Die vergangenen Monate der Corona-Pandemie haben viele von uns verunsichert – mich auch. Irgendwann, zwischen all den Zahlen, Tabellen, Nachrichten und Diskussionen, wusste ich nicht mehr, was richtig oder falsch ist. Ein bestimmtes Gefühl war vorherrschend: Unsicherheit. Mir fiel in dieser Zeit ein Buch ein, geschrieben hat es die Philosophin Natalie Knapp. Ich habe sie vor vielen Jahren schon einmal getroffen für eine Recherche; ihre positive Art war mir im Gedächtnis geblieben, auch ihre Zuversicht. In dem erwähnten Buch, das mir nun wieder einfiel, geht es um einen Perspektivwechsel: „Der unendliche Augenblick – warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind“, heißt es.
Jetzt habe ich Natalie Knapp erneut zu einem Gespräch getroffen. Wir treffen uns via Skype.
Frau Knapp, Sie finden, Unsicherheit ist eine tolle Sache. Ich muss ehrlich sagen: Ich bin da vollkommen anderer Meinung. Ich hasse das Gefühl von Unsicherheit.
Das ist ein Missverständnis. Ich finde auch nicht, dass sich Unsicherheit toll anfühlt. Es gibt Zeiten im Leben, die Routinezeiten sind: Wir stehen morgens auf und wissen, wie alles läuft, auf die nächsten Jahre hin. Wir richten uns ein in den Dingen, wie sie eben sind, auch wenn das nicht notwendigerweise gut ist. Auf der anderen Seite gibt es Zeiten der Unsicherheit, die uns die Möglichkeit geben, Erfahrungen zu machen, die wir in Routinezeiten nie erleben könnten.
Unsicherheit schafft also eine Freiheit, die wir sonst nicht haben?
Die Unsicherheit schafft einen Leerraum. Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Da ist dieses Gefühl: „Du kennst dich hier nicht aus. Den Weg, den du gehen wirst, gibt es noch nicht, den musst du erst finden.“ Deswegen steht man in Phasen der Unsicherheit unter erhöhter Aufmerksamkeit und unter Stress. Das ist ein Kontrollverlust, der sich für viele Menschen sehr unangenehm anfühlt.
Genau, deswegen hasse ich dieses Gefühl so.
Verständlich. Aber gleichzeitig gilt für diese Phasen auch: Man hat jetzt die Möglichkeit, sich einen Weg zu bahnen, der einem irgendwann besser gefällt. Unsicherheit ist das Urgefühl in jedem kreativen Prozess. Das Leben mutet uns diese Phasen zu. Ich halte das grundsätzlich für eine gute Sache. Denn die Zukunft steht nie fest. Die Unsicherheit erinnert uns daran.
Wenn die Unsicherheit so toll ist, warum tun wir dann so, als sei das Leben sicher? Wir heiraten, ein Vertrag zweier Menschen bis zum Tod, wir schließen Versicherungen ab, zahlen in die Rentenkasse ein, wir wollen unbefristete Miet- und Arbeitsverträge. Das sind alles Vorkehrungen gegen die Unsicherheit.
Die Auffassung eines planbaren Lebens ist eine sehr moderne Idee – im 17. Jahrhundert hatte die kein Mensch! Niemand glaubte, über 20 Jahre hinweg etwas planen zu müssen oder auch zu können, weil man noch nicht einmal sagen konnte, ob man 30 oder 40 Jahre alt wird oder nur 20. Grundsätzlich haben die Menschen damals genauso Sicherheit gebraucht, aber das erstreckte sich über einen kürzeren Zeitraum.
Warum streben wir nach Sicherheit?
Weil sie ein menschliches Grundbedürfnis ist, genauso wie Schutz, Nahrung, Kleidung, Kontakt zu anderen Menschen. Diese Bedürfnisse müssen irgendwie gedeckt sein, sonst geht es nur noch ums Überleben, und dann geht es nicht mehr um Unsicherheit, sondern um Angst. Das ist ein wichtiger Unterschied, denn Angst kann nicht in einen kreativen Prozess münden.
