Geliehene Mütter, gekaufte Kinder, echte Liebe – Teil 1

© Getty Images / aywan88

Sinn und Konsum

Geliehene Mütter, gekaufte Kinder, echte Liebe – Teil 1

Wer darf eigentlich Kinder kriegen? Ich habe Menschen getroffen, die eine Grenze überschreiten: Ein homosexuelles Paar, das ein Kind bei einer Leihmutter in Indien bestellt. Und eine Frau, die ein Baby für fremde Eltern bekommt – und das kostenlos.

Profilbild von Theresa Bäuerlein
Reporterin für Sinn und Konsum

I. Blut

Mitten in einer heißen Nacht im Sommer 2017 wacht Shelly mit Bauchschmerzen auf. Sie läuft ins Bad, krümmt sich über dem Klo und sieht Blut. „Sie waren schwanger“, sagt der Arzt in der Notaufnahme, „trotz der Spirale.“

Drei Jahre vorher und 50 Kilometer südlich wacht Ori in seinem Bett in Tel Aviv mit einem Kloß im Hals auf, läuft ins Bad, spuckt aus und sieht Blut. „Das ist ein schlechtes Zeichen“, sagt er. „Du spinnst“, sagt Rami, sein Partner. Dann klingelt das Telefon. Es ist die Agentur, die dem Paar in Indien eine Leihmutter vermittelt hat. Die Frau habe eine Fehlgeburt gehabt. Es ist der elfte Versuch. Die elfte Leihmutter, die ihr Kind verloren hat.

Ori und Shelly kennen einander nicht, aber man könnte sagen, dass er ihr Spiegel ist. Shelly ist eine dieser Frauen, die sehr leicht schwanger werden. Sie hat mehr als eine Abtreibung hinter sich und findet das nicht schlimm. Shelly ist Ende dreißig, hat zwei Kinder, keinen festen Partner und keine Pläne für Familienzuwachs. Ori dagegen, Mitte vierzig und in einer Partnerschaft, will ein Kind, und das ist für ihn aufwändig, teuer und moralisch kompliziert. Als schwuler Mann darf er in Israel weder adoptieren noch eine Leihmutterschaft beauftragen. Für Männer wie ihn gibt es Agenturen, die Leihmütter im Ausland vermitteln. Eine Geburt in den USA kostet mindestens 75.000 Dollar. In Indien nicht einmal die Hälfte.

Dies ist eine Geschichte über das Kinderkriegen. Über zwei Familien und ihre Kinder, für die nie ein Mann und eine Frau miteinander geschlafen haben. Diese Kinder verdanken ihr Leben der Technik, der Globalisierung – und zwei fremden Frauen, die sie in ihren Körpern wachsen ließen. Eine tat es aus Nächstenliebe. Die andere unter Umständen, die manche Ausbeutung nennen. Beide werden dafür bewundert und verurteilt. Denn ihre Handlungen verwischen die Grenzen zwischen dem, was deins und meins ist, was uns nah ist und was fremd.

Für diese Geschichte habe ich Shelly und Ori über ein Jahr hinweg immer wieder getroffen. Einige der Szenen, die in diesem Text beschrieben werden, habe ich selbst miterlebt, andere habe ich in Gesprächen mit Shelly, Ori und anderen rekonstruiert. Ich traf Shelly viermal per Skype und zweimal persönlich, einmal in Israel und einmal in Berlin. Ori habe ich einen Nachmittag lang in Israel getroffen, danach war ich per Whatsapp über Nachrichten und telefonisch mit ihm im Kontakt. Ich habe Dokumente, Fotos und Videos gesehen, die dokumentieren, was die beiden mir erzählt haben. Nicht alle Personen tauchen mit ihrem richtigen Namen in diesem Text auf: Shelly möchte nicht, dass sie mit ihrer Geschichte bekannt wird. Die Namen aller Kinder wurden zum Schutz der Familien geändert. Alle richtigen Namen sind mir bekannt.

II. Erbe

Nach dem Abgang skypt Shelly mit einem guten Freund in Deutschland. Die beiden hatten gerade eine Affäre. Sie erzählt ihm von der Fehlgeburt. „Moment“, sagt er. „Du warst schwanger?“ Er starrt in die Kamera.

Einen Satz, den Shelly öfter über sich sagt: „Ich habe kein Herz.“ Was sie meint: Sie hat nicht viel für Romantik übrig. Mit dem Drama, das diese Welt um Liebesbeziehungen und ums Kinderkriegen macht, kann sie nicht viel anfangen. Ihr Körper ist kein Tempel, er funktioniert. Shelly heiratete mit Ende zwanzig und bekam zwei Kinder. Sie folgte einem Skript gesellschaftlichen Normalseins, das nicht gut zu ihr passte.

Im Gesicht des Mannes auf ihrem Bildschirm sieht jetzt Shelly etwas, das sie nicht erwartet hätte. Shelly begreift, dass sie nur ein paar Bauchkrämpfe hatte – er aber wäre fast Vater geworden.

Es erinnert sie an etwas: An den Blick ihrer Schwester beim letzten Treffen, todtraurig. Ein paar Stunden, bevor Shellys ungewollte Schwangerschaft wegblutete, saßen die Zwillinge auf dem Balkon und blickten aufs Meer. „Was mache ich nur falsch“, fragte ihre Schwester, wütend auf die ganze Welt. Im Gegensatz zu Shelly, die praktisch schwanger wird, wenn sie einen Mann nur zu lang anguckt, sehnt ihre Schwester sich nach einem Kind, hat aber eine Fehlgeburt nach der anderen. Shelly versuchte, pragmatisch zu denken, die Optionen durchzugehen: Du könntest den Arzt wechseln, schlug sie vor, es mit anderen Hormonbehandlungen probieren. Aber die Schwester wollte keine praktischen Antworten. „Ich bin verflucht“, sagte sie.

Ein paar Nächte später liegt Shelly lange wach. Sie steht auf und geht auf den Balkon, wo sie alle wichtigen Entscheidungen trifft. Draußen wirft sich das Meer rhythmisch an den Strand von Hadera in Nordisrael. Sie atmet warme Luft und denkt nach. Übers Kinderkriegen und darüber, dass etwas, das für sie fast schon lästig einfach ist, für andere das Drama ihres Lebens bedeutet.

Und auf einmal ist dieser Gedanke da: „Wie wäre es, das Kind meiner Schwester auszutragen?“ Sie greift nach ihrem Handy und tippt ein Wort ins Suchfenster ein: „Leihmutter“.

Mehr zum Thema

50 Kilometer südlich sitzt Ori in seinem Apartment im Osten Tel Avivs, einer blitzsauberen Maisonette, und schreibt schon wieder an einem Buch. Einem E-Book, das er über Amazon verkaufen wird. Ori ist Kosmetiker, in seinen Büchern geht es um Schönheit: um Parfum, Sonnenschutz und Anti-Aging-Hautpflege. Er schreibt über Themen, die er versteht, um nicht darüber nachdenken zu müssen, was er nicht in der Hand hat. Denn Ori und Rami wollen ein Kind – seit fünf Jahren.

Die Agentur, die sie beauftragt haben, hat keine offizielle Warteliste. Aber Ori weiß, dass es eine inoffizielle gibt, und dass sie nach der elften Fehlgeburt wieder ganz nach unten rutschen. Es gibt keinen zweiten Versuch mit der gleichen Leihmutter. Das bedeutet: wieder warten. Mindestens drei Monate.

Eine Tochter haben Ori und Rami schon: Lior, schwarze Locken, helle Haut, ein kleines Schneewittchen. Auch sie hat eine indische Leihmutter geboren. Mit Lior ist alles bilderbuchmäßig gelaufen – wenn es denn Bilderbücher gäbe, in denen ein Mann aus einem reichen Land den Körper einer armen Frau mietet. Sicher wäre ein solches Bilderbuch hilfreich, um der Tochter später zu erklären, wer ihre Mutter ist.

In diesem Bilderbuch würde dann stehen, dass Ori und Rami, so wie die meisten Eltern eben, Kinder wollen, die ihnen ähnlichsehen. Rami ist rotblond, seine Familie hat Wurzeln in Bulgarien. Ori hat dunklere Haut, seine Mutter stammt aus Argentinien. In der Agentur-Datenbank fanden sie eine Eizellenspenderin aus Südafrika: Mitte zwanzig, der Vater Holländer, die Mutter Griechin. Kinder dieser biologischen Mutter, so Oris und Ramis Plan, werden ihnen ähnlichsehen.

