Wenn ich Werbung sehe oder Buchtitel oder Posts, bei denen ich innerlich die Augen verdrehe, rege ich mich mittlerweile selten auf. Ich denke „Anscheinend bin ich nicht die Zielgruppe“ und mache weiter mit meinem Leben. Aber das fällt mir zunehmend schwer, wenn es um „gesunde Ernährung“ geht.
Denn mit diesem Thema beschäftige ich mich seit Jahren. Und hier gehöre ich auch durchaus zur Zielgruppe: Ich lebe in einer Großstadt, habe Abitur, bin eine Frau und verbringe einen großen Teil meiner digitalen Zerstreuzeit auf sozialen Medien. Jeder anständige Werber könnte bei meinem Profil voraussagen, was in meiner Küche steht (ein ziemlich sicherer Tipp wäre z.B. kein oder wenig Fleisch, drei Viertel der Vegetarier:innen sind überdurchschnittlich gebildete Frauen und leben in Städten mit mehr als 500.000 Einwohnern). Aber es betrifft noch viel mehr Menschen: Laut der letzten Ernährungsstudie der Techniker Krankenkasse („Iss was, Deutschland“, von 2017) ist 45 Prozent der Menschen gesundes Essen inzwischen wichtiger als der Geschmack. In der TK-Studie 2013 sah dies noch ganz anders aus: Da war „Hauptsache lecker“ noch das wichtigste Kriterium.
Deswegen ist es nicht egal, dass Autoren, auf deren Ernährungstipps mittlerweile Millionen Menschen hören, und deren Ratgeber in Bestsellerlisten stehen, oft gar keine Experten für Ernährung sind. Sondern vor allem gut im Fotografieren und Filmen und darin, ihre persönliche Geschichte zu erzählen. So erreichen sie die Menschen auf eine Weise, von der Experten, die ihr Fach jahrelang gelernt haben, nur träumen können. Und preisen ihre manchmal ziemlich unausgewogenen Ernährungsweisen als Allheilmittel für alle möglichen Probleme an, von Übergewicht bis Depressionen.
Viele schreiben bei amerikanischen Influencern ab
„Diese unqualifizierten Food-Blogger basieren ihr Ernährungspredigten auf n=1. Das heißt, dass etwas, das für sie funktioniert hat, auch für den Rest der Bevölkerung klappen wird. Das ist aber keine Wissenschaft und kann gefährliche Folgen haben, von Mangelerscheinungen bis zu Wachstums- und Entwicklungsstörungen bei Teenagern“, schreibt die britische Ernährungsberaterin Renee McGregor, die ihren Beruf tatsächlich studiert hat.
Wenn man sich ansieht, welche Ernährungsratgeber in letzter Zeit erfolgreich waren, findet man viele Inhalte, die klingen, als wären sie mehr oder weniger ungefiltert bei amerikanischen Influencern abgeschrieben.
Über zuckerfreie Ernährung, low carb, alles, was man aus tiefen Schüsseln essen kann („Bowls“) und, ganz wichtig: den Glow. Das ist ein Begriff, der 1:1 aus der amerikanischen Blogger-Szene kopiert ist. Er beschreibt ein inneres Leuchten, das aus der richtigen Ernährung und innerem Gleichgewicht entstehen soll. „Schönheit kommt von innen“, hieß das noch bei Oma. Die Bloggerin Hannah Frey hat gerade ein Buch mit dem Titel „Inner Glow: Das ganzheitliche 28-Tage Programm für mein strahlendes Ich“ veröffentlicht. Frey ist eine Ausnahmeerscheinung in der Szene, denn sie ist immerhin Gesundheitswissenschaftlerin und hat Ahnung, wovon sie redet – amerikanische Buzzwords hin oder her.
