Der evangelische Kirchentag lädt 2019 eine Sexarbeiterin auf ein Podium ein. Das ist toll, das ist bahnbrechend, und überhaupt der einzige Grund, dass ich mich dazu hinreißen lasse, einen Auftritt unbezahlt zu machen, mich vorzubereiten, mehrere Tage Arbeitsausfall hinzunehmen und nach Dortmund zu fahren.
Denn ich bin besagte Sexarbeiterin. Und ich will ein realistisches Bild von Sexarbeit vermitteln, von weiblicher Sexualität sprechen, von der Fähigkeit und dem Potential, die eigene sexuelle Kraft zu zelebrieren – und von den verheißungsvollen Möglichkeiten einer Konsenskultur.
Auf dem Podium sitze ich mit Barbara Kuchler, Soziologin an der Universität Bielefeld. Sie hat den Hashtag #ohnemich initiiert, der Frauen dazu aufruft, gefälligst das Schminken und Schönmachen sein zu lassen, weil sich eine, die sich in hautenge Hosen zwängt, nicht wundern muss, dass Männer … ähm, wie war das nochmal? Ach, da war ich schon eingeschlafen. Kurz, es geht darum, dass Frauen und ihre Kleidung an sexuellen Übergriffen (Mit-)Schuld sind.
War das nicht bereits irgendwann in den 80ern geklärt, dass Sexismus nichts damit zu tun hat, was Frauen anziehen?
Ich wundere mich. Wieso muss das jetzt auf dem Kirchentag nochmal ein Forum bekommen? Dem Kirchentag, der sich so fortschrittlich zeigt, dass zwei Stunden nach meinem Auftritt die Veranstaltung „Schöner kommen – Sexualität von Frauen“ stattfindet. Dem Kirchentag, der im Vorfeld zum Workshop „Vulven malen“ aufgerufen hat? Gut, die selbstgemalten Vulven waren wohl eine Umdrehung zu viel, da hatte es im Vorfeld schon Shit gehagelt und -gestürmt. Ist ja bekannt, dass man(n) beim Anblick der Vulva umgehend die Sehkraft verliert. Da hilft dir auch Gott nicht.
Beim Kirchentag wollte ich über Mut und Vertrauen sprechen – es klappte nicht
Kuchler, neben mir auf dem Podium, vertritt also die These, Frauen sollten aufhören, sich die Augenbrauen zu zupfen, weil sie sich damit für Männer schön machen. Okay, schräg, denke ich, aber hat ja mit mir nicht so viel zu tun, und gleich reden wir hoffentlich über relevante Dinge. Denn die Moderatorinnen haben mir im Vorgespräch gesagt, dass ich über Grenzen sprechen soll. Darüber, wie wir Grenzen öffnen im intimen Kontakt, und wie das denn gehen soll – wenn wir gleichzeitig unsere Grenzen wahren wollen?
Super, finde ich, ich muss mal nicht über Zwangsprostitution reden. Und vielleicht kann ich gleichzeitig noch was Subversives reinmogeln. Zum Beispiel, dass der Rest der Welt, also auch die Kirche, noch etwas lernen kann von Sexarbeiterinnen, die ihre Arbeit selbstbestimmt tun. Die nämlich bestens in der Lage sind, weil eben professionell darin, sexuelle Situationen zu lenken. Die eine klare Sprache benutzen, wenn es um Einladungen und NoGos geht.
Weil sie wissen, wie man Nähe und Intimität herstellt, und sie keine Angst vor dem Expliziten haben. Weil sie geübt haben, wie man dabei die eigenen Grenzen wahrt, oder zumindest wissen, dass diese Fähigkeit Übung und Praxis braucht. Ich möchte auf diesem Podium sagen, dass wir Räume brauchen für eine echte sexuelle Bildung, dass unsere Welt um vieles besser wäre, wenn wir das Reden über Sexualitäten nicht immer verbieten würden.
Ich meine nicht die ideologischen Diskussionen, davon gibt es genug. Ich meine die praktischen Details: wo gibt es die Schule in der wir unseren Körper kennenlernen und feiern, in der wir Lust erforschen und Erregung? Vulven malen ist dabei Vorschule! Wo widmen wir uns der Frage, wie wir uns annähern können, wie wir Begehren ausdrücken, so dass sich jemand eingeladen fühlt und nicht bedrängt? Wie gehen wir mit einem Nein um, mit Ablehnung? Wie ermutigen wir Menschen, Sexualität positiv zu besetzen und nicht nur unter den Überschriften Schuld, Scham und Gefahr?
Wie viel sicherer wir uns dadurch fühlen würden. Weil das Sexuelle, das ist eigentlich gar nicht so bedrohlich, furchterregend ist das Tabu.
Ich hätte über Mut und Öffnung, Neugier und Verletzlichkeit, Versuch, Irrtum und das Lernen sprechen können. Über Experimentierräume, Achtsamkeit und die Lust an der eigenen erotischen Kraft. Und das Motto des Kirchentages: Vertrauen! Dass wir Vertrauen brauchen, um Risiken einzugehen. Selbstvertrauen. Vertrauen in soziale Beziehungen und eine Kultur, die einen Annäherungsversuch von einem Machtmissbrauch unterscheidet.
Und apropos Selbstvertrauen: Über die potente Frau will ich sprechen. Die Frau, die ihre sexuelle Kraft bewohnt. Die spricht darüber, dass sie Sex möchte. Und vor allem, welchen Sex und wie sie ihn gern hat. Wie sieht diese Frau aus? Wie spricht sie und welche Worte nutzt sie? Ich möchte sie mir so lebendig vorstellen können, wie es geht. Die kennen wir noch nicht so gut, sie ist ein Tabu. Es wird Zeit, dass auch die Kirche sich ihrer erinnert. Die Kirche hat sie nicht nur vergessen, sie hat sie aktiv bekämpft und verschwiegen.
Eine Frau wird im Patriachat nicht ernst genommen – das hat nichts mit Kleidung zu tun
Ob die Protestanten sich vorstellen können, was es mit dem Hurenstigma auf sich hat? Warum ist die Frau, die sexuell aktiv ist, und noch dazu unverheiratet, zu bemitleiden und zu bekämpfen, warum muss sie von Sinnen sein und bitte auf den rechten Weg gebracht werden?
Leider konnte ich über all das nicht sprechen. Denn in 30 Minuten Impulsdebatte musste ich unter anderem folgendes sagen:
Sich sexy anzuziehen, ist NICHT die Ursache für Sexismus. Es ist falsch, Frauen die Schuld für sexistisches Verhalten und sexualisierte Gewalt zu geben. Sexismus hat mit Sex und Erotik nichts zu tun, auch nicht mit der „Anziehung der Geschlechter“. Er ist ein Ausdruck von ungleichen Machtverhältnissen, von Abwertung und Mangel an Respekt gegenüber Frauen.
Eine Frau wird im Arbeitskontext nicht deswegen weniger ernst genommen, weil sie ein tiefes Dekolletee hat oder einen Minirock trägt. Eine Frau wird nicht ernst genommen, weil: eine Frau im Patriarchat nicht ernstgenommen wird. Ganz einfach. Weite oder „neutrale“ Kleidung hilft da leider nicht – auch wenn Barbara Kuchler das ernsthaft als Lösung vorschlägt.
Eine Frau kann nicht die Aufgabe haben, sich möglichst „neutral“ zu präsentieren, um nicht sexualisiert zu werden. Dass Frauen sexualisiert werden, ist Ausdruck des Sexismus (siehe oben). Dieser ist strukturell und lässt sich nicht individuell durch die Betroffenen lösen. Frauen für ihren sexuellen Selbstausdruck zu zensieren, ist Teil einer frauenfeindlichen Praxis, weil die Tradition, freizügige Frauen zu stigmatiseren, eine patriarchale ist.
Frauen tragen ihre Kleidung nicht nur für Männer
Eine Frau , die sich zu sexy, zu übertrieben, zu viel, zu auffällig, zu wenig anzieht, als „Hure“ oder „Schlampe“ zu bezeichnen ist gängige Praxis, mehr oder weniger offen. Übrigens übernehmen Frauen diese (Selbst-)zensur liebend gern höchstpersönlich, indem sie sich und andere abwerten. Kann frau ja machen, sollte sie sich nur fragen, ob sie das 2019 noch will.
Wer behauptet, Frauen würden sich „für Männer schön machen“ oder „dem männlichen Blick unterordnen“ nimmt komplett eben diese „männliche“ Perspektive ein. Wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass Frauen Dinge aus den unterschiedlichsten Motiven tun, und der Blick von Männern dabei ein Grund von vielen, aber auch gar kein Grund sein kann, habe ich vermutlich ein sehr enges Frauenbild.
Diese Perspektive unterschlägt, dass auch Frauen Frauen anschauen, und dass Menschen sich auch selbst sehen und fühlen in der Kleidung, die sie tragen und ihren Ausdruck in der Welt genießen. Wo ist die Lust an mir selbst? Warum ist ausgerechnet die verschwiegen und verblasst bis zur Unkenntlichkeit? Die Idee, den öffentlichen Raum quasi „geschlechtslos“ zu machen, indem man Feminität unterschlägt, ist leider: Sexismus.
Kuchler schlägt eine „Uniform für alle“ vor – also weite, bedeckende Kleidung für alle, Männer wie Frauen. In Kuchlers Vision ist das eine „Befreiung von den Schönheitsnormen“. In Wahrheit ist das nur wieder einmal der Versuch, die Frau im öffentlichen Raum unsichtbar zu machen. Und vor allem: die sexuell ausdrucksstarke Frau. Die ist ja auch einfach unmöglich!
Ab jetzt spreche ich nicht mehr über veraltete Thesen, sondern über die potente Frau
Beim Publikum kamen Kuchlers Thesen nicht gut an, aus einem Raum von hunderten Menschen waren Buhrufe zu hören. Kuchler hat sich keine Freund:innen gemacht. Erfolg im Sinne der Zustimmung hatte sie mit ihren Vorschlägen kaum. Doch das Echo war enorm. Am nächsten Tag konnte man Headlines wie diese lesen: „Soziologin gibt Frauen Mitschuld an Grabschereien”, die angemessenerweise für Empörung sorgten. Sogar die Polizeigewerkschaft in Hamburg mischte sich ein.
Hätten wir genau so viele Schlagzeilen bekommen, wenn wir über die potente Frau geredet hätten, statt über Frauen in Kartoffelsäcken? Ich glaube es kaum. Warum nur ist die potente und selbstbewusste Frau im Jahr 2019 keine Schlagzeile wert, die beschädigte Frau jedoch immer? Die Frau also, die Schuld hat, die Frau die Opfer ist, und vor allem die Frau, die andere Frauen beschuldigt – darüber reden wir jederzeit gerne. Warum?
Ich frage das nicht aus gekränktem Narzissmus.
Ich finde diesen Mechanismus interessant. Wenn wir wissen, das alte reaktionäre Hüte in der Öffentlichkeit lieber wiedergekäut werden als die Rede von der sexuell aktiven und furchtlosen Frau – dann müssen wir noch unbeirrter von ihr sprechen.
Ich möchte meine Aufmerksamkeit nicht mehr auf Thesen verwenden, die nicht der Befreiung dienen. Ich möchte über sexuelle Freiheit sprechen, die zaghafte Annäherung an diese und die Lust, sich darauf zuzubewegen.
Der sexuelle Raum ist ein starker Raum, aber er ist nicht sicher
Ich gelobe also hiermit, dass meine volle Aufmerksamkeit ab jetzt nur noch die potente Frau bekommt. Ihre Lust, ihr Begehren, ihr Genuss, ihre Sprache. Und eine einvernehmliche, risikoreiche sexuelle Kultur für alle Geschlechter. Ich möchte von Grenzen sprechen, die respektiert und lustvoll erforscht werden. Ich möchte von ermutigten, sensiblen Menschen
sprechen, die das Risiko schätzen, dass darin besteht, dass wir sexuelle Wesen sind.
Denn der sexuelle Raum ist ein starker Raum, aber er ist nicht sicher. Sich zu öffnen, macht verletzlich, wir stellen unsere Grenzen in Frage und überschreiten sie, um uns neu zu erfahren. Das ist gut, und es birgt Verletzungsgefahr. Nähe, so wir sie suchen, kann zu viel sein oder zu wenig. Kontakt kann nähren und verletzen. Kontakt will gestaltet sein, auch sexueller Kontakt. Die Frage darf nicht nur sein: Möchtest du? Sondern: Was möchtest du? Erkläre es mir genau! Ich möchte es hören. Es hilft mir, dich zu verstehen und mit dir den Sex zu erleben, der dir gefällt. Wir brauchen Kommunikation in und über diesen Raum, und das müssen wir lernen. Ich wünsche mir Menschen, die das Risiko eingehen mit Achtsamkeit und Respekt.
Denn dein ist das Reich, und die Kraft, und die Menschlichkeit. Für hoffentlich lange Zeit. Bähm!
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Bent Freiwald; Fotoredaktion: Martin Gommel.