Ernährungsberatung ist ein verdammt harter Job. Und das meine ich nicht zynisch. Wie soll man diese Arbeit ordentlich machen, wenn Ernährungswissenschaftler:innen ständig widersprüchliche Ergebnisse produzieren?
Nehmen wir nur einmal die Meldung, die vergangene Woche überall herumging: Jahrelang hieß es, Menschen sollten rotes Fleisch – also Lamm, Rind- und Schweinefleisch – und Wurst lieber nur in Maßen essen, weil sie sonst ihr Risiko unter anderem für Darmkrebs und Herz-Kreislauf-Krankheiten erhöhen würden. Diese Empfehlung war bisher die Grundlage fast aller Ernährungsrichtlinien. Nicht mehr als 300 bis 600 Gramm Fleisch pro Woche empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung.
Vielleicht hast du es schon gelesen: Für diesen Rat gibt es keine eindeutigen Belege. Denn ein internationales Forscherteam aus Ernährungs- und Gesundheitswissenschaftlern hat bestehende Studien neu ausgewertet. Und zwar so umfangreich wie kaum jemand zuvor. Und leider kamen die Forscher:innen zu einem niederschmetternd vagen Schluss in der Frage, ob Fleischkonsum Krankheiten begünstigt: „Vielleicht lässt sich das Risiko reduzieren – vielleicht aber auch nicht“, so der Epidemiologie-Professor Bradley Johnston, Hauptautor.
Weil es also keine klaren Beweise gibt, hat es den Autoren zufolge auch keinen Sinn, Menschen weniger Fleisch und Wurst zu empfehlen – Erwachsene sollen rotes und verarbeitetes Fleisch also einfach weiteressen, wie bisher (hier die Studie).
Die Ernährungswissenschaft ist jung – und sie braucht Geld
Es ist wohl eine willkommene Nachricht für alle, die sich Fleisch bisher aus Gesundheitsgründen verkniffen haben. Der Run auf die Kühltruhen in den Supermärkten wird aber trotzdem ausbleiben. Nicht unbedingt, weil die Menschen begriffen haben, dass an fast allen tierischen Lebensmitteln viel zu hohe Umwelt- und Klimakosten hängen, vom Tierwohl ganz zu schweigen. Sondern weil wir in den letzten Jahren so viele widersprüchliche Ernährungsratschläge bekommen haben, dass sowieso niemand mehr weiß, was er oder sie denken soll.
Klar ist, dass die Ergebnisse dieser neuen Studie ziemlich ungemütliche Fragen darüber aufwerfen, was Ernährungsstudien und die Ratschläge, die daraus folgen, eigentlich wert sind. Es war ja nicht die erste Kehrtwende: Ähnlich erging es in den vergangenen Jahren schon den Empfehlungen zu Salz, Kohlenhydraten und Fett. Das sorgt nicht gerade für Glaubwürdigkeit, was die restlichen Empfehlungen betrifft. Und es hilft auch nicht, dass manche Studien von Unternehmen gesponsort werden, die Interessen an bestimmten Ergebnissen haben.
Der oben zitierte Autor der Fleisch-Studie etwa, Bradley Johnston, war 2016 Hauptautor einer weiteren Übersichtsarbeit, damals zu den möglichen Gesundheitsgefahren durch Zucker, die vom International Life Sciences Institute bezahlt wurde. Dieses wird von multinationalen Lebensmittel- und Agrochemie-Unternehmen gefördert, darunter Coca-Cola und PepsiCo. Das Ergebnis der Zuckerstudie war ähnlich wie jetzt beim Fleisch: Es gebe nicht ausreichend Beweise dafür, dass weniger Zucker gesünder sei, um entsprechende Empfehlungen abgeben zu können.
Laut Marion Nestle, die an der University of New York lehrt und Interessenkonflikte in der Ernährungswissenschaft erforscht, baut Johnson seine Karriere darauf auf, gängige Ernährungsempfehlungen zu zerpflücken. Bei der aktuellen Fleisch-Studie hat der Forscher keine Interessenkonflikte angegeben, was der Form nach richtig ist – weil er nur potenzielle Konflikte aus seiner Arbeit in den letzten drei Jahren angeben musste. Das Geld für die Zuckerstudie floss 2015 und damit außerhalb dieses Zeitfensters (Hier ein Hintergrundartikel der New York Times darüber.)
Struppige Mäuse mit Vitaminmangel
Eigentlich kann man es der Ernährungswissenschaft nicht vorwerfen, dass sie unklare und widersprüchliche Ergebnisse produziert. Sie ist einfach noch sehr jung. Ich zitiere in diesem Zusammenhang immer gerne den bei Ernährungsthemen extrem kompetenten US-Journalisten Michael Pollan: „Die Ernährungswissenschaft ist ungefähr auf dem Stand, wo die Chirurgie im Jahr 1650 war. Also sehr interessant und vielversprechend, aber willst du dich wirklich schon auf den Operationstisch legen?“ (Das Zitat stammt aus diesem Interview, die Übersetzung von mir.)