Wer biologischer Vater ist, sagt das Paar niemandem. Denn: „Von wem ist das Kind?“, das ist die erste Frage, die jeder stellt. Die zweite: „Wie viel hat das Kind gekostet?“ Fragen, die ein Mann und eine Frau, die zusammen ein Kind bekommen, nie hören.

Seitdem Ori und Rami versuchen, ein zweites Kind zu bekommen, haben sie über 85.000 Dollar ausgegeben. Jeder Versuch kostet extra. Sie haben ihre Wohnung in der Innenstadt von Tel Aviv verkauft, sie wohnen jetzt nahe der Autobahn. Bei der Bank haben sie mehrere zehntausend Dollar Schulden.

Dann ruft der Chef der Agentur an. Er sagt: „Wir haben eine Leihmutter für euch, ein Paar ist abgesprungen. Und diesmal braucht ihr das nicht bezahlen.“

Drei Jahrzehnte vor diesem Anruf, im Sommer 1986, trug in den USA erstmals eine Frau ein Kind aus, das ihr genetisch fremd war: entstanden aus dem Samen und der Eizelle zweier anderer Menschen, gezeugt im Labor. Man nennt diese Methode der künstlichen Befruchtung In-vitro-Fertilisation, abgekürzt: IVF.

Für Ori bedeutet IVF vier Jahrzehnte später, dass er ein Kind bekommen kann, dessen biologische Mutter er nie kennenlernen muss. Er kann sie sich aus einem Katalog aussuchen: Sieht sie mir ähnlich? Ist sie gesund? Ist sie schön?

Für Shelly bedeutet IVF, dass sie ihren Körper ausleihen kann. An eine andere Frau, an ihre Schwester. Ein Embryo, gezeugt aus dem Ei ihrer Schwester und dem Samen deren Partner, könnte in Shellys Bauch zum Baby wachsen.

Wer darf eigentlich Kinder bekommen? Früher war es vor allem eine Glücksfrage, eine biologische Lotterie. IVF bedeutet für Shelly, Ori und viele andere Freiheit. Paare, die auf natürlichem Weg keine Kinder zeugen können, schwule Männer, Frauen nach den Wechseljahren – Technologie hat den Kreis potenzieller Eltern größer gemacht.

Aber nicht nur die Natur ist unfair, das Gesetz ist es auch. Für heterosexuelle, fruchtbare Menschen ist das Recht auf eigenen, genetisch verwandten Nachwuchs selbstverständlich. Für alle anderen ist es das vier Jahrzehnte nach Geburt des ersten Retortenbabys immer noch nicht. Viele Länder haben strenge Regeln für Leihmutterschaften oder erlauben sie gar nicht. Deutschland zum Beispiel. Ori und Shelly haben das Glück, in Israel zu leben.

III. Babys

Shelly ist völlig übermüdet nach einer schlaflosen Nacht auf dem Balkon, als ihr Handy klingelt. „Sie interessieren sich dafür, Leihmutter zu werden“, fragt eine aufgekratzte Frauenstimme und legt sofort los: 45.000 Dollar könne sie verdienen.

Die Frau am anderen Ende der Leitung arbeitet für eine Leihmutter-Agentur. Shelly hat bei ihrer nächtlichen Recherche ihre Kontaktdaten in ein Pop-up-Fenster eingegeben, das mehr Informationen zu Leihmutterschaften versprach.

Die Frau spricht schnell weiter. Um alles werde man sich kümmern, schwärmt sie: die bürokratischen Prozeduren, die Ärzte, es werde selbstverständlich auch psychologische Betreuung geben: „Das ist eine großartige Gelegenheit für Sie.“ Je länger Shelly zuhört, desto wütender wird sie. Sie möchte ihrer Schwester helfen, und jetzt ist sie mitten in einem Verkaufsgespräch. „Ich habe kein Interesse“, sagt sie der Agenturfrau, als die ihre erste Atempause macht, „bitte rufen Sie mich nicht wieder an.“

Bis dahin wusste Shelly noch nicht einmal, dass man als Leihmutter Geld verdienen kann, nun erfährt sie, dass diese Prozedur die Eltern ein anderthalbfaches durchschnittliches Jahresgehalt kosten kann. Sie denkt an ihre Schwester, an deren Schmerz, dass man von Menschen mit Kinderwunsch fast alles verlangen kann.

Im Internet findet sie eine Anwältin, die sich auf Leihmutterschaften spezialisiert hat. Shelly schreibt ihr eine Nachricht, wenig später ruft die Anwältin zurück und bietet ein Treffen an. Es ist kein Verkaufsgespräch. Aber trotzdem eine Enttäuschung. Die Anwältin erklärt: Das Gesetz in Israel erlaubt nicht, für eine Verwandte ein Kind auszutragen.

Shelly ist enttäuscht, erleichtert, und sie hat jetzt einen anderen Blick: Wenn sie durch die Straßen geht, sieht sie überall Babybäuche. Wie viele sind aus Versehen schwanger geworden? Wie viele haben dafür kämpfen müssen?

Shelly will nicht akzeptieren, dass manche Menschen aus Geldgründen keine Kinder haben können.

Shelly will nicht akzeptieren, dass manche Menschen aus Geldgründen keine Kinder haben können.

Shelly ist nun mit einem Gedanken schwanger. Wenn sie schon ihrer biologischen Schwester nicht helfen kann – wieso dann nicht einer anderen Frau, einer Schwester im übertragenen Sinn? Sie wählt noch einmal die Nummer der Anwältin. „Ich möchte Leihmutter werden. Für ein fremdes Paar.“ Und sie denkt: Ich will das umsonst machen.

In Tel Aviv schleppt sich Ori unter Schmerzen durch die Gegend. Er hat Knieprobleme. In seinem Leben kommt er im wahrsten Sinne des Wortes nicht vorwärts. Zur Arbeit schafft er es nicht mehr, er weint viel, er will niemanden sehen.

Eigentlich ist Ori ein Typ, der sich gerne mit der Schönheit des Lebens beschäftigt. Als Kosmetiker weiß er, wie man Haut zum Strahlen bringt. Sein Teint, der von Natur aus ein bisschen braun ist, hat einen goldenen Schimmer. Wenn man genau hinsieht, merkt man, dass eine dünne Schicht Makeup auf seiner Haut liegt.

Aber Ori ist auch ein Mann, der tut, was nötig ist, um zu kriegen, was er will. „Als Schwuler musste ich das lernen – egal, wie andere das finden“, sagt er. Als Anfang 2000 in Israel die zweite Intifada wütete und überall im Land Bomben explodierten, gründete Ori gegen den Rat aller Freunde ein Unternehmen für teure Bio-Kosmetik. Heute hat er ein Kosmetikzentrum im schicken Norden von Tel Aviv und einen Onlinehandel. Auf seiner Website kann man ein goldenes Gesichtsserum kaufen: 30 ml für 87 Dollar. Ori ist Erfolg gewöhnt.

Aber niemand kann ihm sagen, warum die elf Schwangerschaften nicht geklappt haben. Um ein Kind zu zeugen, schickt die Agentur das in Israel eingefrorene Sperma nach Indien, die Spenderin aus Südafrika wird eingeflogen und gibt ihre Eizellen ab. Die Ärzte injizieren das Sperma in die Eizellen und frieren die Embryonen nach fünf Tagen ein. Sobald der Körper der indischen Leihmutter bereit ist, wird ihr der Embryo eingesetzt. Bei Oris Tochter Lior wurde daraus beim zweiten Versuch eine Schwangerschaft.

Ori dachte, er müsste maximal ein Jahr warten. Mittlerweile wartet er fünf. Seine Zukunft ist eingefroren in einem Stickstofftank in Indien.

IV. Eltern

„Sie wollen kostenlos Leihmutter werden? Kommt gar nicht infrage!“, sagt die Anwältin zu Shelly. „Sie machen sich keine Vorstellung davon, wie intensiv eine Leihmutterschaft ist, wie viele Stunden sie damit beschäftigt sein werden.“ Shelly bleibt stur, ihre vage Idee hat sich zu Entschlossenheit gehärtet. Sie will nicht akzeptieren, dass es vom Geld abhängen soll, ob ein Paar ein Kind bekommen kann. Die Anwältin sagt zu Shelly: „Ich kenne keinen einzigen solchen Fall.“

Aber sie kenne ein Paar, das sich eine Leihmutterschaft nicht leisten könne.

