Warum es unmöglich ist, wirklich komplett vegetarisch zu essen

© unsplash / Waldemar Brandt

Sinn und Konsum

Warum es unmöglich ist, wirklich komplett vegetarisch zu essen

Wir sind, was wir essen. Wenn das für uns gilt, gilt das auch für unsere Nahrung.

Profilbild von Ein Denkanstoß von Philosophie-Dozent Andrew Smith, Pennsylvania

Für den Fall, dass du den Teil über das Nahrungsnetz aus dem Biologieunterricht vergessen hast: Hier kommt eine kurze Auffrischung.

Pflanzen bilden die Basis jeder Nahrungskette im Nahrungsnetz (das auch Nahrungskreislauf genannt wird). Sie nutzen die Sonne, um Wasser aus dem Boden und CO2 aus der Luft in den Zucker Glukose zu verwandeln. Die gibt ihnen die Energie, die sie zum Leben brauchen. Anders als Pflanzen können Tiere nicht ihr eigene Nahrung herstellen. Tiere überleben, indem sie Pflanzen oder andere Tiere essen.

Es ist offensichtlich, dass Tiere Pflanzen fressen. Was nicht so klar ist: Pflanzen fressen auch Tiere (zum Beispiel findest du hier etwas über „Fischemulsion“). Das nenne ich die Transitivität des Essens. Und das bedeutet, so argumentiere ich, dass man kein Vegetarier sein kann.

Verdau das erstmal

An dieser Stelle mache ich jetzt mal eine Pause, bis das Aufheulen der Biolog:innen und der (bisher unter diesem Begriff bekannten) Vegetarier:innen leiser wird.

Was ist Transitivität? Wenn sich das erste Element einer Reihe auf eine bestimmte Weise zu einem zweiten Element verhält und das zweite Element auf die gleiche Weise zu einem dritten, dann verhalten sich auch das erste und dritte Element in dieser Weise zueinander.

Nimm den abgegriffenen Spruch „Du bist, was du isst“. Sagen wir doch stattdessen: „Du bist der, den du isst.“ Das macht die Sache persönlicher. Außerdem impliziert er, dass die Wesen, die unsere Nahrung bilden, nicht nur Dinge sind.

Wie unsere Nahrung lebt und stirbt, ist wichtig. Wenn wir die sind, die wir essen, dann ist auch unser Essen das, was es isst. Das bedeutet, dass wir auch sind, was unsere Nahrung isst.

Pflanzen gewinnen Nährstoffe aus dem Boden, der unter anderem aus verrotteten pflanzlichen und tierischen Überresten besteht. So essen auch diejenigen Menschen tierische Überreste, die davon ausgehen, dass sie von einer rein pflanzlichen Ernährung leben.

Deshalb ist es unmöglich, Vegetarier zu sein.

Fürs Protokoll, ich bin seit 20 Jahren „Vegetarier“ und ernähre mich seit sechs Jahren fast „vegan“. Ich habe nichts gegen diese Essgewohnheiten. Das ist nicht mein Punkt. Aber ich denke, dass viele „Vegetarier:innen“ und „Veganer:innen“ den Erfahrungen derjenigen Wesen mehr Aufmerksamkeit schenken sollten, die wir zu unseren Essen machen.

Zum Beispiel nennen viele Vegetarier:innen als Grund für Fleischverzicht, dass Tiere fühlende Wesen sind. Aber es gibt gute Gründe zu glauben, dass Pflanzen ebenfalls Empfindungen haben. Mit anderen Worten: Pflanzen sind sich ihrer Umgebung deutlich bewusst und reagieren auf sie. Und zwar sowohl auf angenehme als auch unangenehme Erfahrungen.

Falls du mir nicht glaubst, schau dir die Arbeit der Pflanzenkundler Anthony Trewavas, Stefano Mancuso, Daniel Chamovitz and František Baluška an. Sie haben gezeigt, dass Pflanzen unsere fünf Sinne teilen – und etwa 20 weitere haben. Sie haben ein hormonelles Informationsverarbeitungssystem, das dem neuronalen Netzwerk der Tiere entspricht. Sie zeigen deutliche Anzeichen von Selbstwahrnehmung und Intentionalität. Und sie können sogar lernen und anderen etwas beibringen.

Es ist auch wichtig zu wissen, dass Vegetarismus und Veganismus nicht immer umweltfreundlich sind. Das zeigt sich schon am CO2-Fußabdruck deines Morgenkaffees. Oder daran, wie viel Wasser benötigt wird, um die Mandeln herzustellen, die du als Nachmittagssnack isst.

Essen heißt nicht nur kauen und schlucken

Ich kann mir schon vorstellen, wie einige Biolog:innen reagieren werden: Erstens essen Pflanzen nicht wirklich, da „essen“ die Nahrungsaufnahme anderer Lebensformen in Form von Kauen und Schlucken bedeute. Zweitens stimme es zwar, dass Pflanzen Nährstoffe aus dem Boden aufnehmen und dass diese Nährstoffe von Tieren stammen könnten. Aber diese sind streng anorganisch: Stickstoff, Kalium, Phosphor und Spurenelemente. Sie sind Bestandteile von recycelten Mineralien, ohne Überreste von Tieren.

Was den ersten Punkt betrifft, so wäre es vielleicht hilfreich, wenn ich nicht das Wort „essen“ benutzen würde, sondern sage, dass sowohl Pflanzen als auch Tiere Dinge aufnehmen, konsumieren oder sie sich zunutze machen. Der Punkt ist, dass Pflanzen Kohlendioxid, Sonnenlicht, Wasser und Mineralien aufnehmen, um zu wachsen. Pflanzen konsumieren etwa so viel wie sie produzieren. Und sie sind bei der Herkunft ihrer Nährstoffe nicht im Geringsten wählerisch.

Was den zweiten Einwand betrifft: Warum sollte es wichtig sein, dass die Nährstoffe, die Pflanzen aus Tieren gewinnen, anorganisch sind? Sind wir nur dann der, den wir essen, wenn wir die organische Substanz der Wesen aufnehmen, die unsere Nahrung werden? Ich gestehe, dass ich nicht verstehe, warum das so sein sollte. Es scheint mir ein Vorurteil von Biolog:innen zu sein, sich auf organische Substanzen zu konzentrieren.

Dann gibt es noch das Argument, dass die Wiederwendung von Mineralien die Nährstoffe von ihrem tierischen Gehalt reinigt. Dies ist eine umstrittene Behauptung, und ich glaube nicht, dass sie stimmt. Hier dringen wir zum Kern dessen vor, wie wir unser Verhältnis zu Nahrung sehen. Man könnte sagen, dass es hier um spirituelle Fragen geht und nicht nur um Themen der Biochemie.

Wir essen. Wir werden gegessen

Betrachten wir unser Verhältnis zur Nahrung auf eine andere Weise: indem wir die Tatsache berücksichtigen, dass wir Teil einer Gemeinschaft von Lebewesen sind – Pflanzen und Tieren –, die den Ort bewohnen, den wir zu unserem Zuhause machen.

Wir essen, ja, und wir werden auch gegessen. Ja, wir sind auch Teil des Nahrungsnetzes! Und das Wohlbefinden eines jeden hängt vom Wohlbefinden aller ab.

Aus dieser Perspektive bietet das klare Vorteile, was der selbsternannte „Farmosoph“ Glenn Albrecht in seinem Blog als Sumbiotarianismus (vom altgriechischen Wort symbioun, zusammenleben) bezeichnet.

Die Sumbiokultur ist eine Form der Permakultur oder der nachhaltigen Landwirtschaft. Es ist eine organische und biodynamische Art der Landwirtschaft, die mit der Gesundheit ganzer Ökosysteme vereinbar ist.
Sumbiotarer:innen essen in Übereinstimmung mit ihrem Ökosystem. Sie verkörpern also buchstäblich die Idee, dass das Wohlbefinden unserer Lebensmittel – und damit unser eigenes Wohlbefinden – von der Gesundheit des Landes abhängt.

Damit unsere Bedürfnisse erfüllt werden können, müssen die Bedürfnisse und Interessen des Landes an erste Stelle stehen. Und in Gegenden, in denen es ungeheuer schwierig ist, die von uns benötigten essenziellen Fette allein aus gepressten Ölen zu gewinnen, kann das auch Formen der Tierverwertung beinhalten – für Fleisch, Gülle und so weiter.

Einfach ausgedrückt kann ein nachhaltiges Leben in einem solchen Gebiet – sei es Neuengland im Nordosten der USA oder das australische Outback – bedeuten, dass man sich zumindest in begrenztem Maße auf Tiere als Nahrung verlassen muss.

Alles Leben ist in einem komplexen Netz wechselseitiger Beziehungen zwischen Individuen, Arten und ganzen Ökosystemen miteinander verbunden. Jeder von uns leiht sich Nährstoffe, nutzt sie und gibt sie zurück. Dieser Zyklus lässt das Leben weitergehen. Reichhaltiger, schwarzer Boden ist so fruchtbar, weil er mit den kompostierten Überresten der Toten vollgestopft ist und mit dem Müll der Lebenden.

Tatsächlich ist es nicht ungewöhnlich, dass indigene Völker die Verehrung ihrer Vorfahren und ihres angestammten Landes damit verbinden, den lebensspendenden Charakter der Erde zu feiern. Denk mal über dieses Zitat der indigenen Wissenschaftlerin und Aktivistin Melissa Nelson nach:

„Die Knochen unserer Vorfahren sind zu Erde geworden, die Erde lässt unser Essen wachsen, das Essen nährt unseren Körper. Und wir werden eins mit unserer Heimat, buchstäblich und metaphorisch.“

Du kannst natürlich gerne anderer Meinung sein. Aber es ist bemerkenswert, dass das, was ich vorschlage, konzeptionelle Wurzeln hat, die so alt sein könnten wie die Menschheit. Nimm dir etwas Zeit, das zu verdauen. Es lohnt sich.


Andrew Smith ist Dozent für Englisch und Philosophie an der Drexel-Universität in Philadelphia. Derzeit arbeitet er an seinem dritten Buch, das sich mit der Philosophie des US-Schriftstellers und Kulturkritikers Daniel Quinn befasst. Smith verfasst darüber hinaus Artikel, in denen es um die Bewältigung einer ökologischen Katastrophe geht.

Seinen Artikel veröffentlichte in Englisch The Conversation. Hier könnt ihr den Originalartikel lesen.

Übersetzung: Rebecca Kelber; Redaktion: Philipp Daum; Schluss- und Fotoredaktion: Vera Fröhlich

The Conversation