Zwar beschäftigen Menschen sich schon seit Jahrtausenden mit der Frage, wie das, was wir essen, sich auf unsere Körper auswirkt – eines der ältesten Beispiele ist die ayurvedische Ernährungslehre, die vor 5.000 Jahren entstanden ist. Aber die Ernährungswissenschaft als eigenständige Studienrichtung gibt es noch nicht lange. Bis ins 19. Jahrhundert wussten die Menschen noch nicht einmal, dass es Vitamine gab – man dachte, dass unsere Ernährung nur aus Eiweiß, Fett, Kohlenhydraten und Mineralstoffen bestand. Von Vitaminen, Ballaststoffen, Spurenelementen war noch keine Rede.
Tierversuche, bei denen Forscher 1881 Mäuse mit einem Cocktail aus den damals bekannten Nährstoffen künstlich zu ernähren versuchten, gingen aber schief. Wie der Arzt und Schriftsteller Gerhard Venzmer später berichtete, begannen die Mäuse „bald zu kränkeln, dann magerten sie zusehends ab, das Fell wurde struppig, die Haare fielen aus, die sonst so blanken Äuglein starrten glanzlos und trübe; und nicht lang, so hatten die Mäuslein ihren letzten Piepser getan“.
Bekamen die armen Mäuse jedoch noch ein bisschen frische Milch, überlebten sie. Ein naturbelassenes Lebensmittel sollte gesünder sein als ein wissenschaftlich zusammengestellter Nährstoffcocktail? 1881 galt das als seltsam.
Dennoch war klar, dass in unserer Nahrung noch weitere lebenswichtige Stoffe stecken mussten. Das erste Vitamin wurde 1926 isoliert und chemisch definiert, und zwar Vitamin B1 aus Reiskleie. Seitdem ist die Ernährungsforschung zunehmend komplexer geworden – und die Hoffnung auf einfache Antworten mit jeder neuen Studie kleiner.
Eine perfekte Ernährung – das wird schwierig
Vitaminmangel und seine Folgen lassen sich noch gut nachweisen, aber wenn man überprüfen will, ob ein Lebensmittel krank macht, wird es schwierig. Denn man kann Menschen für Studien schlecht bergeweise Fleisch essen lassen, um zu schauen, ob sie dadurch öfter Herzinfarkte oder Diabetes kriegen. Ernährungswissenschaftler:innen arbeiten daher oft mit Beobachtungsstudien, sie betrachten also Gruppen von Menschen, die sich sowieso auf eine bestimmte Weise ernähren.
Das bringt statistische Zusammenhänge, aber leider keine harten Beweise. Das geht nur mit randomisierten Kontrollstudien, bei denen Menschen über einen bestimmten Zeitraum Ernährungspläne bekommen, bei denen sie zum Beispiel weiter Fleisch essen dürfen, oder eben nicht. Doch selbst solche Studien bringen oft widersprüchliche Ergebnisse, wie die gerade erschienene Übersichtsarbeit gezeigt hat.
Lebensmittel, und wie sie mit Körpern zusammenwirken, sind offenbar eine komplizierte Angelegenheit. Viel mehr, als sich jene Forscher träumen ließen, die vor noch nicht anderthalb Jahrhunderten Mäuse mit Kasein und Milchzucker, Fett und Salz fütterten und dachten, damit sei die perfekte Ernährung gebongt. Und so kommt es, dass wir heute ständig in den Genuss neuer, widersprüchlicher Ernährungstipps kommen, aus denen sich dann halt jede:r die Diät baut, die zu den eigenen Vorlieben passt (oder eine moderne Zwangsstörung, wie ich hier beschrieben habe.
Plastik-Käse und Margarineplätzchen
Ich mache nicht die harte Arbeit der Ernährungforscher:innen, ich schreibe nur ab und zu über sie. Da ist es leicht, sich zu beschweren. Ich lege dazu hiermit offen, dass in meinem Elternhaus in den 90ern auf einmal der normalfette Käse aus Gesundheitsgründen mit gelben Scheiben ersetzt wurde, deren Konsistenz und Geschmack stark an Plastikschnellhefter erinnerte. Und Butter durch Töpfe voll Pflanzenfett.
Wir wissen alle, wie das ausging: Mittlerweile ist klar, dass man Fett, auch tierisches, nicht pauschal verteufeln kann, viele Fette sind sogar gesund. Das ist schön zu wissen. Aber niemand gibt mir und meiner Familie die verlorenen Jahre zurück, in denen unsere Weihnachtsplätzchen nach Margarine geschmeckt haben.
Bist du selbst Ernährungswissenschaftler:in oder -berater:in? Dann würde mich interessieren, wie du in deiner Arbeit mit den Schwierigkeiten umgehst, die ich in diesem Artikel beschreibe. Schreib mir an theresa@krautreporter.de