Es sind zwei Mittdreißiger, religiöse Juden. Die Frau produziert Eizellen, kann aber kein Kind austragen. Ihr Mann ist zeugungsfähig. Dem jüdischen Religionsgesetz nach müsste er sich von ihr scheiden lassen. Das will er aber nicht.

Es ist jetzt Herbst in Hadera. Shelly trifft die beiden Menschen, mit denen sie vielleicht ein Kind zur Welt bringen will, in einem Café mit koscherer Küche. Der Mann trägt ein weißes Hemd, eine schwarze Hose und eine Kippa. Die Frau ein Kleid ohne Ausschnitt, das über die Knie geht.

Shelly weiß guten Stil zu schätzen. Sie selbst hat einen akkuraten, pechschwarzen Pagenkopf und schwarz umrandete Katzenaugen. Die Kleider und Blusen, die sie trägt, sind figurbetont.

Shelly kann mit Religion nicht viel anfangen. Aber dieses Paar gefällt ihr. Da ist eine Sanftheit in der Art, wie die beiden miteinander umgehen, die Shelly aus ihren eigenen Beziehungen nicht kennt. Im Nachhinein erinnert sich Shelly genau an einen Moment: Mitten im Gespräch greift die Frau nach der Hand ihres Mannes, hält sie fest und sieht ihm wortlos in die Augen. Tränen schimmern in ihrem Blick.

Shellys beste Freundin, die sie seit der siebten Klasse kennt, sagt, dass Shelly nie aus Trauer weint, höchstens aus Angst. Als Shelly an diesem Tag im koscheren Café das fremde Paar betrachtet, werden ihre Augen feucht. Es ist der Moment, in dem sie sich entscheidet, für diese beiden Menschen ein Kind zu bekommen.

Während Ori auf sein Kind wartet, tut er alles, um beschäftigt zu bleiben – zum Beispiel, indem er die Wohnung renoviert.

Während Ori auf sein Kind wartet, tut er alles, um beschäftigt zu bleiben – zum Beispiel, indem er die Wohnung renoviert.

In Tel Aviv schleppt sich Ori jeden Montagmorgen vier Stockwerke in eine winzige Wohnung hoch. In Räumen, die nach Meer und Abgasen riechen, hat er Therapie. Für klassische Psychotherapie hat er nicht viel übrig, Oris Ex-Freund ist Psychologe. Mit ihm hat Ori schon einmal sein ganzes Leben durchanalysiert. Mittlerweile geht er nur noch zu Therapeuten, die mit alternativen Methoden arbeiten. Die Therapeutin in der winzigen Wohnung arbeitet mit Fantasiereisen und schamanischen Krafttieren. Schon beim ersten Termin geschieht ein kleines Wunder: Ori sitzt seit zwanzig Minuten auf ihrem grünen Sofa, als sie ihn bittet, aufzustehen, er soll im Zimmer umhergehen. Ori geht bis zur Badezimmertür und kann es nicht glauben: Die Schmerzen im Knie sind weg. Die Frau lächelt. „Du musst loslassen“, sagt sie ihm. Seitdem kommt Ori jede Woche wieder.

Die Agentur, die Ori und Rami ausgesucht haben, heißt Tammuz Family. Der Slogan: „You dream of Babies: We make them happen.“ Auf der Website sieht man eine Regenbogenflagge und Bilder von glücklichen Vätern mit Babys. Ihr Gründer Doron Mamet kam auf die Idee, nachdem seine Tochter in den Vereinigten Staaten von einer Leihmutter zur Welt gebracht wurde – ein Prozess, der 140.000 Dollar gekostet hatte. Mamet dachte, dass das auch billiger gehen müsste. „Ich war in der High-Tech Branche und alle haben nach Indien outgesourct“, sagte er bei einer Konferenz in New York. Warum nicht auch Inder zum Kinderkriegen engagieren?