Was wäre besser in unserem Leben, wenn wir lernen würden, anders mit Unsicherheit umzugehen?
Es geht erst einmal darum, mit solchen Situationen Erfahrungen zu machen. Dann weiß man in der nächsten unsicheren Lebensphase, dass man die Unsicherheit bewältigen kann. Es gibt Menschen, die mehrmals im Leben das Wagnis einer eigenen Firmengründung eingehen, die scheitern – und sich dann wieder dieser unsicheren Situation hingeben. Wenn man lernt, dieses Gefühl auszuhalten, kann daraus etwas entstehen.
Kann das jede und jeder?
Menschen haben unterschiedliche psychologische Dispositionen. Manche fühlen einen unglaublichen Freiheitsdrang, andere ein starkes Sicherheitsbedürfnis. Es geht um diesen Wertekonflikt, denn beides in gleichem Maße können wir nicht haben. Man entscheidet sich für die eine oder andere Seite, und das ist auch gut so. Die entscheidende Frage ist: Wenn wir einmal keine Wahl haben, weil uns das Leben vor eine unsichere Situation stellt – wie können wir dann damit umgehen, ohne psychisch destabilisiert zu werden?
Und wie machen wir das?
Es ist schon viel geholfen, wenn wir Unsicherheit anders bewerten. Sprache hat eine ungeheure Macht. Wenn ich mir klar mache, dass Unsicherheit bedeutet, dass ich nicht weiß, wie etwas geht, weil gerade etwas Neues und nicht etwa etwas Schreckliches passiert, dann ist das schonmal hilfreich. Es schafft Abstand und hilft mir bei einer anderen Bewertung der Situation. Ich bin absolut überzeugt davon, dass die nächsten 20 Jahre für Menschen mit einer hohen Unsicherheitstoleranz leichter zu bewältigen sein werden.
Wieso?
Weil die Unsicherheit, in der wir alle momentan leben, nicht weniger wird. Die Corona-Krise ist dabei noch nicht mal die größte Krise, die wir erleben – wir stecken mitten in einem Epochenumbruch.
Das müssen Sie erklären.
Auch schon vor Corona bestand ein ungeheures Maß an Ungewissheit: Durch den Klimawandel und die Digitalisierung. Aus beidem können Umbrüche entstehen, die eigentlich unvorstellbar sind. Die meisten Menschen haben noch gar nicht verstanden, welche gesellschaftliche Veränderung die Digitalisierung darstellt. Aber in den Unternehmen ist das mittlerweile angekommen. Sie müssen jetzt Entscheidungen treffen, ohne zu wissen, auf welche Energieformen sie etwa in 20 Jahren zugreifen können, sie wissen auch nicht, wer ihre Mitbewerber sein werden oder welche Produkte überhaupt noch political correct sein werden.
Ich finde diese Situation, den Zustand der Welt insgesamt, ziemlich bedrückend. Dennoch schreiben Sie in Ihrem Buch: „Es ist vernünftig, Hoffnung zu haben.“ Aber ist es angesichts dessen, wie die Welt momentan aussieht, nicht sehr naiv, Hoffnung zu haben?
Viele Menschen glauben, Hoffnung bedeute die Gewissheit, dass die Sache am Ende gut ausgehen wird. Das ist für mich aber Optimismus – und ich bin überhaupt keine Optimistin. Für mich bedeutet Hoffnung, in einer unsicheren Situation eine Vision davon zu haben, wie man sich eine Zukunft wünscht. Und jetzt Impulse zu setzen, die diese Zukunft ermöglichen. Am Ende kann es dann gut oder schlecht ausgehen, aber ich weiß, dass das, wofür ich gekämpft habe, einen Sinn hat.
Das verstehe ich. Aber was daran ist vernünftig?