Weniger Ahnung, aber dafür mehr Follower, hat Pamela Reif, eine der erfolgreichsten Influencerinnen Deutschlands. Sie ist weder Ernährungswissenschaftlerin noch Diätassistentin, aber ihr Buch ist gerade ein Amazon-Bestseller und hat auch gleich einen halbenglischen Titel, um das Instagram-Feeling abzubilden: „You deserve this – Einfache & natürliche Rezepte für einen gesunden Lebensstil“. Reif hat 4,3 Millionen Follower auf Instagram.
Typisch ist auch die Geschichte der Fernsehmoderatorin Anastasia Zampounidis, die sich als trockenen Ex-Sugarholic bezeichnet und in ihren sehr erfolgreichen Büchern (aktuell: „Für immer zuckerfrei“) erzählt, wie sie aufhörte, raffinierten Zucker zu essen. Zampounidis ist 50 und sieht auf ihren Bildern eher aus wie 30.
„Die zentrale Botschaft ist: „Iss wie ich – und sehe aus wie ich”, schreibt Renee McGregor.
Ich möchte diesen letzten Satz mit einem Video von Pamela Reif unterstreichen.
https://www.instagram.com/p/BteBrOkivq9/?utm_source=ig_web_copy_link
„Elemente eines postfaktischen Kults“
Anstrengend inszenierte Fotos und Videos wie dieses sind typisch für die Szene, ebenso wie überbordende Mengen an Avocados, Quinoa und Energiebällchen in den Rezepten ihrer Hauptwerke. Das hat Auswirkungen, die auch Menschen betreffen, die gar keine sozialen Medien nutzen: Die Importmenge der beim Anbau extrem wasserschluckenden Avocados hat sich nicht zuletzt deswegen in Deutschland in den vergangenen Jahren vervielfacht, von weniger als 20.000 Tonnen in 2008 auf rund 71.000 Tonnen in 2017. Ohne Influencer gäbe es auch keine Chia-Samen und keinen Kokosblütenzucker bei Aldi: Ein teurer Zuckerersatz, den die Anti-Zucker-Szene liebt, weil er gesünder sein soll als Haushaltszucker. Aussagekräftige Studien gibt es dazu nicht. Was kein Problem wäre – es kann ja jeder den Zucker kaufen, den er möchte – aber spätestens dann fragwürdig wird, wenn in „zuckerfreien“ Kochbüchern Rezepte mit Kokoszucker auftauchen.
Ernährungsberaterin McGregor musste am eigenen Leib erleben, dass die Verehrung für Ernährungsinfluencer fanatische Züge annehmen kann. Bei einem Literaturfestival in Cheltenham saß sie Anfang letzten Jahres auf einer Bühne mit Madeleine Shaw, Autorin von „Get the Glow“ und „Ready Steady Glow“ (277.000 Instagram-Fans) und Vertreterin der auch in Deutschland populären Clean-Eating-Bewegung, bei der es darum geht, nur natürliche, unverarbeitete Lebensmittel zu essen (eine unglückliche Wortwahl, denn auch ein frischgepresster Orangensaft oder ein Sauerteigbrot sind „verarbeitet“).
Die Ernährungsberaterin wagte, die Instagram-Göttin darauf hinzuweisen, dass die Ernährungsregeln, die sie in ihren Büchern aufstellte, bei jungen Menschen zur Essstörungen führen könne (ein Schwerpunkt in McGregors Praxis ist genau das). Daraufhin wurden hunderte Fans im Publikum wütend. Wie eine weitere Teilnehmerin des Panels, die Ernährungsjournalistin Bee Wilson, später im britischen Guardian schrieb, unterbrachen sie mit Rufen und Zischen die Debatte und forderten von den Frauen, die Shaws Weisheit infrage stellten, dass sie die Bühne verlassen sollten. Später ließen Shaw-Fans abfällige Kommentare über das Aussehen der Expertinnen auf Twitter fallen, Hashtag #youarewhatyoueat. Bee Wilson schrieb später, sie habe an diesem Abend erkannt, dass Clean Eating „Elemente eines postfaktischen Kults“ aufweise. Das ließe sich auch über andere Teile der Insta-fluencer-Szene sagen.
Was Experten wissen, zählt immer weniger
Zur Erinnerung: Das Wort „postfaktisch“ (Übersetzung des Englischen Begriffs „post-truth“) war 2016, also im Jahr, als Donald Trump Präsident wurde, „Wort des Jahres“ in Deutschland. In der Entscheidung der Jury erklärte die Gesellschaft für deutsche Sprache, das Wort benenne einen tiefgreifenden politischen Wandel: Nämlich, dass in politische Debatten heute gefühlte Wahrheiten mehr Erfolg bringen als Tatsachen, Fakten unwichtiger sind als Emotionen. Oder, um es wie dieser Cartoonist zu sagen: „Statt ‘Ich denke, also bin ich’ – „Ich glaube es, daher habe ich Recht!“
https://twitter.com/MartinShovel/status/807504415875854336?s=20
„Expertenwissen verliert gegenüber dem Alltagswissen an Bedeutung. In sozialen Medien zählt die eigene Geschichte, die man erlebt hat, mehr als wissenschaftliche Studien“, schreibt der Verband für unabhängige Gesundheitsberatung (UGB). „In den Bloggergemeinschaften entwickeln sich eigene Ernährungskonventionen. Die Vorstellungen, was eine gesunde Ernährung ausmacht, sind dabei in der Regel sehr rigide.“
2017 haben die Forscherinnen Pixie Turner und Carmen Lefevre vom University College in London eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass Menschen, die Instagram stark nutzen, häufiger Symptome einer Orthorexie aufweisen – sie ernähren sich also zwanghaft gesund (hier habe ich mehr über diese Störung geschrieben). Sie konnten zeigen, dass der sogenannte „Echokammer-Effekt“ sozialer Medien nicht nur bei politischen Themen wirkt, sondern auch im Bereich Gesundheit: Weil sie sich vor allem mit Gleichgesinnten austauschen, nehmen Nutzer ihre Werte und Ansichten als sehr viel verbreiteter wahr, als diese tatsächlich sind, und bestärken sich darin.
Influencer wissen, wie man normale Menschen erreicht – Wissenschaftler nicht
Die Tatsache, dass Influencer eben nicht (oder selten) Wissenschaftler sind, ist ein maßgeblicher Faktor für ihren Erfolg. Denn ein wesentlicher Aspekt des Postfaktischen ist ein Misstrauen gegenüber Teilen der Gesellschaft, die als „Elite “ verstanden werden, als Teil von „denen da oben”. Sie sind damit viel unsympathischer als die freundlichen Influencer, die scheinbar so viel näher an den normalen Menschen sind. Die extrem erfolgreiche Ella Mills etwa, die ihre Stoffwechselkrankheit mit pflanzlicher, zucker- und glutenfreier Ernährung überwunden haben soll, damit berühmt und mit ihrem Ernährungsportal wohl auch ziemlich reich wurde, hat gerade ein Baby bekommen. Gefühlt zehn Minuten nach der Geburt waren die ersten Fotos von Mutter und Kind auf Instagram. Augenzwinkernd schrieb sie von den Erwachsenenwindeln die sie nach der Entbindung tragen muss – inklusive Fotos, die zugegeben ziemlich sympathisch sind.
https://www.instagram.com/p/B0q1alPDnIP/?utm_source=ig_web_copy_link
Welcher Wissenschaftler macht so etwas? Sollten sie es tun müssen, um ernstgenommen zu werden? Der Verband für unabhängige Gesundheitsberatung schlägt tatsächlich vor, dass sich Ernährungswissenschaftler stärker an der Kommunikation in sozialen Medien orientieren sollten. Vielleicht ist das eine Lösung. Ich zweifele daran. Lieber wäre mir, wenn Ernährungsinfluencer öfter deutlich machen würden, dass nicht jeder gesund, glücklich und schön wird, der ihrer Vorstellung von gesunder Ernährung folgt. Manche tun das auch. Die werden aber selten reich.
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion; Bent Freiwald. Fotoredaktion: Martin Gommel.