Mamet baute eine Infrastruktur mit Ärzten und Krankenhäusern in Südasien auf, und schon bald waren die ersten Frauen schwanger. Tammuz Family wird zu einer der größten Leihmutter-Agenturen der Welt. Tausende Menschen mit Kinderwunsch reisen mit Hilfe von Agenturen wie Tammuz nach Indien, wo es gute Ärzte gibt, hohe Standards und genug Frauen, die bereit sind, ihre Körper zu vermieten. Einige nennen Indien die Babyfabrik der westlichen Welt.

In Oris Bekanntenkreis mieten sich alle schwulen Männer zwischen 30 und 50 mit Kinderwunsch Leihmütter im Ausland. Denn in Israel gibt es kein Gesetz dagegen, dass ein Vater sein im Ausland geborenes Kind nach Hause bringen kann. Es ist eine allseits bekannte Lücke im System.

Aber immer mehr Kritiker in Indien rufen nach Regulierung. Sie befürchten, dass junge, arme Frauen ausgenutzt werden. Vielleicht gefällt es ihnen auch nicht, dass schwule Männer auf diese Weise Kinder bekommen. Schon 2013 hat Indien homosexuellen Paaren aus dem Ausland verboten, per Leihmutterschaft Kinder zu bekommen. Die Agenturen umgehen das Verbot, indem sie die schwangeren Leihmütter zum Gebären ins Nachbarland Nepal bringen.

Ori ist klar: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Indien und Nepal den Leihmutter-Tourismus ganz unterbinden werden. Elf frühe Fehlgeburten sind keine elf gestorbenen Kinder, aber Ori spürt den Tod in seinem Leben. Die nächste Schwangerschaft könnte die letzte Chance sein.

V. Opfer

In Hadera telefoniert Shelly oft mit der Frau, deren Kind sie bekommen soll. Sie nennt sie „die Mutter“ oder „die echte Mutter“. Oft weint die echte Mutter am Telefon, manchmal vor Freude, manchmal aus Angst. Sollte Shelly schwanger werden und das Kind verlieren, wird es keinen zweiten Versuch geben.

Shelly bekommt jetzt zum ersten Mal in ihrem Leben Hormone, die sie auf die Schwangerschaft vorbereiten. Monate vergehen. Sie hat viele Arzttermine, sie muss Blut abgeben, sie bekommt einen Ultraschall nach dem anderen, um zu prüfen, wie ihre Gebärmutterschleimhaut sich aufbaut. Die echte Mutter begleitet sie zu jedem Arzttermin.

Für das kinderlose Paar ist Shelly ein Gottesgeschenk. Shellys Bruder sagt ihr: „Du spinnst doch. Wie kannst du ein Kind weggeben?“

Shelly trifft einen Psychologen. Jede Leihmutter muss in Israel psychologisch untersucht werden. Der Psychologe ist misstrauisch, weil Shelly kein Geld will.

„Sind Sie gewohnt, sich für andere aufzuopfern?“

Shelly erzählt von ihrem Großvater, der sich sein ganzes Leben lang für andere Menschen eingesetzt hat, für Drogensüchtige und Obdachlose auf der Straße, die anderen keinen zweiten Blick wert waren. Sie sagt: „Ich habe lange nach etwas gesucht, das sich wirklich relevant anfühlt. Jetzt habe ich es gefunden.“

„Wie fühlt es sich an, nicht nur zu helfen, sondern den eigenen Körper herzugeben? “

Shelly antwortet, dass es sich ganz natürlich anfühlt. Dass sie eine schwesterliche Liebe zu der fremden Frau fühlt.

„Warum fühlen Sie diese Liebe? Weil sie unglücklich ist?“

Shelly sagt, darüber müsse sie nachdenken.

Keine zwei Wochen, nachdem Oris Agentur den zwölften Versuch bestätigt hat, geht es seiner Tochter plötzlich schlecht. Eines Nachts erbricht sich Lior, ihr ganzes Bett ist voll. Jedes Mal, wenn die Eltern denken, dass es vorbei ist, fängt sie wieder an zu würgen, bis sie nach Stunden endlich Ruhe findet. Ori schläft noch nicht lange, als er wieder tapsende Schritte im Zimmer hört. Lior steht im Zimmer, unter dem Oberteil ihres Schlafanzugs beult sich etwas. Ori schaut auf die Uhr, es ist fünf Uhr morgens. Lior strahlt. „Ich habe ein Baby im Bauch“, ruft die Tochter vergnügt, greift unter ihr Hemd und zieht eine Puppe heraus.

