Wenn von Vorurteilen und Diskriminierung die Rede ist, denken die meisten von uns an Angriffe auf der Straße, Belästigungen in der U-Bahn oder Stammtischsprüche. Solche offenkundigen Beispiele für Herabsetzungen gibt es, und zwar deprimierend oft. Aber das sind nicht die Erfahrungen, die den Alltag von diskriminierten Menschen prägen: Wer zu einer stigmatisierten Gruppe gehört, wird jeden Tag durch kleine, subtile oder scheinbar nebensächliche Dinge daran erinnert, dass er weniger wert ist. Die Fachleute sprechen von Mikroaggressionen – das sind kurze, alltägliche Äußerungen, die an Angehörige einer bestimmten Gruppe abwertende Botschaften senden.
Als Psychologin erforsche ich die Stigmatisierung von Menschen aufgrund ihres Gewichts. Ich selbst spreche von „fetten“ Menschen, benutze „fett“ aber – wie manche Aktivisten – als Beschreibung und nicht als Beleidigung.
Alle Menschen, die von der Gesellschaft schief angesehen werden, kennen übrigens Mikroaggressionen. Es gibt sie zu allen Zeiten, sie können aus allen möglichen Richtungen kommen. Für fette Menschen könnte das so ablaufen:
- Sie steigen in den Bus, und die Person neben einem freien Platz starrt sie provozierend an oder legt demonstrativ ihre Tasche auf den Nebensitz
- Menschen beobachten sie, während sie im Restaurant essen, oder checken den Inhalt ihres Einkaufswagens im Supermarkt
- Ein Witz auf Kosten von Fetten im Fernsehen
- Eine schlankere Freundin probiert ein Outfit an und fragt: „Sehe ich darin fett aus?“
- Kinder, die sich über sie lustig machen
Und besonders unangenehm ist es, wenn sie sich den Knöchel verstaucht haben und zum Arzt gehen. Und der Mediziner ihnen dann sagt, sie sollten erst einmal abnehmen.
Wenn du kein Mitglied einer stigmatisierten Gruppe bist, denkst du vielleicht, dass diese Beispiele nebensächlich klingen und leicht ignoriert werden können. Aber obwohl jeder einzelne Vorfall unbedeutend sein mag, ist es die Gesamtheit der Stigmatisierung, die unser Leben bestimmt.
Ein feindseliges Umfeld macht krank
Ausgegrenzte Menschen leben permanent in einer feindseligen Umgebung. Und das löst bei ihnen Stress aus. Der Körper reagiert darauf mit der Produktion von Stresshormonen und der Veränderung des kardiovaskulären, immunologischen und neurologischen Systems, um der Bedrohung zu entgehen.
Als kurzfristige Anpassungsreaktion hilft das beim Überleben. Aber chronische Stressbelastung kann zu Diabetes, Bluthochdruck, Herzkrankheiten und sogar einigen Krebsarten führen. Dies geschieht nicht nur bei fetten Menschen. Ärzte haben diese Diagnosen auch bei ethnischen Minderheiten oder lesbischen oder schwulen Menschen gefunden.
Entscheidend ist: Diese Schäden treten auch dann auf, wenn gar keine diskriminierenden Vorfälle stattfinden – stigmatisierte Personen gehen durch ihren Alltag, indem sie diese Ereignisse fürchten, erwarten, sie vorwegnehmen und sich darauf vorbereiten. Das verbraucht enorm viel Energie und ist selbst eine Form von chronischem Stress. Feindselige Umgebungen tragen auch indirekt zu langfristigen Problemen bei, weil sie sich auf Bildungs- und Berufserfolg auswirken.
Selbst Dicke erkennen nicht immer, wenn sie ausgegrenzt werden
Mikroaggressionen gegen fette Menschen sind so üblich, dass Menschen, selbst fette Menschen selbst, sie manchmal gar nicht als stigmatisierend erkennen. Diese Angriffe sind mitunter mehrdeutig. Für Betroffene ist es manchmal schwierig, die Absicht oder die zugrunde liegenden Bedeutung zu erkennen. Sie fragen sich, ob diese Person sie tatsächlich diskriminiert hat oder nicht. Das macht es schwierig zu reagieren. Darüber hinaus ist die Diskriminierung von fetten Menschen so fest etabliert, dass sie an ihrer eigenen Stigmatisierung mitwirken und glauben, dass sie es verdienen, oder dass der Übeltäter nur eine Tatsache beschrieben hat („Fette Menschen sind halt hässlich und ekelhaft“).
Wenn Dicke gegen ihre Diskriminierung vorgehen, bekommen sie bestenfalls zu hören, sie sollen die Angriffe ignorieren. Im schlimmsten Fall glaubt man ihnen einfach nicht. Opfern von Mikroaggressionen wird gesagt, sie würden sich die Kränkung nur einbilden. Sie seien überempfindlich oder paranoid oder müssten einfach nur einen Sinn für Humor entwickeln.
Fette Menschen bekommen sogar zu hören, sie müssten abnehmen, auch wenn sie es gar nicht hören wollen. Dabei würden die meisten Menschen einem Mitglied einer anderen stigmatisierten Gruppe nie sagen, es müsse sich ändern, um nicht diskriminiert zu werden.
Die meisten von uns betrachten sich selbst gerne als unvoreingenommen. Wir würden nie eine fette Person auf der Straße belästigen, sie verprügeln oder sie in einem Geschäft schlecht bedienen.
Aber schon Kinder im Alter von drei Jahren zeigen Vorbehalte gegen Fette. Sie sind nicht mit dieser Überzeugung auf die Welt gekommen – sie haben sie von ihrem Umfeld übernommen, zum Beispiel von ihren Eltern und Betreuern. Oder aus Kinderbüchern und Comics.
Wenn wir wirklich Teil einer anständigen Gesellschaft sein wollen, wenn wir wollen, dass unsere Kinder in einer freundlichen Welt aufwachsen, liegt es an uns, die Feindseligkeit gegen Dicke nicht einfach hinzunehmen. Unterdrückung gibt es in vielen Formen, und wir alle müssen dafür sorgen, dass sie ein Ende hat.
Angela Meadows hat in Psychologie promoviert und forscht über Gewichtsstigma, Gesundheit und Wohlbefinden. Im Jahr 2013 gründete sie die jährliche internationale „Weight Stigma Conference“, um Forscher und Praktiker aus den Bereichen Gesundheit, Sozialwissenschaften und Politik zusammenzubringen.
Diesen Artikel hat auf Englisch The Conversation veröffentlicht. Hier könnt ihr den Originalartikel lesen. Übersetzung und Produktion: Vera Fröhlich; Redaktion: Philipp Daum; Bildredaktion: Martin Gommel.