- Warum bist du Vegetarier geworden?
– Samuel, Glasgow, Schottland - Was ist deiner Meinung nach die beste Art, mit Einsamkeit umzugehen?
– Elena, Reggio Emilia, Italien - Wie gehst du mit Einsamkeit um?
– Lars, Österbybruk, Schweden - Hast du dich manchmal geradezu endlos einsam gefühlt? Was hast du dagegen getan?
– Florian, Opponitz, Österreich - Ich schreibe dir, weil ich gerne deinen Rat dazu hätte, wie man Einsamkeit umgehen kann?
– Mel, Thessaloniki, Griechenland - Wie lange werde ich noch allein sein?
– Lii, Krakau, Polen
Lieber Samuel, Elena, Lars, Florian, Mel und Liii,
es geschah etwa acht Monate nach dem Tod unseres Sohnes. Susie und ich hatten kaum noch das Haus verlassen. Dann meinte Susie, dass es eine gute Idee wäre, ein paar Tage irgendwo hinzufahren – einfach, um von allem wegzukommen. Oft meint man, ein Ortswechsel könnte dafür sorgen, dass die Dinge wieder in Ordnung kommen. Aber natürlich nimmst du dich selbst überallhin mit und das, wovor du wegläufst, findet dich am Ende doch. So war es bei uns. Wir flogen nach Marrakesch und checkten in ein Hotel neben dem Platz im Zentrum ein.
An diesem Abend gingen Susie und ich durch den Hauptmarktplatz von Marrakesch. Es wäre schwierig, das Leiden der Tiere, die wir dort gesehen haben, zu übertreiben – alte Esel und geprügelte Arbeitspferde, Affen an Ketten, Dutzende von Hühnern, in kleine Käfige gestopft, abgemagerte Straßenhunde und gehäutete Kadaver, an Haken hängend. Tod und Leid und Grausamkeit waren überall, und ich fühlte mich von einer dunklen Energie wie überwältigt.
Wie viel von dieser Energie an Marrakesch selbst lag oder wie viel davon ich mit mir trug, war schwer zu sagen. Aber überall, wo ich hinschaute, sah ich eine existenzielle Qual. Natürlich habe ich diese bemerkenswerte Stadt mit einem Blick gesehen, der zum Teil durch meine eigenen kulturellen Vorurteile geprägt war. Es war mir auch klar, dass das Nettoleiden, das in der industriellen Landwirtschaft des Westens stattfindet, weitaus größer ist als das, was ich auf den Straßen von Marrakesch erlebte. Aber das unmittelbare Sehen, diese Nähe zur Grausamkeit, hat den Unterschied gemacht.
Susie hatte einen Mann im Flugzeug getroffen, einen Engländer, der in Marrakesch ein Rettungszentrum für alte Arbeitspferde eingerichtet hatte, und Susie wollte es sich ansehen. Also nahmen wir uns am nächsten Tag ein Taxi und fuhren dort hin.
Auf dem Weg zum Rettungszentrum kamen wir in einen belebten Kreisverkehr und sahen in der Mitte der Straße eine Katze, die überfahren worden war. Ihr Rücken war gebrochen und schrecklich gewölbt, Blut spritzte und sie schrie buchstäblich vor Schmerzen. Es war ein zutiefst verstörender Anblick, der sich sofort mit den verletzlichsten und traumatischsten Bildern verbanden, die in meinem Kopf waren. In diesem Moment brach etwas in mir zusammen. Ich hatte genug. Das Leben war zu viel. Es war buchstäblich unmöglich zu ertragen. Mein Sohn war weg. Ich würde ihn nie wiedersehen. Auf der Rückbank des Taxis in Marrakesch bin ich zusammengebrochen.
Am nächsten Morgen beschlossen wir, nach Großbritannien zurückzukehren. Aber als ich im Flugzeug saß, hatte sich in mir etwas verändert. Ich fühlte mich anders. Ich fühlte, dass ich, wenn ich weiter in dieser Welt leben wollte, alles in meiner Macht Stehende tun musste, damit das existentielle Leiden um mich herum weniger wurde oder zumindest nicht mehr. Es fühlte sich wie ein Weg an weiterzumachen. Ich hatte das Gefühl, dass unser kollektives Unglücklichsein nicht mehr größer werden konnte. Es gab keinen Platz für noch mehr.
Ich spürte, dass ich die Pflicht hatte, alles zu tun, was ich auf meine Weise tun konnte, um das Leiden fühlender Wesen zu minimieren. Der Wunsch, mich dafür einzusetzen, in vielen verschiedenen Bereichen, ist seitdem geblieben. Eine der Folgen war, dass ich auf Fleisch verzichtete. Ich habe es seitdem nicht mehr gegessen.
Während wir durchs Leben gehen, schultern wir immer mehr die wachsende Last unserer eigenen Not – wenn wir verlassen, gebrochen, verraten, isoliert, verloren und verletzt werden. Das ein wesentlicher Teil dessen, was es bedeutet, am Leben zu sein. Diese Verzweiflung wird uns überwältigen und sich in innere Bitterkeit, Feindseligkeit und Hass verwandeln – schlimmer noch, wir werden sie an den Menschen auslassen, die uns am nächsten stehen, wenn wir unser Leben nicht aktiv im Dienste anderer leben und die Kraft nutzen, die wir haben, um das Leiden des anderen zu lindern. Meiner Meinung nach ist das der wesentliche Schlüssel zum Leben. Es ist das Mittel gegen unser eigenes Leiden, unsere eigenen Gefühle von Trennung und Unverbundenheit. Und es ist ein unverzichtbares Gegengift gegen Einsamkeit.
Wir müssen unser Leben so leben, dass wir die Situation, in der wir sind, verbessern – und sei es nur im Kleinen. Das ist es, was es bedeutet „das Leiden der Welt anzunehmen“ – dass wir alle im Einklang mit den Grenzen unserer eigenen persönlichen Leistungsfähigkeit für das Gute handeln. Dadurch wird das Leben um uns herum immer besser und damit auch unser eigenes Leben und das Leben der Welt an sich.
Im Gedicht „The Mower“ von Philip Larkin fährt der Dichter beim Rasenmähen einen Igel tot. Während er den Körper des Igels von den Klingen des Mähers kratzt, denkt er über das Wesen des Todes nach. Und beendet das Gedicht mit den Worten:
Wir sollten vorsichtig sein
Miteinander, wir sollten freundlich sein
Solange noch Zeit ist
Die Dringlichkeit dieser Worte kam mir auf dem Rückflug aus Marrakesch in den Sinn. Die Vision der sterbenden Katze riss mich aus meiner eigenen Selbstbezogenheit und Bitterkeit und Isolation und Einsamkeit und zeigte mir, dass die Welt, in all ihrer schrecklichen verwundeten Schönheit, dringend unsere Aufmerksamkeit brauchte.
Alles Liebe, Nick
In unserer Serie „Was ich wirklich denke“ lassen wir Menschen sprechen, die interessante Berufe haben, die in herausfordernden oder besonderen Lebenssituationen stecken oder die etwas Ungewöhnliches erlebt haben. Trifft das auf dich zu und willst du davon erzählen? Dann melde dich unter: theresa@krautreporter.de
Die Antwort hat Nick Cave in seinem Blog „The Red Hand Files“ auf Englisch veröffentlicht.
Übersetzung: Theresa Bäuerlein; Redaktion: Philipp Daum; Bildredaktion: Martin Gommel.