Es gibt tatsächlich eine rationale Begründung dafür, dass es sinnvoll ist, Hoffnung zu haben. Der Risikoforscher Ortwin Renn hat einmal gesagt: „Es gibt vermutlich eine Million extrem seltener Ereignisse mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million, das heißt, dass jedes Jahr mindestens eines davon eintritt.“ Ganz nüchtern betrachtet werden also ebenso viele unangenehme Ereignisse eintreffen wie solche, die uns Türen öffnen. Also, allein dass die Zukunft offen ist, ermöglicht mir, sie mitzugestalten. Nur weil das Leben unsicher ist, geht das.
Was hat Ihnen in den letzten Monaten Hoffnung gegeben? Sie arbeiten ja auch selbstständig als Philosophin, Sie leiten Seminare, treten als Rednerin auf. Das dürfte schwierig gewesen sein.
Ja, ich verdiene mein Geld hauptsächlich damit, Vorträge zu geben, etwa in Unternehmen. Normalerweise bin ich ein bis zwei Jahre im Voraus ausgebucht. Aber seit März bin ich quasi arbeitslos. Man muss dazu sagen: Mein Mann hat ein regelmäßiges Einkommen und ich selbst habe immer mit geringen Fixkosten gelebt; ich brauche nicht viel und kann mich in solchen Situationen ganz schnell runterfahren. Beides hilft. Meine Hoffnung hat sich während der Krise gar nicht aus der Zukunft gespeist, sondern aus der Gegenwart. Ich habe mich in dem Moment radikal auf das konzentriert, was gerade passiert. Weil das Leben etwas mit mir machte, was ich mir selbst nicht hätte ausdenken können.
Was haben Sie gefühlt?
In dem Moment, als die Welt plötzlich angehalten hat, habe ich erstmal die Stille wahrgenommen. Ich dachte: Auf diese Stille habe ich mein Leben lang gewartet. Das war für mich eine ungeheure Erfahrung. Ich wusste: In Krisenzeiten plane ich nicht die Zukunft. In Krisenzeiten mache ich Erfahrungen, die zu Keimzellen werden können für das, was ich in der Zukunft will.
Sich der Unsicherheit hinzugeben geht aber nur, wenn einen die Angst nicht auffrisst. Was mache ich, wenn die Angst einsetzt?
Angst ist nicht kreativ, nicht produktiv, nicht positiv. Sie ermöglicht nur drei Reaktionen: Man kann angreifen, weglaufen, oder sich totstellen. Wenn man Angst hat, muss man erst einmal in die Unsicherheit zurückfinden.
Wie machen Sie das?
Indem ich mich mit Menschen austausche, die mir Sicherheit geben, egal, was passiert. Ich habe außerdem eine Meditationsroutine entwickelt, mit deren Hilfe ich meinen Kopf ganz leer mache. Solch eine Routine, egal ob Sport, Waldspaziergang oder Meditation, muss man in sicheren Zeiten einüben, um dann ein Werkzeug in der Hand zu haben, wenn die Angst kommt. Ich nenne solche Strategien unser „geistiges Immunsystem“.
Brauchen wir als Gesellschaft nicht auch ein kollektives geistiges Immunsystem?
Absolut. Wie wir durch die jetzige Krise kommen, hängt sehr stark von der Frage ab, welche Form wir dafür finden. Aber wie genau ein kollektives geistiges Immunsystem aussehen könnte, weiß ich auch noch nicht. Das ist eine komplexe Sache. Es hängt auch mit einem verlorenen Vertrauen in die Institutionen zusammen. Und wie es bei vielen Menschen dazu kam, darüber denke ich noch nach. Ich habe noch keine Antwort darauf.
Vielleicht brauchen wir eine neue Art des Denkens, die besser an Unsicherheiten angepasst ist?
Ich versuche, immer wieder neu zu denken. Mein eigener Leitsatz lautet: „Glaub nicht alles, was du denkst!“ Ich versuche, mir klarzumachen, dass die Art und Weise, wie ich die Welt erlebe, sehr stark davon abhängt, wie ich sie betrachte. Allein das zu wissen – also, dass die Situation, wie ich sie gerade erlebe, nicht alles ist – finde ich hilfreich. Diese Sichtweise ist eine Lebensaufgabe – und auch die unserer Zeit.
Redaktion: Philipp Daum, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel