Wenn gesundes Essen zwanghaft wird

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Sinn und Konsum

Wenn gesundes Essen zwanghaft wird

Vor zwanzig Jahren hat ein US-Arzt ein Krankheitsbild beschrieben, für das sich damals kaum jemand interessiert hat. Er war seiner Zeit weit voraus.

Profilbild von Theresa Bäuerlein
Reporterin für Sinn und Konsum

Hast du schon einmal von Orthorexia nervosa gehört? Wenn nicht, wird es wahrscheinlich bald so weit sein. Der Begriff beschreibt eine Essstörung, bei der sich Menschen zwanghaft mit gesunder Ernährung beschäftigen. Das muss man sich noch einmal, Entschuldigung, auf der Zunge zergehen lassen: Es geht also darum, dass Menschen so sehr versuchen, gesund zu essen, dass es sie krank macht. Erfunden hat den Begriff Steven Bratman, ein amerikanischer Arzt, vor mehr als 20 Jahren. Er war seiner Zeit weit voraus.

Bratman stellte fest, dass das Interesse an gesunder Ernährung kippen kann: In ein obsessives Verhalten, bei dem Menschen ständig darüber nachdenken, was sie essen und wo sie ihre Lebensmittel herbekommen, bei dem ihr Wohlbefinden davon abhängt, ob sie das „Richtige“ zu sich genommen haben, und die dabei einem Katalog strikter Regeln folgen, von dem sie nicht mehr abweichen können.

Als Krankheitsbild ist Orthorexie nicht offiziell anerkannt, aber in letzter Zeit lese ich den Begriff überall. Denn diese Störung passt sehr gut zum Zeitgeist: Fast jeder kennt Menschen, die sich irgendwie zwanghaft damit beschäftigen, wie „gesund“ ihre Ernährung ist. Die Ernährungsblogs lesen und „Experten“ auf sozialen Medien folgen oder Bücher kaufen, die versprechen, mit Verzicht auf bestimmte Gruppen von Lebensmitteln – zum Beispiel Zucker, Getreide, Gluten, Kohlenhydrate – nicht nur den eigenen Körper, sondern auch die Psyche zu heilen.

Anerkennung erhält nur die Idee, nicht aber ihr Urheber

Ich habe Bratman 2014 einmal in seiner Praxis in Kalifornien angerufen. Er wusste sofort, dass es um Orthorexie ging. Das sei der einzige Grund, aus dem die Presse mit ihm reden wolle, erklärte er und sagte, dass er keine große Lust mehr auf diese Gespräche habe. Die schlechte Laune konnte ich gut verstehen, denn man findet im Internet zwar mehr als eine halbe Million Einträge zum Suchbegriff „Orthorexia“, aber nicht mal fünf Prozent erwähnen dabei Bratman. Er war frustriert darüber, dass seine Idee Anerkennung bekam, aber nicht ihr Urheber.

Ich wollte wissen, wie er es fand, dass seine „Krankheit“ mittlerweile scheinbar flächendeckend ausgebrochen war. Leider war der Arzt aus dem oben genannten Grund nicht gesprächig. Er verwies mich auf sein Buch, in dem er die Störung beschreibt, „Health Food Junkies“, das sich extrem schlecht verkauft habe. Und sagte, er habe losgelassen: Er sei zwar der Vater von Orthorexie, aber das Kind könne jetzt machen, was es wolle.

Bratman war mit seiner Diagnose einfach zu früh dran. Als er 1997 über zwanghaft gesundes Essen schrieb, geschah das noch unter völlig anderen Vorzeichen: Also noch bevor es in jedem Supermarkt glutenfreie Brötchen, veganen Fleischersatz und Eiweißbrot gab, und als noch niemand auf die Idee kam, sein Mittagessen zu fotografieren und in die Öffentlichkeit zu stellen.

Wenn ich heute durch meinen Instagram-Feed scrolle, sehe ich überall junge Frauen (oder durchtrainierter Männer, Alter egal), die in Licht gebadete, köstliche, gesunde und liebevoll arrangierte Mahlzeiten zu sich nehmen, ihre Kühlschränke fotografieren und sehr, sehr viele Emojis mit Herzaugen verteilen. Sie wollen viel mehr als nur schnöde Rezepte anbieten: Sie versprechen ein besseres, reineres, glücklicheres Leben (auf Instagram gibt es allein 416.581 Ergebnisse zu #buddhabowl).

Amelia Freer, Autorin von „Glow: Gut essen, glücklich leben“, folgen auf Instagram 143.000 Menschen, Ella Mills, die sich mit einer veganen, zucker- und glutenfreien Ernährung von einer Stoffwechselkrankheit geheilt haben soll, sogar 1,6 Millionen. Vegan-Koch Attila Hildmann, um ein deutsches Beispiel zu nehmen, hat immerhin 50.000 Insta-Fans.

Essen wird plötzlich zum Allheilmittel

Ehrlich gesagt: Ein paar von diesen Influencern folge ich auch. Weil die Rezepte oft wirklich gut und kreativ sind, weil sie Appetit auf frisches Gemüse und Obst machen und weil sie eine Lebensfreude und Fröhlichkeit ausstrahlen, die an einem Tag, den ich in schlechter Haltung bei künstlichem Licht vor dem Computer verbringe, gute Laune machen.

Was mich allerdings sehr stört, ist die mittlerweile überall präsente Botschaft, dass eine Ernährungsumstellung alle persönlichen Probleme lösen kann: Viele Influencer ziehen ihre Expertise allein aus ihren persönlichen Erfolgsgeschichten. Die sich auffallend stark ähneln: Die Autorin oder der Autor hatte ein normales, unglückliches oder krankes Dasein, dann fingen sie an, Gluten oder Zucker wegzulassen oder sich ohne Kohlenhydrate zu ernähren und verwandelten sich in strahlende, zufriedene Menschen. „Food has the power to make or break you“, schreibt Amelia Freer, die immerhin eine Ausbildung als Ernährungsberaterin gemacht hat.

Das ist ein krasses Versprechen – und eine Drohung. Ja, Essen kann der Gesundheit schaden, wenn man sich, sagen wir, nur von Cheeseburgern ernährt, aber es geht vielen Influencern ja nicht um Extreme: Sondern darum, dass auch das, was die meisten als normale Lebensmittel verstehen – Brot, Joghurt, Obst (wegen des Zuckergehalts) – ungesund ist und die Kraft hat, dich unglücklich zu machen.

Ein Grund dafür, dass Autoren wie Freer so erfolgreich sind, liegt darin, dass viele Menschen mittlerweile ein starkes Unbehagen gegenüber dem System haben, das unsere Lebensmittel herstellt: Gegenüber der Landwirtschaft, die dem Gefühl nach alles vergiftet und Tiere foltert, und der Lebensmittelindustrie mit ihren leeren Werbeversprechen und versteckten Zusatzstoffen. Nicht zu vergessen die Ernährungswissenschaft, die in den letzten Jahrzehnten wirklich einiges verbockt hat, indem sie alle paar Jahre neue Warnungen und Empfehlungen aussprach und dann wieder zurücknahm oder sogar das Gegenteil behauptete. Gleichzeitig nehmen Lebensmittelallergien, Stoffwechselerkrankungen und andere chronische Erkrankungen zu, die ja tatsächlich von unserer Ernährung beeinflusst werden können.

Eine Übersichtsarbeit einer chinesischen Forschungsgruppe etwa kam zu dem Ergebnis, dass Menschen, die mindestens dreimal wöchentlich Fast Food essen, häufiger an Atemnot, Asthma, allergischem Schnupfen und Hautausschlägen wie Neurodermitis leiden. Was wir essen, kann auch Allergien begünstigen und verstärken – aber viele überschätzen diesen Einfluss.

Heilsversprechen sind keine Randerscheinung mehr

Keine Frage, der Zweifel an den Ernährungsrichtlinien von Experten ist begründet, und das System, das unsere Lebensmittel produziert, muss dringend reformiert werden. Und ja, was wir essen, hat einen Einfluss auf unsere Gesundheit und Stimmung. Das weiß auch mittlerweile fast jeder. Aber die Botschaft, dass diese systemischen Probleme sich auf individueller Ebene lösen lassen, indem wir statt Brot und Gummibärchen Blumenkohlpizza und Dattelbällchen essen, und dass diese auch noch „glücklich“ machen sollen, ist maßlos übertrieben. Mehr noch: Sie ist beunruhigend.

Heilsversprechen, die mit bestimmten Ernährungsweisen verbunden waren, gab es schon immer. Aber wie Verschwörungstheorien haben sie es aus den Rändern unserer Wahrnehmung in ihre Mitte geschafft. Die strahlenden Influencer mit ihren absoluten Aussagen („Kein Zucker!“, „Kein Weizen, niemals!)“ haben eine Popularität erreicht, von der Ernährungswissenschaftler nur träumen können.

Das wiederum kann, fürchte ich, bei immer mehr Menschen zu einer Besessenheit mit gesundem Essen folgen, deren extremste Form Bratman vor zwei Jahrzehnten als Orthorexia nervosa beschrieben hat.

Umso wichtiger ist es, auf zwei wesentliche Punkte hinzuweisen:

  • Was „gesundes“ Essen ist, kann niemand mit Sicherheit pauschal sagen, weil wir dafür noch zu wenig über die tatsächlichen kausalen Zusammenhänge wissen. Der großartige US-Journalist Michael Pollan, der sich wie kaum ein anderer bemüht hat, Ernährung in all ihren Facetten zu verstehen, hat das einmal so erklärt: „Die Ernährungswissenschaft ist ungefähr auf dem Stand, wo die Chirurgie im Jahr 1650 war. Also sehr interessant und vielversprechend, aber willst du dich wirklich schon auf den Operationstisch legen?“ Das Zitat stammt aus diesem Interview (auf Englisch).

  • Ernährungsumstellungen sind nicht grundsätzlich „sanft“ und harmlos – erst recht nicht, wenn sie radikalen Verzicht auf bestimmte Lebensmittelgruppen bedeuten. Das mussten selbst manche der strahlenden Influencer erfahren: etwa Jordan Younger, die früher als „The Vegan Blonde“ sehr erfolgreich war und die eine rohvegane, zucker- und glutenfreie Diät propagierte. Dann fielen ihr die Haare aus und ihre Periode blieb aus. Zögernd fing sie an, Fisch zu essen – und ihr Körper erholte sich. Mittlerweile bloggt Younger als „The Balanced Blonde“.

Bratman aß nur Gemüse ganz frisch aus dem Garten

Der erste Mensch, bei dem Steven Bratman Orthorexie diagnostiziert hat, war übrigens er selbst.

Als junger Mann war Bratman nämlich fest davon überzeugt, dass er sich selbst und andere mit der richtigen Ernährung heilen konnte. Er arbeitete auf einem Biobauernhof und versuchte dort, sich auf die perfekte Weise zu ernähren. Was dazu führte, dass er sich schließlich weigerte, irgendein Gemüse zu essen, das vor mehr als fünfzehn Minuten geerntet worden war.

Der Essay, den er vor zwanzig Jahren darüber geschrieben hat, ist sehr lustig, informativ und lesenswert. Du findest ihn (auf Englisch) hier. Es ist geradezu gruselig, wie sehr er ins Jahr 2019 passt.


Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.