Am nächsten Tag ruft die Agentur an: Die Leihmutter ist schwanger. Ori kann zum ersten Mal seit Tagen wieder frei atmen.

Nur wenn diese zwölfte Schwangerschaft gut geht, werden Ori und Rami die Frau treffen, die ihr Kind austrägt. Sonst wird sie in der Reihe der elf anderen verschwinden. Doch selbst dann wird die Begegnung oberflächlich bleiben.

Wenn man Ori nach der Leihmutter fragt, die Lior zur Welt brachte, sagt er: „Sie war eine wunderschöne junge Inderin.“ Viel mehr weiß er nicht über sie.

Anders als bei Shelly und der echten Mutter basiert ihr Verhältnis komplett auf Geld. Die Leben von Eltern und Leihmutter berühren sich nur kurz für eine Transaktion und eine Dienstleistung. Ori bezahlt zehntausende von Dollar ja gerade dafür, dass er keine nähere Beziehung zu der Frau haben muss, die sein Kind auf die Welt bringt.

Er tut das ganz bewusst: Bevor er Rami kennenlernte, war Ori einmal knapp davor, eine ganz andere Art von Familie zu gründen. Eine gute Freundin wollte ein Baby und hatte keinen Partner, dafür aber mit über 40 eine laut tickende biologische Uhr. Ori und die Freundin ließen bei einem Anwalt einen Vertrag aufsetzen: Rechte und Pflichten der Eltern, ähnlich wie bei einem geschiedenen Paar mit Kindern, nur vor der Geburt. Dann machten sie einen Termin beim Arzt, für eine künstliche Befruchtung.

In der Nacht davor hatte Ori einen Traum: Er sah die Freundin mit zwei kleinen Kindern und einem anderen Mann. Eine Idealfamilie. Beim Aufwachen wusste er, dass er kurz davor war, einen großen Fehler zu machen. Auf einmal war klar, dass er keine dritte Person bei seinem Kind wollte, keine Mutter, die Teil dieser Beziehung war. Er wollte ein Kind mit einem Partner, den er liebt. Im Sommer 2009 trifft er Rami, zehn Jahre jünger, rotblondes Haar, Gesicht und Körper wie ein Filmstar. Zwei Jahre später heiraten die beiden Männer in einer privaten Feier ohne offizielle Urkunden, auf dem Video von der Hochzeit tanzt Rami in fast jedem Bild. Wieder zwei Jahre später kommt Lior auf die Welt.

An einem heißen Sommertag liegt Shelly auf einem Gynäkologenstuhl, die echte Mutter steht neben ihr. Eine Ärztin zieht den Ultraschallkopf durch das Gleitmittel und sagt: „Die Gebärmutterschleimhaut sieht super aus. Bringt mir den Embryo!“

Shelly sieht ein langes, dünnes Instrument, eine Art Nadel. Sie spürt etwas Eiskaltes in ihrem Bauch. Auf einem großen Bildschirm sieht sie eine Flüssigkeit in sie hineinfließen. Die echte Mutter neben ihr weint. Shelly zählt bis zehn. Dann ist der Embryo in ihr. Ob die Schwangerschaft erfolgreich ist, werden Bluttests zeigen.

Die Ärzte werden zuerst die echte Mutter anrufen, Shelly will es so.
Die Ärztin sagt: „Jetzt können Sie nur warten. Entspannen Sie sich. Und heben Sie nichts Schweres.“ Shelly bekommt noch mehr Hormone, geht jeden zweiten Tag zum Bluttest, der nächste Ultraschall ist in zehn Tagen.

Es ist der letzte Tag im August 2018, als Shellys Telefon klingelt.

„Der HCG-Wert liegt bei über 900!“, jubelt die echte Mutter.
„Was heißt das?“, fragt Shelly.
„Wir sind schwanger!“


Die Geschichte geht im nächsten Teil dieser zweiteiligen Serie weiter. In der nächsten Folge fliegen Ori und Rami nach Nepal. Shelly bekommt Zweifel. 80.000 Menschen gehen in Tel Aviv für ein liberaleres Leihmutterschaftsrecht auf die Straße.