Kristina Marlens Beruf zu beschreiben, ist nicht leicht, weil sie etwas tut, von dem viele Menschen nicht mal wissen, dass es das gibt: Sie ist Sexarbeiterin und Physiotherapeutin, vor allem aber ist sie eine Expertin für Berührungen. Ihre Klient:innen berührt sie mit ihren Händen und ihrem ganzen Körper, dabei nutzt sie scheinbar widersprüchliche Methoden wie Bondage, BDSM und Tantra. Sie sagt, dass viele Menschen sehr hungrig nach Berührung sind – unsere Kultur aber wenig Platz dafür hat.
Neulich hast du diesen Satz geschrieben: „Ich brauche Gewicht auf meinem Körper, ich habe das Gefühl, dass er sonst platzt.“ Die Kontaktbeschränkungen der letzten Monate müssen ja furchtbar für dich gewesen sein.
Ja, und das ist immer noch so. Es geht nicht nur um meinen Job, Berührung ist mein Lebensthema, mein ganzes privates und berufliches Leben ist darum organisiert. Diese Zeit ist also eine Herausforderung – um es milde auszudrücken. Meine Praxis wurde komplett lahmgelegt. Ich habe zwar Online-Angebote organisiert, die erstaunlich gut funktionieren, aber die können die echten Körperkontakte nicht ersetzen.
Berührung ist existentiell für mich. Ich würde es geradezu einen
Berührungshunger nennen, und ich hatte in meinem Leben oft das Gefühl, immer mehr zu brauchen, dieser Hunger, mich zu spüren, war groß. Ich habe Extreme geliebt, mehr Sport, mehr Sex, mehr Reiz. Aber dieses Bedürfnis nach „mehr, mehr mehr“ konnte ich dann immer mehr in die Qualität von „tiefer“ umwandeln. Das ist eine Praxis der Sensibilisierung. Ich kann Intensität auch steigern, indem ich die Empfindungsfähigkeit erhöhe und nicht unbedingt den Reiz. Das macht auf die Dauer viel satter.
Ich glaube eigentlich, dass die meisten Leute so verhungert sind. Ich finde es wirklich krass, dass seit Beginn der Pandemie kaum die Rede davon war, was es eigentlich mit uns macht, wenn unsere Kontaktmöglichkeiten eingeschränkt werden und damit auch die Berührungsmöglichkeiten.
Ich hatte neulich einen Moment, in dem ich gesehen habe, wie mächtig Berührungen sein können: Alles fühlte sich furchtbar und hoffnungslos an, überall war Krise. Dann nahm mich meine Schwester in den Arm. Nach ein paar Minuten war ich entspannt und friedlich und die Welt war wieder okay. Wie kann eine Umarmung eine solche Kraft haben?
Da muss ich kurz ausholen und über das Nervensystem reden, ich bin ja auch Physiotherapeutin. Was du beschreibst, hängt mit unserer Entwicklungsgeschichte zusammen und stammt aus einer Zeit, in der wir noch nicht auf Stühlen in Wohnungen saßen, sondern in der Natur unterwegs waren und gesammelt haben oder vor unseren natürlichen Feinden weggerannt sind.
Es gibt, was das Nervensystem betrifft, zwei unterschiedliche Modi, in denen sich der Mensch befinden kann. Da ist einmal Erregung: Der Mensch ist auf der Flucht, auf der Suche nach Nahrung, er kämpft und verteidigt sich, befriedigt ein Bedürfnis. Es gibt also eine Aktivierung, dafür sorgt der Sympathikus, das ist ein Bereich des vegetativen Nervensystems. Der Parasympathikus ist gewissermaßen der Gegenspieler in diesem System und hat mit Beruhigung, Verdauung und Erholung zu tun. Da haben wir in der Horde herumgelegen und gedöst, so stelle ich mir das vor. (lacht)
Wenn also der Stresspegel zu hoch ist, kann eine Berührung wie die deiner Schwester helfen, wieder zurück zum Entspannungsmodus und zur Beruhigung zu finden. Der Parasympatikus wird aktiviert. Das fängt ja schon bei Säuglingen an. Heutzutage ist es eine Binsenweisheit, dass ein Kind, das schreit, nicht nur etwas zu essen braucht, es muss auch in den Arm genommen werden. Berührung ist wie Nahrung, ohne sie verenden Menschen, besonders kleine Menschen.
Aber auch große Menschen. Deswegen nehmen wir uns ja instinktiv in den Arm, wenn es uns schlecht geht.
Wir sind nunmal Bindungswesen. Wir sind nicht dafür gemacht, allein in vier Wänden zu sitzen und auf Bildschirme zu gucken. Das kann man wirklich so sagen: Das ist keine artgerechte Haltung.
Das heißt, dass wir jetzt alle gerade in der Corona-Krise ziemlich lange in nicht artgerechter Haltung waren – und vielleicht auch wieder sein werden.
Es kommt mir schon ewig vor. Und selbst, wenn diese Krise vorbeigeht, ist es ja nicht so, dass es dann auf einmal „puff“ macht und wieder alles so ist wie früher. Dabei ist unsere Berührungskultur ohnehin viel zu arm. Ich kann nicht fassen, wie wenig Berührung wertgeschätzt wird. Eine Hand auf dem Brustbein kann Welten öffnen. Menschen fangen an zu weinen, nur weil man sie mit voller Präsenz berührt. Berührung ist ja nur eine andere Form des Gesehenwerdens, der Körper wird gesehen. Meine Hand fühlt den Körper und mein Körper fühlt die Hand und dadurch entsteht ein Dialog. Der Körper kann sich von allein nicht so spüren.
Wahrscheinlich denken die meisten von uns nicht viel über Berührungen nach. Ich tue es jedenfalls nicht.
Dabei hast du gerade selbst beschrieben, dass Berührungen sogar dein Denken beeinflussen. Du heulst, jemand nimmt dich in den Arm und es gibt eine totale Veränderung im System. Die neurophysiologischen Prozesse beeinflussen ja auch unser inhaltliches Denken. Wenn ich gestresst bin, denke ich natürlich ganz andere Sachen, als wenn ich gerade tiefenentspannt aus einer Massage schwebe. Wenn ich dagegen im Stress durch den öffentliche Raum hetze, die Menschen drängeln, vielleicht tritt mich noch einer, denke ich, es ist alles scheiße und wir müssen uns alle radikalisieren und mehr Widerstand leisten.
Wenn man Single ist, sind die Kontaktbeschränkungen, die ja weiter bestehen und auch wiederkommen können, wirklich hart. Natürlich ist es auch hart für diejenigen, die in Beziehungen und auf engem Raum leben müssen, wo keine nährende Berührung mehr stattfinden kann.
Was ist denn eine „nährende Berührung“?
Ich erkläre es mal umgekehrt: Eine nicht-nährende Berührung ist eine, die etwas von mir will. Die nicht danach fragt, ob ich sie haben möchte. Davon gibt es ja ganz viele, typisch sind diese Tätschelberührungen, aber auch ungewollte Küsse von Tanten oder Onkeln. Alle Formen von sexuellen Übergriffen zählen sowieso dazu. Es sind also Berührungen, die etwas von mir wollen, anstatt mir etwas zu geben. Unangenehm können aber auch beiläufige Berührungen von Menschen sein, die nicht präsent sind oder nicht im Kontakt mit sich. Meine Katze zum Beispiel kratzt mich manchmal, wenn ich sie beiläufig kraule, weil ich nicht wirklich bei ihr bin.
Katzen sind ja sehr gut darin, Grenzen zu setzen.
Ja, das findet sie dann überhaupt nicht witzig. Wenn Berührung Nahrung ist, dann ist eine Berührung ohne Präsenz wie schlechte oder manchmal sogar wie vergiftete Nahrung. Kinder zum Beispiel spüren, wenn die Bezugsperson körperlich zwar da ist, aber mit etwas völlig anderem beschäftigt. Das ist nicht nährend, weil der Berührung etwas fehlt … Ich kann es nur als Im-Kontakt-sein bezeichnen, also auch im Kontakt mit sich selbst. In meinen Workshops sage ich sehr oft, dass man in sich Zuhause sein muss, um Berührung zu empfangen oder zu geben.
Ich habe die vielleicht nicht besonders wilde Theorie, dass in unserer Kultur Sex manchmal die einzige Möglichkeit ist, berührt zu werden. Manche Leute wollen nur mal umarmt werden, und dann gehen sie halt auf Tinder.
Ja, sicher ist das so. Ich staune immer wieder darüber, wie arm unsere Berührungskultur ist. Die Leute weinen in meinen Sessions oft schon bei ganz kleinen Gesten, wenn ich eine Hand auf ihre Wange lege. Das ist eine Form von Intimität, auch in kleinen Gesten, nach der viele sehr hungrig sind. Ich rede nicht davon, dass dir jemand in der Küche die Wange tätschelt und sagt, ich gehe mal einkaufen. Der Raum für echte Intimität muss da sein, nur dann können diese Gefühle frei werden.
Ich würde nicht einfach mal so jemand in den Arm nehmen, den ich nicht gut kenne. Bei dir besteht dein ganzer Job daraus. Woher weißt du, welche Berührung erwünscht ist?
Das ist das, was ich mit dem Raum meine. Eine Berührung findet ja nie ohne Kontext statt. In der U-Bahn würde ich natürlich auch niemanden so anfassen wie in meinem Sessionraum. Es braucht erstmal Konsens, das ist klar. Und wie der gestaltet ist, hängt von dem Raum ab. Eine U-Bahn ist ein anderer öffentlicher Raum als ein, sagen wir mal, Ballroom-Tanzsaal oder wiederum eine Sexparty. In allen gelten andere Gesetze, wie selbstverständlich oder erwünscht Berührung ist. Und darüber hinaus gibt es dann verschiedene Verhandlungskulturen.
Die Frage „Wie viel Berührung wollen wir eigentlich voneinander?“, ist also überhaupt nicht allgemein beantwortbar. Sie muss immer wieder neu ausgehandelt werden. Ich finde das angemessen. Selbst in einer Beziehung, wo man sich so ziemlich überall anfasst, sollte das nicht selbstverständlich sein. Denn es kann sein, dass es an einem Tag mal nicht passt oder man eine andere Berührung will als sonst. Ich glaube, es lohnt sich, immer wieder neu zu fragen: Welche Berührungen wollen wir gerade?
Gerade in Beziehungen verliert man ja manchmal die Achtung vor der Berührung, wenn man den Körper der anderen Person selbstverständlich nimmt. Wie ein Stofftier, das man knuddelt.
Das weist hin auf ein Problem, das in Langzeitbeziehungen bestehen kann. Nämlich, dass irgendwann die Lust auf Sex gar nicht so leicht wiederzufinden ist. Das hat nicht unbedingt mit zu viel Nähe zu tun, sondern eher mit Gewöhnung. Niemand ist dafür verantwortlich, dass er oder sie für mich interessant ist. Ich kann aber Räume schaffen, in denen ich das Interesse wiederfinde. Räume, die beiden Partnern erlauben, aus einem Alltagszustand rauszugehen. Wenn wir ins Kino oder ins Theater gehen, ziehen wir uns ja auch vorher schön an und bereiten uns auf diesen Zeitpunkt vor, weil wir wissen: Da passiert noch etwas.
Bei Sex oder Berührungen denken wir häufig, dass sich das irgendwo so ergibt, weil wir das für natürlich halten. Eigentlich ist es viel sinnvoller zu sagen: Heute schaffen wir einen Raum dafür, dass die Körperlichkeit den Platz einnehmen kann, der ihr gebührt. Das muss ja nicht mal ein riesiges ausgefallenes Ding sein mit irgendwelchen Klischees, die Plüschhandschellen rauslegen, die Dessous anziehen und ein Dinner kochen. Das ist natürlich auch okay, aber ich meine ein anderes Bewusstsein für die Situation: Jetzt sind wir zusammen.
Deshalb ist Tantra auch so eingeschlagen bei Paaren, weil es einen rituellen Raum schafft, in dem es einen Aha-Moment gibt: Jetzt sehe ich dich. Nicht als Vater meiner Kinder oder als die Frau, die nie die Küche aufräumt, sondern als die Person, mit der ich auf einer Körperwelle surfen kann.
Ich würde gerne kurz in Klischees reden.
Okay.
Du hast von einer verarmten Berührungskultur gesprochen. Ist die bei Männern weniger entwickelt als bei Frauen?
Hm, jein. Männer haben eine ausgeprägtere Masturbationskultur. Ich habe in meinem Sessionraum zum Beispiel Frauen oder Menschen mit Vulva sitzen, die sich selbst nicht oder nur ungern berühren. Manche haben es noch nie getan.
Warum sagst du „Menschen mit Vulva “ statt einfach „Frauen“?
Weil Frau sein eine erworbene soziale Kategorie ist, die kann unabhängig von den primären Geschlechtsmerkmalen sein. Es gibt außerdem Personen, deren Geschlecht bei der Geburt als weiblich definiert wurde, die sich selbst aber nicht so bezeichnen.
Menschen mit Penis haben meistens früh angefangen, sich zu berühren, und sich auch Orgasmen verschafft. Andererseits umarmen Männer sich vielleicht nicht so selbstverständlich und kuscheln oft auch weniger untereinander.
Könnte man verallgemeinern, dass Männer sich eher selbst berühren und Frauen einander?
Ja. Vielleicht. Ich habe dazu keine wissenschaftlichen Studien. Ich tue mich ohnehin schwer, von „Männern“ und „Frauen“ zu reden, weil es immer die Frage ist: Reden wir von Anatomie? Von Hormonen? Von Sozialisation und Erziehung? Allgemein kann man aber schon sagen: Die alltägliche Körperlichkeit von Männern unterliegt dem Stigma der Homophobie. Männer, die kuscheln, laufen Gefahr, als unmännlich zu gelten, vor allem untereinander.
Kann man Fühlen eigentlich verlernen? Es gibt Zeiten, in denen ich definitiv mehr spüre als in anderen, wenn ich zum Beispiel schon länger nichts mehr mit meinem Körper zu tun hatte, weil ich tagelang nur vor dem Computer saß.
Ja, das ist auch so. Wir laufen ja meistens als Köpfe auf Körpern rum, die nur dafür da sind, uns irgendwo hinzubewegen. Vielleicht optimieren wir diese Körper noch mit Sport, weil wir wissen, dass das dazugehört, aber der wirkliche Fühl-Körper hat selten Raum. Alles, was wir tun, ist eine Praxis. Was wir nicht benutzen, verkümmert auch.
Ich begegne in meiner Arbeit oft der Aussage: „Ich spüre nichts“, oder: „Ich fühle hier nichts.“ Taubheit ist ein großes Thema. Ich bezeichne immer die eigene Aufmerksamkeit für sich selbst als Taschenlampe im System. Und die Stellen, wo ich, aus welchen Gründen auch immer, nie hingucke, sind natürlich dunkel und verstaubt. Manchmal ist es, als würde man in einen Keller gehen und es dauert, bis da ein bisschen Licht ist und man sich zurechtfindet.
Entschuldigung, aber ich kann mir das nicht richtig vorstellen.
In der Sexarbeit zum Beispiel wäre ein konkretes Beispiel die Vulva-Massage. Wobei auch andere Körperteile häufig keine Aufmerksamkeit bekommen, Bäuche oder Brüste zum Beispiel sind solche Tabuzonen.
Wenn also eine Person mit Vulva sich selber nie angefasst hat oder nie so, dass sie wirklich fühlen und spüren konnte, dann ist das wie ein unkartierter Bereich, in dem sie sich nicht zurechtfindet. Deshalb machen solche Dinge wie Vulvamassage und achtsame Berührungskultur so viel Sinn. Da geht es nicht unbedingt um etwas Spirituelles, von wegen „entdecke dein heiliges Tor zum Universum“, sondern einfach um etwas, das neurophysiologisch sinnvoll ist. Es ist total sinnvoll, sich berühren zu lassen, weil wir dabei jedes Mal etwas über uns lernen und das integrieren: Wir lernen, indem wir begreifen und wir lernen, wer wir sind, indem wir berührt und begriffen werden.
Wie können wir denn ohne Berührungen klar kommen? Die Kontaktbeschränkungen werden ja immer mehr gelockert, aber vielleicht kommen sie wieder, wenn es eine zweite Welle gibt.
Ich habe darauf keine Antwort. Ich finde es gut anzuerkennen, dass nicht alle Dinge ersetzbar sind und wir nicht alles alleine machen können. Ja, Menschen können ganz viel mit sich allein anfangen und das sollen sie auch. Aber Kontakt ist deshalb nicht überflüssig. Solo-Sex ist zum Beispiel eine tolle Sache, aber mir persönlich liegt es fern zu glauben, dass das ein Ersatz wäre für Sex, den ich mit einer anderen Person habe. Ich finde es toll, dass ich in der Lage bin, befriedigende Zeit mit mir selbst zu verbringen, weil das die Voraussetzung dafür ist, dass ich befriedigende Zeit mit anderen Menschen verbringen kann. Aber ich käme nicht auf die Idee, dass ich deshalb für immer allein sein will.
Redaktion: Philipp Daum, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel