Auch wenn es ein reichlich abgegriffener Satz ist, hier passt er ausnahmsweise: Ein Gespenst geht um in unserem Land. Das Gespenst des Kommunismus? Ach Quatsch, das der Astrologie. Noch nicht bemerkt? Es spukt durch unsere Instagram-Feeds, Dating-Apps und Podcasts – und nimmt in meinem Umfeld mehr und mehr Menschen für sich ein, die so um die 30 sind und gut gebildet. Da ist zum Beispiel eine Bekannte, nennen wir sie Anna, die mit traumwandlerischer Sicherheit ihr Geburtshoroskop herunterbeten kann. Und die mir neulich erklärte, ihre Astrologin hätte schon im vergangenen Herbst einen Einbruch für das Frühjahr 2020 vorhergesagt – und damit im Grunde die Corona-Krise vorweggenommen. Andere, so höre ich aus dem Bekanntenkreis, überlegen sich beim Online-Dating schon sehr genau, ob es schlau ist, einen Widder zu treffen. In Brooklyn, dem Hipsterhimmel der westlichen Welt, schreiben die „Astro Poets“ unglaublich erfolgreiche Horoskop-Tweets ins Internet, die 600.000 Fans erreichen, darunter die Schauspielerin und Regisseurin Lena Dunham. Die deutsche Übersetzung ihres Astro-Guides für das 21. Jahrhundert soll im Herbst bei Rowohlt erscheinen.
Das macht mich neugierig. Wie kommt es, dass Astrologie bei urbanen Akademiker:innen heute weit weniger schambesetzt ist als noch vor ein paar Jahren? Wie genau hat sie es geschafft, dem Trash-TV- und Glaskugelmilieu der überdimensionierten Fingernägel, Bild-Zeitungs-Horoskope und Astro-Hotlines zu entsteigen, um Einzug zu halten in die hippen Communitys unserer Großstädte?
Ich mache mich auf, diesen Grundwiderspruch zu erkunden: Eigentlich war Astrologie doch immer Eso-Kram, den man als rational eingestellter Mensch amüsiert belächelte. Schließlich war uns aufgeklärten Menschen des ausgehenden 20. Jahrhunderts doch bekannt, dass Astro-Propheten an Tierkreiszeichen festhielten, die jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehren. Dass ihre Vorhersagen derart vage waren, dass sie immer irgendwie zutrafen, weil sich bei selektiver Wahrnehmung unserer Wirklichkeit zwangsläufig Tatsachen finden ließen, die die Prognosen bestätigen. Und gab es da nicht noch dieses Experiment, bei dem sich eine überwältigende Mehrheit der Versuchspersonen in einem „ganz persönlichen Horoskop“ wiedererkannte, ohne zu wissen, dass alle denselben Text bekommen hatten und dass dieser auf den Geburtsdaten eines französischen Serienmörders beruhte?
Meine Reise durch das Astro-Universum beginnt in Brooklyn
Ich lese erstmal nach, worum es überhaupt geht. Laut Wikipedia bedeutet Astrologie wörtlich Sterndeutung – auch wenn sie gar nicht unbedingt Sterne deutet, sondern eher Gestirnkonstellationen. Astrolog:innen beobachten die Himmelskörper, die Sonne, den Mond, die Planeten, ihre Stellung zueinander und ihre wechselnde Position in den sogenannten Tierkreiszeichen – den Symbolbildern, die die zwölf Abschnitte des Tierkreises kennzeichnen und Namen tragen wie Widder, Löwe, Stier, Wassermann, Steinbock und so weiter. Die Sonne bewegt sich während eines Jahres durch alle zwölf Abschnitte. Das, was wir für unser Sternzeichen halten, ist eigentlich unser Sonnenzeichen: Wenn du ein Skorpion bist, bedeutet das nichts anderes, als dass sich die Sonne zum Zeitpunkt deiner Geburt im Tierkreisabschnitt Skorpion befand. Was die Sache der Astrologie so strittig macht, ist ihre Annahme, dass die Bewegungen im Weltraum das Geschehen auf der Erde beeinflussen: politische Entwicklungen, Krieg, Frieden und persönliche Schicksale.
Meine kleine virtuelle Reise durch das Astro-Universum beginnt in New York, genauer gesagt in Brooklyn, von wo aus Alex Dimitrov und Dorothea Lasky, die „Astro Poets“, ihre Horoskop-Tweets veröffentlichen, zum Beispiel diesen hier:
https://twitter.com/poetastrologers/status/1247042760995201029?s=20
Ah ja. Immerhin beruhigend zu lesen, dass die Astro Poets ihre Tweets selbst nicht verstehen. Wer sich an Gedichtinterpretationen erinnert, weiß: Es gibt bei Lyrik niemals die eine Lösung, sondern immer einen großen Deutungsspielraum. Ähnlich scheint das bei der Astrologie zu sein. Trotzdem oder gerade deshalb lesen mehr als 600.000 Follower:innen begeistert mit, darunter die Schauspielerin und Regisseurin Lena Dunham, die man aus der HBO-Serie „Girls“ kennt und die sich auf Twitter schon vor einigen Jahren zur Astrologie bekannt hat. Eine Lesung der Astro Poets in einer New Yorker Bücherei, zu der vor allem junge Menschen zwischen 18 und 25 gekommen sein sollen, war ausverkauft. Die New York Times hat die beiden mit einem Porträt geadelt.
Die App warnt: „Trouble with Sex & Love“
Ein nettes Einzelphänomen? Aber nein. In den USA fließt bereits eine Menge Venturecapital in die Astrologie. Investoren riechen Expansion und Profit. Die App „Co-Star“ hat im vergangenen Jahr mal eben fünf Millionen Dollar aus dem Silicon Valley abgeräumt und wurde mehr als drei Millionen Mal heruntergeladen. Eine Astrologie-App, die mit Künstlicher Intelligenz arbeitet, mit Algorithmen, die offenbar besonders personalisierte Profile ermitteln können und die ihre Nutzer:innen jeden Morgen mit einer fast aggressiven Push-Benachrichtigung verstören: „Who do you think you are?“ oder: „Don’t be a dick.“ In Wort gegossene Ohrfeigen für all die Narzissten da draußen, deren Ego sich in Konferenzen gern froschartig aufbläht.
Ich will das selbst ausprobieren und installiere die App. Co-Star, so verspricht mir eine enthusiastische Review, sei so ein bisschen „wie mein bester Freund, der Astrologie studiert und mir immer sagen kann, warum mein Date falsch gelaufen ist.“ Nach eigenen Angaben liefert Co-Star Horoskope nicht nur auf Basis des Sonnenzeichens, sondern des vollständigen Birth Charts und wertet dafür sogar NASA-Daten aus. Ich gebe also mein Geburtsdatum, -uhrzeit und -ort ein. Und schon bekomme ich mein erstes personalisiertes Horoskop und ärgere mich darüber, dass es vollkommen unbegründet behauptet, ich hätte „Trouble with Sex & Love“ – und noch mehr ärgere ich mich über mich selbst, weil ich mir darüber zu lange den Kopf zerbreche. Auch sonst ist es sehr vage: In diesem Monat hänge alles davon ab, wie gut ich mein Zuhause zu einem inneren Anker machen könne. Nun ja, in Zeiten erzwungener Corona-Quarantäne ist das keine überraschende Erkenntnis. Generell gehe es in meinem Leben darum, meine Inspiration zu nutzen, um neue, herausfordernde Dinge zu lernen. Hm, Astrologie zum Beispiel? Der Algorithmus fragt mich, ob mir sein Rat geholfen habe und gibt mir einen glücklichen, einen neutralen und einen traurigen Smiley zur Auswahl. Ich wähle den traurigen.
Auch in den Tagen danach wird es nicht besser, denn das hier ist die nächste Push-Nachricht:
What? Ich habe den Eindruck, die App will mir einen Seitensprung andichten, der nun mein Liebesleben gefährde. Ein wirklich guter Freund tut so etwas nicht. Auf den ersten Blick bestätigt die App meine Vorurteile: sehr oberflächliche Ratschläge, die so auch in der Bild-Zeitung stehen könnten.
Trotzdem wird Co-Star von Nutzer:innen überschwänglich gefeiert. Sie hat 4,8 von 5 Sternen im App-Store. Dort steht zum Beispiel: Die Analysen seien „sehr präzise“. Nun ja.
Co-Star wirbt damit, Raum für Irrationalität zu schaffen in unserer technisch-rationalen Lebenswelt. Und liefert damit einen ersten möglichen Erklärungsansatz für ihren Erfolg, in dem soziologische Theorien von Max Weber über Erich Fromm bis zu Hartmut Rosa mitschwingen: Wir erleben die entzauberte Welt der industriellen Moderne, aus der alle Magie verbannt ist und in der die Natur berechenbar gemacht wurde als eine fremde und stumme Welt. Wir erkennen, dass wir keine reinen Vernunftwesen sind und nicht in mechanistischen Weltbildern und Homo-oeconomicus-Modellen aufgehen. Wir wünschen uns Resonanzerfahrungen, in denen die Welt „zu singen anhebt“ wie einst bei den Romantikern. Wir lechzen nach spirituellem Futter, das möglichst leicht verdaulich sein soll. Also ohne all die Zutaten, die die traditionelle Religion so unbequem machen: ihr Dogma, ihre Organisationsstruktur, die Kirchensteuer, das ungemütlich-dunkle Holzmobiliar.
Dazu kommt das allgegenwärtige Krisengefühl: Die jungen Menschen suchen etwas, woran sie sich festhalten können. Der New Yorker zitiert die 29-jährige US-amerikanische Star-Astrologin Aliza Kelly: „In den Jahren der Obama-Administration mochten die Leute Astrologie. Jetzt, unter Trump, brauchen sie sie.”
In Deutschland lässt sich der Trend zeitversetzt beobachten. Hier ist die Szene noch kleiner, doch sie wächst. Da wäre zum Beispiel die Münchnerin Phi, die auf Instagram Phi.loves.astrology heißt und mit ihrer spirituellen Astrologie mehr als 4.000 Follower:innen um sich geschart hat.
https://www.instagram.com/p/B_SpciBqkza/?utm_source=ig_web_copy_link
Ihre Biographie liest sich wie das Einmaleins der Selbstfindungsliteratur. So habe sie nach ihrem Jurastudium und ihrer Arbeit für einen Online-Shop und als Social-Media-Marketing-Beraterin eine Leere in sich gespürt. Sie schreibt auf ihrer Homepage:
„Ich war in so viele Oberflächlichkeiten verstrickt, ohne zu merken, dass sie mich niemals aus tiefstem Herzen erfüllen und glücklich machen würden und so beschloss ich etwas – beziehungsweise ALLES zu ändern. Ich stellte fortan mein ganzes Leben auf den Kopf. … Diese Erfahrung war intensiv und am Ende dieser Transformation war ich ein anderer Mensch.“
Derart radikale Transformationserzählungen vom oberflächlichen Schein zum unverfälschten Sein sind natürlich immer auch: gutes Social-Media-Marketing. Aber das zeichnet die Millenial-Astrolog:innen eben aus, dass sie alle Tricks der Aufmerksamkeitsökonomie beherrschen und sämtliche digitalen Kanäle bespielen können, vor allem Instagram, Webinare und Podcasts. So war Phi Ende letzten Jahres zu Gast in einer Folge des Podcasts „Youmoon“ , der sich an „Mondkinder“ und „Modern Witches“ richtet und auf einen Online-Shop verweist, in dem man „magische Kristalle“ und „zauberhaftes Räucherwerk“ kaufen kann. In der Folge erfahre ich über Phi, dass sie ihre Sonne im Krebs, den Mond und auch den Merkur in den Zwillingen hat. Deshalb spreche sie gern, viel und schnell. Pluto habe zudem viel in ihr hochgeholt und einen anderen Menschen aus ihr gemacht. „Das ist das größte Geschenk für mich“, sagt sie.
Astrologie ist irgendwas zwischen Soziologie, Systemtheorie und Spekulation
In vielerlei Hinsicht ist diese Podcast-Folge erhellend: Zunächst einmal sprechen da zwei Astro-Nerds eine Fremdsprache mit eigenartig technischer Terminologie, die sich nur Eingeweihten erschließt. Von „Theta Healing“ und „Human Design“ ist die Rede, einem „manifestierenden Generator“, einem „5/1-Profil“ und einer „Solar-Plexus-Autorität“. Interessanterweise gelingt es ihnen damit, mein Interesse zu erregen: Ich will wissen, was es damit auf sich hat und höre deshalb auch in die anderen Folgen des Podcasts rein, in denen mir die Begriffe nacheinander erklärt werden. Es ist ein bisschen so, als mache man sich mit einem neuen Fachgebiet vertraut, irgendwas zwischen Soziologie, Systemtheorie, Spiritualität und Spekulation.
Eingestreut sind auflockernde Anglizismen: „Coole Tools“, „Birth Chart Readings“ und „Learnings“ statt schummriger Glaskugeln und windiger Prophezeiungen. Phi sagt, sie sehe in einem Geburtshoroskop „niemals etwas Negatives, sondern ich sehe Arbeitsaufträge, ich sehe Transformationsmöglichkeiten, ich sehe Baustellen.“ Vieles davon entspricht dem Vokabular der modernen Therapeuten und Coaches, die mit NLP (Neuro-Linguistischem Programmieren) oder anderen Heilsversprechen die finanziell gut ausgestatteten, aber spirituell ausgetrockneten Seelen unserer Großstädter retten: Glaubenssätze ändern. An eigenen Themen arbeiten. Das eigene Innere optimieren. „Meine Klienten wissen nach einem Reading mehr über sich“, sagt Phi im Podcast. „Es geht darum, Transformationswege aufzuzeigen und wie wir planetarisch unterstützt werden.“
Noch erstaunlicher ist, dass Phi in ihrer astrologischen Arbeit Parallelen zum Jurastudium sieht: Schließlich habe sie mit jedem Birth Chart einen zu prüfenden Sachverhalt vor sich, wobei ein kleiner Nebensachverhalt zu einer ganz anderen Sachlage führen könne. „Exakt so ist es im Geburtshoroskop. Du kannst Schwerpunkte und Gewichtungen sehen. Aber wenn ein Planet reinschwingt, der viel dominanter ist als der Rest, führt das zu einer anderen Gewichtung.“ Exemplarisch geht Phi dann die Prinzipien durch, nach denen so ein Geburtshoroskop aufgeschlüsselt wird: die Tierkreiszeichen, Häuser und Planeten, Transite und Aspektierungen. Mit fast juristischer Akribie und einem erstaunlichen Detailwissen.
Wenn ich Phi so zuhöre, scheint es mir, dass Irrationalität als Erklärung zu kurz greift. Kann es sein, dass die moderne Astrologie eine Mischung aus Daten-Analyse und Psychotherapie ist? Wie viel davon ist Logik, wie viel Menschenkenntnis, wie viel Science Fiction? Co-Star, mein neuer bester Freund und treuer Begleiter, kommentiert per Push-Benachrichtigung: „It’s okay to admit that you don’t have the answers.“
Deshalb frage ich nun einen Experten: Christof Niederwieser, Astrologe und Prognostik-Experte, der im Schwarzwald lebt und dem ich auf Youtube begegnet bin.
https://www.youtube.com/watch?v=k4nwOvcM1ks
Im ersten Schritt sei Astrologie Mustererkennung und logische Berechnung, sagt Christof Niederwieser mir am Telefon, im zweiten Schritt versuche sie, die Muster zu interpretieren, Sprachbilder zu kreieren, Fragen zu formulieren. Insofern erfordere Astrologie beides: analytisches und kreativ-schöpferisches Denken.
Das leuchtet ein. Vielleicht lässt sich Astrologie besser verstehen, wenn man sie als Kunstform begreift. Sätze wie „Das Schöne an widderbetonten Menschen ist ihr Mut“ (Phi), oder „A gentle blue on the wall feels right“ (Astro Poets) sind weder richtig noch falsch. Da man sie weder beweisen noch widerlegen kann, haben sie mit Wissenschaft nichts zu tun. In der Regel erheben Astrolog:innen auch keinen Anspruch darauf, wissenschaftlich zu arbeiten. Trotzdem können diese Sätze etwas über unsere Wirklichkeit sagen, das uns wahr vorkommt, genau so wie es Songs, Gedichte oder Sätze in Romanen tun können.
2020 erleben wir eine Zeitenwende
Moderne Astrologie ist so gesehen eine Art literarisches Storytelling, das unsere erlebte Realität in eine bildreiche kosmologische Sprache kleidet. Christof Niederwieser spricht beispielsweise davon, dass wir im Jahr 2020 eine Zeitenwende erleben, den endgültigen Übergang vom Erd- ins Luftzeitalter. Er führt das zurück auf die besondere Jupiter-Saturn-Konstellation, die von den Erd- in die Luftelemente wechsele. Dem entspreche ein Paradigmenwechsel in unserer Lebenswelt: Das Erdzeitalter habe um 1800 mit dem Beginn der industriellen Revolution eingesetzt und Kapitalismus, Konsum und Besitzstreben mit sich gebracht. Die Erde könne man horten und sammeln, sie sei konkret und beständig, während die Luft flüchtig, wendig, wechselhaft und abstrakt sei. Im Luftzeitalter entwickelten wir uns demnach in eine idealistische Informations- und Wissensgesellschaft. An die Stelle von Maschinen und Fabriken treten digitale Arbeit, virtuelle Realitäten und Hologramme. Industrieschornsteine und Kohlekraftwerke werden zunehmend ersetzt durch Wind- und Solarenergie. Der Wert materieller Güter löse sich auf, während Immaterielles an Wert gewinne, wie zum Beispiel Daten. Und die großen Gewinner seien die, die mit ihnen zu handeln wissen, also Internet-Konzerne wie Google, Facebook, Amazon.
Christof Niederwieser wundert sich auch nicht darüber, dass ausgerechnet die Millenials die Astrologie wieder für sich entdecken: Schließlich seien die Geburtsjahrgänge ab 1983 mit dem Pluto im Skorpion wieder empfänglicher für Hintergründiges. Er sagt: „Sie haben einen größeren Sinn für Mystik, hinterfragen gesellschaftliche Konventionen und setzen eigene Maßstäbe.“
So sehr ich all das nachvollziehen kann, werde ich die skeptische Stimme in mir nicht los, die immer wieder fragt: Sind solche Prognosen nicht einfach Spekulation? Voraufklärerische Mythologie? Andererseits: Beruht nicht jede Gesellschaft auf einem Mythos? Ist unsere zum Beispiel nicht auf den lange unhinterfragten Grundannahmen gebaut, wir bräuchten wirtschaftliches Wachstum um jeden Preis, und Wohlstand sei allein eine Frage des Bruttosozialprodukts?
Was wohl Co-Star dazu sagt? „Your body is a mirror – and nothing ever fits exactly“, so die Push-Benachrichtung des Tages. Da hat der Algorithmus ausnahmsweise recht. Es gibt einfach keinen Universalschlüssel, der perfekt passt. Ich belohne die Künstliche Intelligenz mit einem glücklichen Smiley. Auch was Zukunftsprognosen betrifft: Egal, wie seriös oder unseriös sie uns vorkommen, sie stimmen eigentlich nie. Ich muss dabei an das Truthahn-Problem denken, das der ehemalige Börsenhänder und Risikoforscher Nassim Nicholas Taleb in seinem Buch „Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen” beschrieben hat:
„Ein Truthahn wird tausend Tage lang von einem Metzger gefüttert; jeden Tag verkündet er seinem Analystenstab mit ‚wachsender statistischer Zuversicht‘, dass Metzger Truthähnen wohlgesonnen sind. Der Metzger wird den Truthahn weiterfüttern, und zwar bis kurz vor Thanksgiving. Dann kommt der Tag, an dem es gar nicht schön ist, ein Truthahn zu sein.”
Unsere Lebensaufgabe besteht nach Taleb darin, kein Truthahn zu werden. Er plädiert für eine prognosefreie Sicht der Welt und dafür, dass wir uns möglichst klug in der Ungewissheit einrichten. Wir haben nämlich tatsächlich keine Ahnung von der Zukunft. Solange wir uns von der Astrologie nicht zu viel versprechen, sondern sie als Kunstform begreifen, kann sie uns dabei helfen, damit klarzukommen. Vielleicht wird sie dem widersprüchlichen Wesen Mensch mit ihrer poetischen Uneindeutigkeit sogar gerechter als so manch anderes Modell, das uns ach so vernünftig erscheint.
Und da Co-Star mich in diesem Augenblick dazu auffordert, jemandem ein Gedicht vorzutragen, schließe ich mit einem rätselhaften Tweet der Astro Poets: „What you are longing for is everything. What rings true is everything else.“
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Martin Gommel.