Als ich Emily Nagoskis Buch „Komm, wie du willst“ gelesen habe, gab es einen Moment, in dem ich kurz die Luft anhalten musste. Denn Nagoski schreibt darin etwas, das mir eigentlich längst hätte klar sein müssen. Mit Sex, erklärt sie, ist es wie mit sehr vielen Dingen auf dieser Welt: Männer haben geprägt, was wir normal und richtig finden. Sex ist für uns also das, was es für einen großen Teil der Männer ist: Verlangen, das einfach so spontan entsteht. Mit Orgasmus am Ende.
Ich bin eine Frau, ich habe Sex mit Männern, ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der Gleichberechtigung noch nicht Realität ist. Trotzdem kam die Erkenntnis fast als Schock, dass das, was meine Partner unter gutem Sex verstehen, für mich nicht die bestmögliche Variante ist. Auf einmal fielen mir viele Situationen ein, in denen mir das eigentlich hätte klar werden können: All die Male, bei denen ich keine Antwort auf die Frage wusste, was mir eigentlich im Bett gefällt – weil ich nie darüber nachgedacht hatte. Das Ziel von Sex war immer ganz automatisch der Höhepunkt meines Partners gewesen. All die Male, die ich mit Freundinnen gerätselt habe, warum sie scheinbar so viel seltener Lust auf Sex haben als ihre Partner.
Die gängige Einstellung zu weiblicher Sexualität ist, schreibt Nagoski, dass sie mehr oder weniger eine Light-Version der männlichen Sexualität sei. Nur eben nicht ganz so gut. Komplizierter. Anstrengender. Die amerikanische Sexualwissenschaftlerin und Feministin erklärt auch, warum das nicht stimmt. Nämlich weil die durchschnittliche Frau in vielen Aspekten sexuell anders funktioniert als der durchschnittliche Mann.
Jahrelang hat Emily Nagoski darüber einen Blog geschrieben und dann „Komm, wie du willst“ (im Englischen deutlich eleganter „Come as you are“) veröffentlicht.
Sie will Frauen mit dem Buch zu einer besseren Sexualität verhelfen – aber was Nagoski schreibt, bezieht sich nur selten allein auf Frauen. Die wichtigste Aussage von „Komm, wie du bist“: Wir sind alle unterschiedlich – und damit auch alle normal.
Nagoskis Schreibweise, den Selbsthilfe-Tonfall und auch, dass wissenschaftliche Zusammenhänge oft stark verkürzt sind, muss man mögen (oder zumindest akzeptieren können). Ich hatte beim Lesen aber mehr als einen Aha-Moment – und auch die Frauen in meinem Umfeld. Eine hat ihrem Partner begeistert ihre Klitoris gezeigt, nachdem sie sie gefunden hatte. Eine andere ist auf einmal sehr still geworden, als ich erzählt habe, dass es auch so etwas wie responsives Verlangen gibt. Hier sind die acht wichtigsten Erkenntnisse, die mir das Buch gebracht hat (die Sache mit dem responsiven Verlangen steht unter Punkt sechs):
1. Das Problem ist nicht unsere Sexualität – sondern unsere Einstellung zu ihr
Es ist in dieser Welt nicht gerade leicht, guten Sex zu haben. Wir leben in einer sexnegativen Gesellschaft, schreibt Nagoski, denn Sexualität ist immer noch mit Scham und Stigma besetzt. Gerade bei Frauen säßen ansozialisierte Denkmuster tief, wie: „Wer mit vielen Menschen Sex hat, ist eine Schlampe“, oder: „Wer nur Sex in der Missionarsstellung hat, ist prüde.“ „Sie sind normal“, spricht Nagoski die Leser:innen an, „aber die Welt um Sie herum ist gestört.“
Um zu erklären, wie Gesellschaft und Umfeld unsere Sexualität beeinflussen, benutzt sie einen Garten als Metapher: „Am Tag, an dem Sie geboren werden, bekommen Sie eine kleine Parzelle guten und fruchtbaren Boden, ein kleines bisschen anders als die Parzellen der anderen. Und sofort fangen Ihre Familie, Ihre gesellschaftliche Umgebung und Ihre Kultur an, Dinge zu pflanzen und den Garten für Sie zu bestellen, bis Sie alt genug sind, sich selbst darum zu kümmern. Sie pflanzen Sprache und Haltungen und Wissen über Liebe und Sicherheit und Körper und Sex.
Sobald Sie die Adoleszenz erreichen, fangen Sie an, sich selbst um den Garten zu kümmern. (…) Manche von uns sind glücklich mit dem Boden und der Bepflanzung. Sie haben gesunde und gedeihende Gärten von den ersten bewussten Momenten an. Und manche von uns haben das Pech, dass ziemlich toxischer Mist in ihren Gärten wächst. Sie haben die Aufgabe, den ganzen Schrott mit der Wurzel auszureißen und stattdessen etwas Gesünderes zu pflanzen, das sie sich selbst aussuchen.“
Jeder Garten – jede Sexualität also in Nagoskis Bild – ist anders. Es gibt Wüstengärten, in denen Aloe-Pflanzen ohne einen Tropfen Wasser glücklich vor sich hin wachsen – und es gibt Tropengärten, in denen Orchideen regelmäßigen Regen brauchen. Wer eine Orchidee in den Wüstengarten pflanzt, wird immer wieder enttäuscht zusehen, wie sie eingeht. Daran sind weder die Blume noch der Garten schuld. Sie sind einfach nicht füreinander gemacht. Oder ohne Pflanzen ausgedrückt: Manche Menschen brauchen Zeit und Ruhe, um Lust auf Sex zu haben. Andere spüren gerade dann besonders viel Verlangen, wenn sie unter Druck stehen. Beides ist vollkommen okay. Aber wer für Sex entspannt sein muss, für den ist der Büro-Quickie in der Mittagspause vielleicht nicht die richtige Wahl.
Für Sexualität gilt laut Nagoski: Jede ist anders, keine ist ein Problem. Sie wird erst dann dazu, wenn wir sie mit falschen Maßstäben messen. Wenn wir erwarten, dass wir immer in den „richtigen“ Momenten Lust bekommen und auf die „richtigen“ Reize reagieren. Stattdessen könnten wir unsere Sexualität einfach so nehmen, wie sie ist. Anfangen, sie kennenzulernen und sie zu mögen. Und ihr zu geben, was sie braucht.
2. Das Hymen ist kein Frischesiegel für Jungfräulichkeit – und die äußeren weiblichen Genitalien heißen nicht Vagina, sondern Vulva
Einen Satz kann ich nach der Lektüre des Buches auswendig zitieren: „Wir bestehen alle aus den exakt gleichen Teilen, sie sind nur unterschiedlich zusammengesetzt.“ Es lohnt sich wirklich einmal anzusehen, wie männliche und weibliche Geschlechtsorgane im Mutterleib aus den gleichen Grundlagen entstehen. So ist zum Beispiel die feine Naht, die man auf der Mitte des Hodensacks bemerken kann, die Stelle, an der sich die Labien geöffnet hätten – wenn aus der Eizelle ein Mädchen geworden wäre. Nagoski erklärt auch die korrekten Namen für die Teile weiblicher Genitalien. So heißen die äußeren weiblichen Genitalien nicht Vagina, sondern Vulva. Das Wort Vagina meint nur den inneren Fortpflanzungskanal, der zur Gebärmutter führt. Ein, wie ich finde, besonders wichtiger Punkt: Nagoski benutzt das Wort Schamlippen nicht, sie schreibt von Labien. Schließlich sind weibliche Genitalien nicht zwischen den Beinen und nicht sichtbar, weil sie sich schämen und nicht gesehen werden wollen. Die Begrifflichkeit und die Idee dahinter stammen aus dem Mittelalter.
Nagoski räumt auch mit Vorurteilen über das Hymen auf (auch hier ist der Name Jungfernhäutchen irreführend): „Ich kann Ihnen garantieren, dass praktisch alles, was man Ihnen je über das Hymen beigebracht hat, falsch ist.“ So haben manche Frauen gar kein Hymen, andere ein festes mit mehreren kleinen Löchern. Bei wieder anderen reißt das Hymen beim Penetrationssex. Es ist auch kein „Frischesiegel für Jungfräulichkeit“, denn einmal gerissen, heilt es oft auch wieder. Das berüchtigte Blut beim ersten Mal stammt laut Nagoski eher von Rissen in der Vagina, die beim Sex durch fehlende Feuchtigkeit entstehen.
Als ich das gelesen habe, hätte ich mir am liebsten ein Transparent gebastelt und in die Innenstadt gehängt. Stattdessen habe ich meiner kleinen Schwester eine eindringliche Nachricht geschickt, dass sie um Himmels Willen Gleitgel benutzen soll, wenn es soweit ist. Ich wünschte, mir hätte das damals auch jemand erzählt. Warum denken Generationen von junger Frauen, dass sie „durch den Schmerz eben durch müssen“ – wenn wir jungen Menschen ihnen einfach sagen könnten: Benutzt Gleitgel!
3. Wir haben ein Gaspedal und eine Bremse
Wann, wo, wie wir auf Reize reagieren, regulieren unser Gaspedal und unsere Bremse oder, wissenschaftlicher ausgedrückt, unser duales Kontrollmodell. Entwickelt haben diese Bezeichnung die Sexforscher Erick Janssen und John Bancroft Ende der neunziger Jahre. Nagoski ist ein großer Fan der beiden Männer: „Ich warte auf den Tag, an dem das Nobelpreiskomitee endlich die Kurve kriegt und anerkennt, welche Bedeutung Johns und Ericks Erkenntnisse haben, damit ich den beiden riesige Obstkörbe schicken kann.“
Im dualen Kontrollmodell gibt es zum einen das System der sexuellen Erregung – das „Gaspedal“. Dieses System sucht die Umwelt unablässig nach sexuell relevanten Informationen ab. Wenn wir einen attraktiven Menschen beim Ausziehen betrachten, ist es das Gaspedal, was das Signal „Erregung!“ an den Körper sendet.
Die „Bremse“ hingegen ist das System der sexuellen Hemmung. Es funktioniert ähnlich wie das Gaspedal und sucht den lieben langen Tag die Umwelt nach allem ab, was das Gehirn als guten Grund einschätzt, jetzt nicht erregt zu sein. Beispielsweise, wenn wir mit der Familie am Esstisch sitzen. Oder, wenn wir beim Sex unter Druck geraten, weil wir Angst haben, dass wir nicht „funktionieren“, also zum Beispiel keinen Orgasmus bekommen könnten.
Gaspedal und Bremse sind bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt. Nagoski berichtet als Beispiel von Frauen aus ihrem eigenen Umfeld – und deren „Gaspedal“ und „Bremse“. Manche Frauen haben ein empfindliches Gaspedal und eine unempfindliche Bremse. Dann sind sie schnell erregt – vielleicht gar in Situationen, in denen sie das eher störend finden. „Ich kann mich angeturnt fühlen, während ich den Abwasch mache“, zitiert Nagoski eine Frau namens Olivia. Andere Frauen haben ein unempfindliches Gaspedal und eine unempfindliche Bremse. Diese Frauen werden nicht so leicht erregt – lassen sich aber auch nicht so leicht aus der Stimmung bringen.
Ob wir eine Situation als erregend empfinden, hängt also nicht nur davon ab, wie viele Gründe es gibt, Lust zu haben – sondern auch davon, wie viele Gründe es gibt, keine Lust zu haben. Zu wissen, wie die eigene Bremse und das eigene Gaspedal funktionieren, kann sehr hilfreich sein, um guten Sex zu haben. Denn nur dann lassen sich bewusst die Bremsen lösen und das Gaspedal durchtreten. Wir müssen wissen, wann unsere Bremse aktiv wird, um genau das verhindern zu können. Und auch, auf welche Reize das Gaspedal reagiert, um uns bewusst in Fahrt bringen zu können.
Das mag offensichtlich klingen. Aber zu verstehen, dass Gaspedal und Bremse zwei getrennte Systeme sind, die unabhängig voneinander funktionieren und deswegen auch unabhängig an- beziehungsweise ausgeschaltet werden müssen – für mich war das eine Erkenntnis.
4. Wenn unsere Genitalien reagieren, heißt das nicht, dass wir erregt sind
Nicht alles, was für uns sexuell relevant ist, finden wir auch sexuell ansprechend, erklärt Nagoski. Das haben Studien der letzten 20 Jahre wie diese, diese und diese gezeigt. Während Männer und Frauen in Laboren Pornoszenen angesehen haben, wurde gemessen, wie stark die Genitalien auf die Szenen reagierten – die Menschen mussten aber auch selbst angeben, wie sehr die Bilder sie erregten. Das Ergebnis: Ein erigierter Penis und eine gut durchblutete, feuchte Vagina bedeuten nicht unbedingt, dass die Person, der das Genital gehört, wirklich erregt ist. Nur, weil unser Gehirn beispielsweise einen nackten Oberkörper erkennt und an die Genitalien das Signal zur Erregung weitergibt, sind wir nicht unbedingt gleich heiß auf die Person.
Bei Männern, erklärt Nagoski, stimmen die genitale Reaktion und die Erregung häufiger überein als bei Frauen – nämlich in der Hälfte der Fälle. 50 Prozent Übereinstimmung – eigentlich klingt das schon wenig. Bei Frauen ist das allerdings noch seltener der Fall, nämlich nur in zehn Prozent der Fälle. Von der Reaktion der Genitalien lassen sich also eigentlich keine Schlüsse auf die tatsächliche Lust ziehen. Man nennt das „Nichtübereinstimmung von psychischer und physischer Erregung.“ Besonders spannend: Den Effekt, dass eine körperliche Reaktion nicht zum Gefühl passt, gibt es nicht nur in Bezug auf sexuelle Erregung, sondern auch bei anderen Emotionen.
Die Nichtübereinstimmung ist übrigens der Grund, warum die sogenannten „pinken Pillen“, die äquivalent zu Viagra für Frauen bereits getestet wurden, nicht besonders erfolgreich waren. Sie verändern, was im Gehirn der Frauen passiert – das reicht aber oft nicht für Erregung.
Vom Phänomen der Nichtübereinstimmung zu wissen, erklärt Nagoski, ist auch für Menschen wichtig, die traumatische sexuelle Erfahrungen gemacht haben. Oft würden diese sich schuldig fühlen, weil sie während des Übergriffs feucht waren, ihr Penis erigiert war oder sie vielleicht sogar Orgasmen hatten. Das ist aber eine rein körperliche Reaktion und sagt nichts über die tatsächliche Erregung aus.
https://www.youtube.com/watch?v=L-q-tSHo9Ho
5. Wie wir etwas wahrnehmen, hängt vor allem vom Kontext ab
Bremse und Gaspedal entscheiden, ob in einer Situation Erregung entsteht. Ob daraus aber wirklich auch das Verlangen nach Sex werden kann – das hängt vom Kontext der Situation ab, schreibt Nagoski. Damit meint sie zwei Faktoren: die Umstände, in denen wir uns befinden (mit wem wir wo sind, ob die Situation neu oder vertraut ist) und unser Gehirnzustand in dem Moment (entspannt oder gestresst, fühlen wir uns geliebt, haben wir Vertrauen).
Nagoski erklärt das mit einem Beispiel: „Stellen Sie sich vor, Sie flirten mit einem besonderen Menschen und er fängt an, Sie zu kitzeln. Sie können sich Situationen vorstellen, in denen das Spaß macht, oder? Sexy ist. Möglicherweise zu einer kleinen Nummer führt. Jetzt stellen Sie sich vor, sich über diesen besonderen Menschen zu ärgern, und er versucht, Sie zu kitzeln. Fühlt sich nervig an, stimmt’s? So sehr, dass Sie dem Menschen am liebsten eine reinhauen würden. Es ist die gleiche Empfindung, aber weil der Kontext anders ist, ist die Wahrnehmung dieser Empfindung anders.“
Für mich gibt es noch einen Kontext, in dem das Kitzeln eher zu einer Prügelei als zu einer „kleinen Nummer“ führen würde: Wenn ich Stress habe. Warum das so ist, erklärt Nagoski mit einem kleinen Verweis auf die Steinzeit: Wenn wir gestresst sind, benimmt sich der Körper, als wäre er auf der Flucht vor einem Löwen. Er kämpft ums Überleben. Sex ist dabei meist das letzte, woran er denkt. Das gilt für beide Geschlechter. Für Frauen hat Stress sogar noch mehr körperliche Auswirkungen. „Chronischer Stress stört oder unterdrückt auch den Menstruationszyklus, verringert Fruchtbarkeit und Milchbildung, erhöht die Gefahr einer Fehlgeburt, reduziert die genitale Reaktion und steigert Abgelenktsein und Schmerz beim Sex“, schreibt Nagoski und bezieht sich dabei auf diese amerikanische Studie von 2013.
Insgesamt ist der Kontext sexueller Handlungen für Frauen oft entscheidender als für Männer. Denn ob Frauen Verlangen empfinden, ist laut Nagoski viel mehr als bei Männern abhängig von äußeren Umständen und dem gegenwärtigen Zustand des Gehirns. Wenn es ein Viagra für Frauen gäbe, müsste dieses auch den Kontext einer Situation beeinflussen können. Das ist aber unmöglich. Diese Macht haben allein wir – und das ist eigentlich keine schlechte Nachricht.
Übrigens: Die Macht des Kontextes sorgte dafür, dass die „pinken Pillen“ einen der stärksten Placeboeffekte hatten, die in der medizinischen Forschung je beobachtet wurden. Laut Nagoski waren in klinischen Studien 40 Prozent der Frauen aus der Placebogruppe überzeugt, dass das „Medikament“ ihr Sexleben verbessert habe.
6. Es gibt spontanes und responsives Verlangen. Beides ist normal
An einer Stelle in „Komm, wie du willst“ beschreibt Nagoski Verlangen so, wie ich es immer für normal gehalten hatte: „Nach den allgemeingültigen Vorstellungen von sexuellem Verlangen tritt es einfach auf – Sie sitzen beim Essen oder gehen über die Straße, vielleicht sehen Sie eine sexy Person oder haben einen sexy Gedanken, und zack! denken Sie sich: ‚Oh! Ich hätte gern ein bisschen Sex!“ Das Problem: So funktioniert es oft nicht. Zumindest für viele Frauen nicht. Nagoski schätzt auf der Basis verschiedener Studien unter anderem aus Dänemark, Portugal und den USA, dass diese Art Verlangen nur für etwa 75 Prozent der Männer und 15 Prozent der Frauen funktioniert. Man nennt das spontanes Verlangen.
Etwa 30 Prozent der Frauen (und fünf Prozent der Männer) erleben demnach responsives Verlangen: „Manche Leute wollen erst Sex, wenn schon sexy Sachen passieren. Und sie sind normal. Sie haben kein ‚geringes‘ Verlangen, sie leiden nicht an einer Krankheit, und es ist auch nicht so, dass sie eigentlich eine sexy Handlung initiieren wollen, aber das Gefühl haben, es nicht zu dürfen. Ihre Körper brauchen einfach überzeugendere Argumente, um Sex zu wollen, als nur ‚das ist aber eine sehr attraktive Person da drüben.“
Die Hälfte aller Frauen und 20 Prozent der Männer können nach Nagoskis Schätzung abhängig vom Kontext beides erleben, spontanes und responsives Verlangen. Letztlich, schreibt Nagoski, ist das Prinzip bei beiden auch das gleiche. Nur die Schwelle, ab der Verlangen entsteht, ist unterschiedlich hoch.
7. Jeder nimmt Orgasmen unterschiedlich wahr
„In der Realität kommen nur etwa 30 Prozent der Frauen beim Geschlechtsverkehr zuverlässig zum Höhepunkt. Die übrigen 70 Prozent manchmal, selten oder sogar nie, dabei sind sie alle gesund und normal“, schreibt Nagoski. Die Vorstellung, dass Sex von einem Orgasmus beendet wird, sei von männlicher Sexualität geprägt. Auf Frauen trifft sie oft nicht zu. Vor allem nicht, wenn es um vaginale Penetration geht. „Bei Vaginalverkehr wird die Klitoris nicht effektiv stimuliert, und Klitorisstimulierung ist der üblichste Weg zum Orgasmus. Ein guter Grund, weshalb Frauen unterschiedlich zuverlässig beim Geschlechtsverkehr einen Orgasmus haben, ist der Abstand zwischen Klitoris und Harnröhreneingang. Im Prinzip ist es also ein anatomisches Konstruktionsproblem.“
Hinzu kommt: Jeder nimmt Orgasmen unterschiedlich wahr. Die einzig vernünftige Art, einen Orgasmus zu definieren, ist laut Nagoski als „plötzliche, unwillkürliche Lösung sexueller Spannung.“ Ein Orgasmus ist keine genitale Reaktion. Er passiert demnach – wie Erregung – nicht in den Genitalien, sondern im Gehirn. In einer Studie stellte sich 1985 heraus, dass es keinen Zusammenhang zwischen den genitalen Reaktionen gab, die bei Frauen gängigen Vorstellungen nach einen Orgasmus anzeigen sollten (zum Beispiel die Anzahl der Kontraktionen der Beckenbodenmuskeln), und der Note, die die betreffenden Frauen ihrem Orgasmus selbst gaben. In einer anderen Studie hatten zwei von elf Frauen überhaupt keine Muskelkontraktionen beim Orgasmus. In einer dritten Studie hatten Frauen Muskelkontraktionen, aber keinen Orgasmus. Das zeigt: Körperliche Reaktionen wie Muskelkontraktionen gehören nicht unbedingt zu einem Orgasmus. Manche erleben sie, andere nicht.
8. Sex ist kein Trieb
Die Vorstellung, dass Sex ein Trieb ist, nennt Nagoski einen „Mythos“. Ein Trieb, schreibt sie, ist „ein biologischer Mechanismus, und seine Aufgabe ist es, den Organismus in einem gesunden Ausgangszustand zu bewahren – nicht zu warm, nicht zu kalt, nicht zu hungrig, nicht zu satt.“ Appetit ist demnach ein Beispiel für einen Trieb – wer Hunger hat, isst und zwar so lange, bis er:sie keinen Hunger mehr hat. Der Ausgangszustand, der über den Appetit immer wieder hergestellt wird, ist „Sattsein“. Und dabei geht es ums Überleben. Wer länger nicht isst, wird hungern und letztlich sterben. Wer länger keinen Sex hat, kann jedoch problemlos rundum gesund sein.
Nagoski schreibt: „Es ist leicht zu belegen, dass Sex kein Trieb ist: Wie der Verhaltensforscher Frank Beach 1956 schrieb: ‚Wegen Sexmangel hat noch nie jemand Gewebeschäden bekommen.‘ Wir können verhungern, an Flüssigkeitsmangel sterben, sogar an Schlafentzug. Aber niemand ist je daran gestorben, dass er nicht flachgelegt wurde. Möglicherweise wollte er oder sie deshalb sterben, aber das ist keineswegs dasselbe. Es gibt keinen Ausgangszustand, der wiederhergestellt werden müsste, und es entsteht kein körperlicher Schaden, wenn wir unser sexuelles Verlangen nicht ‚füttern‘.“
Sex, erklärt Nagoski, funktioniert eher wie Neugierde – nach dem Prinzip der Anreizmotivation. Man wird nicht von einem unangenehmen inneren Zustand angetrieben, den man verändern will, wie beim Hunger. Sondern man wird von einem attraktiven externen Reiz angezogen. „Neugier ist wie Sex ein elementares biologisches Motivationssystem. Es befeuert unser angeborenes Verlangen, Neues zu erkunden und Ambiguitäten zu beseitigen.“
Am Ende von „Komm, wie du willst“ hat Emily Nagoski jedenfalls eine umfangreiche Anleitung zur „therapeutischen Selbstbefriedigung“ angehängt. Einfach so. Man kann sagen, was man will, aber ich finde, es gibt schlimmere Arten, ein Buch zu beenden.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel