre

Wir sehen ein Kind of Colour, das ein langes, weißes Kleid trägt und sich mit Farn die Haare geschmückt und lang gemacht hat.

© Knesebeck

Dieses grandiose Buch haben mir Henrike, Franziska und Alex empfohlen. Julian, ein kleiner Junge, sieht in der U-Bahn mit seiner Oma drei Frauen, die als Meerjungfrauen verkleidet sind, um auf eine Parade zu gehen. Julian ist begeistert. Kaum zuhause angekommen, verkleidet auch er sich mithilfe eines Vorhangs als Meerjungfrau. Seine Oma ist zuerst verwundert, doch dann gibt sie ihm eine besonders schöne Kette, bevor sie mit ihm auf die Parade geht. „Julian ist eine Meerjungfrau“ ist wunderschön illustriert. Alle dargestellten Personen sind schwarz, kommentarlos. Besonders begeistert haben mich auch die Illustrationen von Jessica Love: mit hellen Pastellfarben gezeichnet und so anschaulich, dass die Geschichte kaum Text braucht und sich so auch für kleinere Kinder schon eignet. Die Geschichte eines Jungen und seines Umfelds, die sich völlig selbstverständlich über Geschlechterklischees hinwegsetzen, fand ich von allen Kinderbüchern am schönsten.

Kinderbücher zu lesen, war definitiv eine der besten Rechercheaufgaben, die ich je hatte. Kinderbücher machen auch mit Mitte 20 noch eine Menge Spaß. Aber eine Sache fiel mir auf: Nur wenige Bücher schaffen es, eine diverse Gesellschaft abzubilden, ohne dies zu thematisieren und haben dabei trotzdem eine originelle, spannende Handlung. Bücher, in denen Diversität en passant stattfindet, sind leider immer noch die Ausnahme. Und: Einige Diversitäten sind viel öfter repräsentiert als andere. In vielen tollen Büchern tauchen gleichgeschlechtliche Eltern oder verschiedene Familienkonstellationen auf. Dafür hatte ich Schwierigkeiten, Bücher zu finden, in denen Erwachsene und Kinder mit Behinderung vorkommen, und habe nur wenige Bücher gelesen, in denen schwarze Menschen die Hauptrolle spielen. Ich hoffe sehr, dass sich das ändern wird.

Held:innen mit Behinderung, Familien und Kinder mit Armuts- oder Fluchterfahrungen, physischen oder psychischen Erkrankungen, vielfältige Geschlechtsidentitäten: Es gibt viele Lebensrealitäten, die in Kinderbüchern noch zu wenig repräsentiert sind. Einige Ausnahmen, die mir empfohlen worden sind, habe ich hier gelistet:

  • „Der Katze ist es ganz egal“ von Franz Orghandl
  • „2 Mamas für Oscar“ von Susanne Scheerer
  • „Alle behindert!“ von Horst Klein
  • „Wunschkind“ von Lilli L’Arronge
  • „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ von Andreas Steinhöfel
  • „Lola Löwenherz“ von Isabel Abedi
  • „Fast vergessene Märchen: Starke Mädchen brauchen keine Retter“ von Isabel Otter und Ana Sender
  • „Alea Aquarius“ von Tanya Stewner
  • „Familie Flickenteppich“ von Stefanie Taschinski
  • „Unsa Haus“ von Ben Böttger

Redaktion: Philipp Daum, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel