Neulich erzählte eine Kollegin in der Redaktionskonferenz, dass Angestellten Geld egal sei. „Bitte was?“, dachte ich.
Unternehmensberater, so sagte sie, gingen mittlerweile davon aus, dass Arbeit alleine nicht mehr reiche. Dass gut ausgebildete Millennials Gehaltserhöhungen nicht glücklicher machten. Sie wollten jetzt: Sinn. Purpose. Einen Unterschied machen. Die Welt retten.
Sie erzählte mit ironischem Unterton, dass der Autokonzern Volvo jetzt nicht mehr einfach nur Autos baue. Nein, Volvo rettet Menschenleben: Bis 2020, hat sich der Konzern als Ziel gesetzt, solle niemand mehr in einem neuen Volvo sterben oder schwer verletzt werden.
Starbucks verkauft jetzt nicht mehr einfach nur Kaffee, sondern nährt unsere Seelen. Ja, wirklich! Starbucks Daseinszweck ist, laut firmeneigenem mission statement: „To inspire and nurture the human spirit – one person, one cup and one neighborhood at a time.“
In den USA, erfuhr ich, ist ein ganz neuer Beruf entstanden. Der chief storytelling officer. Diese Storyteller gucken Dinge so lange an, bis sich ein Problem in eine Chance verwandelt. Es gibt so einen Motivationsklassiker, den sich diese Storyteller in Amerika erzählen:
Drei Maurer arbeiten an derselben Mauer. Jemand kommt vorbei und fragt sie, was sie da tun. Der erste antwortet: „Ich lege Steine aufeinander.“ Der zweite: „Ich baue eine Mauer.“ Der dritte: „Ich errichte Gott eine Kathedrale.“ Fucking Purpose.
Aha, dachte ich. Die Leute wollen Sinn. Die Bezahlung ist kein Problem.
Im Sozialen ist der Fachkräftemangel unfassbar groß
Ich bin, neben meiner Stelle als Fotoredakteur bei Krautreporter, Schulsozialarbeiter. Und mir kam ein Gedanke: Habt ihr den Arsch offen?
Ganz ehrlich: Wenn Geld nicht das Problem ist und Leute wirklich sinnvolle Arbeit machen wollen, warum ist dann der komplette Bereich der sozialen Arbeit unterbesetzt? Wenn wirklich alle Millennials einen Sinn suchen, wenn sie nicht nur Geld verdienen wollen, sondern das auch ohne schlechtes Gewissen, warum verdammt nochmal ist der Fachkräftemangel im Sozialen so unfassbar groß?
Als ich im Winter 2018 nach freien Stellen suchte, konnte ich mich überhaupt nicht entscheiden. In Berlin waren 760 Stellen frei. Ich muss es anders formulieren: Siebenhundertsechzig Stellen in Schulen, Kindergärten und Jugendhilfeeinrichtungen waren nicht besetzt.
Jobangebote werden dort unter anderem so angepriesen:
„Attraktives Jobangebot im kompetenten, empathischen Team. (…) Geboten wird eine Vollzeitstelle (auch Teilzeit möglich): Flexibel nach Absprache von Montag bis Freitag (auch in den Nachmittags- und Abendstunden).“
Oder auch: Bitte, bitte, bewirb dich.
Wenn ich auf einer Party erzähle, welchen Beruf ich habe, klopfen mir Leute auf die Schultern und sagen: „Ach ja, gut, dass du das machst.“ Oder „Stimmt, irgendjemand muss den Job ja auch machen. Cool, ey.“
Bis heute wurde ich noch nie ernsthaft gefragt, wie viel ich verdiene – oder mal ganz dreist: Wo es freie Stellen gibt. Alle finden es GEIL, dass ich das mache, das ist „so sinnvoll“ und Achgottachgott, aber niemand will den Job selbst machen.
Soziale Arbeit ist das Berlin unter den Berufen – macht arm, aber sexy.
Und Millennials suchen auf Biegen und Brechen einen Sinn, weil ihnen 1.000 Euro mehr im Monat maximal ein müdes Gähnen entlocken.
Irgendwas, ihr Lieben stimmt hier nicht.
Egal, wohin ich gehe, alles ist so mit Sinn aufgeladen, dass es kracht
Heute ist alles im Supermarkt bio, fair oder beides. Menschen trinken ihre Latte Macchiato mit Hafer-Milch (ich auch), schreiben sich #refugeeswelcome in die Twitter-Bio (hatte ich auch) oder kaufen sich E-Autos (ich nicht, ich kann mir das nicht leisten). Alles hat so ein schickes Etikett. Ich kann das nicht ganz ernst nehmen.
Ich möchte keine Veganer, Umweltschützer und Aktivisten beleidigen. Aber ich habe den Eindruck, dass unsere Gesellschaft dem Glauben erlegen ist, dass wir alles kaufen können. Sinn. Und ein gutes Gewissen.
Meine Brötchen kaufe ich bei Penny. Ein Auto kann ich mir nicht leisten, und wenn ich reise, dann mit Flixbus. Ich bin finanziell so beweglich wie ein SUV in einer Spielstraße.
Aber ich glaube, mein Job macht eine Menge Sinn. Meine Ausbildung habe ich in einem Kinderheim gemacht, und oh boy, das war eine Feuertaufe, denn die (damals sagte man „schwer erziehbaren“) Kinder haben mir den Spiegel vorgehalten.
Im ersten Jahr verging keine Woche, in der ich nicht mindestens einmal heulend nach Dienstschluss im Bett lag. Wenn mir ein Kind von 12 Jahren sagt: „Heulen Sie doch, Sie Nazi“ – warum zur Hölle mache ich das?
Ich musste mich der Frage stellen, warum mich die Provokationen so verletzten.
Mit jedem weiteren Tag lernte ich mehr über mich selbst und musste mir eingestehen, dass ich voller Verletzungen aus meiner eigenen Kindheit war. So begann ich, an mir selbst zu arbeiten. Im Kinderheim lernte ich, meine eigenen Ausreden nicht durchgehen zu lassen, zu mir zu stehen und jeden Tag bei null anzufangen.
Wenn es um das Leben eines Kindes geht, musst du reagieren
Es war auch mein erstes Jahr in der Ausbildung, als ein Kind, während es im Gruppenbüro mit seiner Mutter telefonierte, den Hörer in die Ecke warf, losrannte und aus dem Fenster springen wollte. Das Fenster war offen, das Kind stand schon mit einem Bein auf der Heizung. Ich rannte hinterher, hielt es fest und zog es zurück ins Zimmer – wir landeten beide auf dem Boden. In solchen Momenten denkst du nicht nach, du reagierst einfach.
Die nächsten Wochen über schaute ich immer wieder aus dem Fenster – nach unten. Und jedes Mal dachte ich: Shit, das war knapp. Gut, dass ich da war. In diesem Moment wusste ich, warum ich diesen Job machen wollte.
Mit der Zeit wurde ich ein besserer Erzieher. Selbstsicherer, offener und ehrlicher. Und immer dann, wenn Kindern oder Jugendlichen die Sicherung durchbrennt, wenn Konflikte am stärksten sind, „funktioniere“ ich am besten – warum das so ist, weiß ich bis heute nicht.
Ein paar Jahre später lernte ich Hammad kennen. Er heißt anders, den Namen habe ich zu seinem Schutz geändert. Er war umF, „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“, und kam aus Syrien. An einem kalten Herbsttag brachte ich ihn in die Klinik, nachdem er seinen Suizid angekündigt hatte. Weil ich mich in den vergangenen Jahren aus meinen eigenen Depressionen herausgekämpft hatte und das Gefühl kannte, nicht mehr leben zu wollen, konnte ich ihn verstehen.
In der Psychiatrie besuchte ich ihn jeden Tag – und in dieser Zeit entstand eine Freundschaft zwischen uns. Das ist besonders wichtig in Zeiten, in denen man keinen Sinn mehr darin sieht zu existieren. Hammad hatte Eltern und zwei Geschwister auf der Flucht verloren. Sie ertranken im Mittelmeer.
Hammad nahm sich nicht das Leben. Ich weiß nicht, wie wichtig mein Anteil daran ist, aber ich weiß, dass es nicht egal ist, ob ich für solche Jugendliche da bin oder nicht. Jeden Morgen, wenn ich zur Arbeit komme, weiß ich: Ich gehöre hier hin.
Warum nicht mal eine Heldin werden?
Im Sozialen arbeiten Menschen, die in meinen Augen Heldinnen sind. Ja, genau. Heldinnen. Die meisten davon sind nämlich Frauen (sorry Boys). Menschen, die nicht lockerlassen, die emotional kaputte Kinder nicht aufgeben, wenn alle anderen keine Energie mehr haben. Menschen, die aufrecht bleiben, wahrhaftig und fair. Menschen, die ihr eigenes Handeln permanent reflektieren, um Kritik bitten und kein Problem damit haben, sich zu entschuldigen. Menschen, die Nachtdienste übernehmen, die Stellung halten, wenn zwei von fünf Kollegen fehlen, das alles ohne Murren. Und ohne Überstunden-Vergütung. „Musst du selber gucken, wie du die abbaust.“
Ja wann denn, ihr Flamingos?
Mir ist schon klar, warum so wenige in sozialen Berufen arbeiten. Die Bezahlung ist mies, und die Arbeitsbedingungen sind schlecht. Ich glaube aber, es gibt noch einen Grund. Viele Menschen sehnen sich nach Sinn, aber nicht nach so viel Sinn, dass sie in soziale Berufe gehen würden. Sie wollen bequemen Sinn, billigen Sinn.
Bequem ist alles, was man mit aufgesetzter Nickelbrille in einem Jesper-Juul-Buch lesen oder bei einem Third-Wave-Kaffee diskutieren kann. Billig ist alles, was gut klingt, aber keine Arbeit ist. Wir leben in einer #hipsterforfuture-Gesellschaft. We change the whole universe, one Tofusteak at a time.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel; Audio: Iris Hochberger.