Ich bin katholisch, aber das spielt fast nur noch für meine Steuererklärung eine Rolle. Die Male, die ich den vergangenen zehn Jahren in einer Messe saß, kann ich an den Fingern abzählen. Meistens bei Hochzeiten, ein einziges Mal war ich an einem Sonntag spazieren und betrat spontan eine Kirche, weil ich dachte: Vielleicht ist es ja schön. Die Kirche war auch schön, aber das Ritual, das vorne stattfand, ließ mich ratlos zurück. Nach der Hälfte schlich ich mich raus.
Ich habe Schwierigkeiten mit religiösen Institutionen (unter anderem wegen des Zölibats und des Missbrauchsskandals), aber dem Gefühl, das Menschen in Gottesdienste treibt, bin ich nicht zynisch gegenüber: Wenn man mich sehr weich stimmen will, braucht man mir nur das Agnus Dei von Samuel Barber vorspielen. Für mich ist es in Musik gegossene Hingabe und Sehnsucht, und ob man Christ ist und das Objekt dieser Sehnsucht Gott nennt oder „das Geheimnis des Daseins”, wie der atheistische Historiker Yuval Harari, finde ich eher zweitrangig. (Interessant wird das erst bei der Frage, was Menschen aus diesem Gefühl machen: Denn es ist ziemlich schwierig, im Namen des „Geheimnis des Daseins” Frauen zu unterdrücken oder einen Krieg anzuzetteln). Man kann dieses Gefühl auch bei anderer Musik haben, die letzten Nick Cave Konzerte wurden als „religiöse Erfahrung” beschrieben. Aber Konzerttickets sind teuer, und der Typ kommt nicht jeden Sonntag.
Ohne Religion fehlen den Menschen sehr wichtige Gefühle – und sie finden keinen Ersatz
Das Charmante an Kirchen und Tempeln ist, dass in ihnen Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und Lebenssituationen zusammenkommen, die einander sonst wahrscheinlich nicht begegnen würden. Sie haben einen Platz, an dem sie über die Dinge wie das „Geheimnis des Daseins” nachdenken und wo sie feiern können, was Menschen verbindet. Säkulare Menschen haben keine festen Orte oder Rituale dafür.
Momente, in denen man so etwas wie Erhabenheit spürt, passieren eher ungeplant: Wenn man beim Ausgehen eine dieser großartigen Nächte erlebt, in denen man sich beim Tanzen in der Menge komplett verliert, wenn man in den Alpen ist und sich von einem Viertausender daran erinnern lässt, was man für ein Winzling ist, oder wenn man zufällig in einem Bahnhof steht, in dem ein Flashmob die Zeile „Alle Menschen werden Brüder” singt.
Der britische Philosoph Alain de Botton beschreibt das Problem so: Menschen, denen bestimmte Aspekte von Religion gefallen – Rituale, Gemeinschaft, gemeinsame überpersönliche Werte –, aber den Rest nicht wollen, habe keine echten Alternativen: „Entweder du akzeptierst die Doktrin, und dann kannst du all diese schönen Dinge haben, oder du lehnst die Doktrin ab und lebst in einer Art spirituellen Einöde unter der Führung von CNN und Walmart.”
Es ist ungewöhnlich, dass ausgerechnet de Botton so etwas sagt, denn der Mann ist in einer streng atheistischen Familie aufgewachsen, in der jede religiöse Überzeugung „ungefähr dem Glauben an den Weihnachtsmann” entsprach. Auch heute ist er überzeugter Atheist. Trotzdem – oder gerade deswegen – hat de Botton ein Buch mit dem Titel „Vom Nutzen der Religion für Atheisten” geschrieben. Darin schreibt er, es sei falsch, sich über Religionen lustig zu machen: Das sei nicht nur respektlos, sondern auch billig, weil es so einfach sei.
Vor allem aber übersehe man so die Schätze, die in religiöser Kultur vergraben seien, denn: „Die säkulare Welt ist voller Löcher.” Er plädiert dafür, sich genau anzusehen, was diese Löcher sind, welche Lösungen Religionen dafür anbieten und daraus zu lernen. Dann nämlich, meint er, könnten wir anerkennen, dass Religionen erfunden wurden, um elementare Bedürfnisse zu befriedigen, für die die säkulare Gesellschaft bis jetzt keine Lösung gefunden hat.
„Gott mag ja tot sein, doch die drängenden Fragen, die uns dazu trieben, ihn zu erfinden, lassen uns nach wie vor keine Ruhe, verlangen nach Antworten und Erklärungen und verschwinden nicht von allein, nur weil uns jemand darauf hingewiesen hat, dass die Geschichte von den sieben Brotlaiben und den Fischen wissenschaftlich nicht haltbar ist. Der Irrtum des modernen Atheismus war es zu übersehen, dass viele Aspekte einer Religion auch dann relevant bleiben, wenn deren zentrale Lehrsätze nicht akzeptiert werden.”
Nicht an eine Religion gebunden zu sein, macht frei, bedeutet aber auch Verlust
Religionen sind wie multinationale Konzerne, Marken mit hohem Wiedererkennungswert. Nur, dass sie statt Laptops und Erfrischungsgetränken im besten Fall Lebensweisheit und Trost in den schmerzhaftesten Situationen bieten, die man als Mensch erleben kann: Wenn man etwa beruflich abstürzt, Beziehungsprobleme hat oder ein geliebter Mensch stirbt. Es gibt keine vergleichbare säkulare Institution, die das liefert, meint de Botton. Weil eine säkulare Gesellschaft Menschen als rationale Erwachsene betrachtet, die keine Hilfe bei den großen Lebensfragen brauchen, sondern Informationen und Daten. Therapeuten und Philosophen wiederum, die zuständig sein könnten, haben längst nicht die gesellschaftliche Wertschätzung und Anerkennung, die religiöse Gemeinschaften Priestern, Rabbis und Imamen entgegenbringen.
Natürlich lassen sich riesige, über Jahrtausende gewachsene Institutionen nicht mal eben mit etwas anderem ersetzen. Aber vielleicht ist es wichtig, überhaupt erstmal festzuhalten: Die Abwesenheit von Religion bedeutet nicht nur Freiheit im Leben eines Menschen, sondern auch Verluste. Weil sie einen großen Wissensschatz gesammelt haben. Religionen, sagt de Botton, sind Experten darin, wie man internationale Institutionen organisiert und ein Gefühl von Gemeinschaft über gemeinsame Werte erzeugt. Aber auch darin, wie man Reisen organisiert (wieso gibt es keine Pilgerreisen für Ungläubige?) oder großartige Reden hält (der Unterschied zwischen einem Vortrag und einer Predigt: Der Vortrag will Informationen geben, die Predigt dein Leben verändern. Der große Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. etwa war Pastor).
Erstaunlich viele Menschen nennen sich religionslos, sind aber trotzdem spirituell
Was Weihnachten nach wie vor für viele Menschen so zauberhaft sein lässt – wenn es nicht gerade ein kapitalistisches Konsumfest beziehungsweise Familienalptraum ist –, ist ein Gefühl von Gemeinschaft und Feststimmung, das auch unabhängig von Religion funktioniert. Menschen lieben Rituale, und es gibt in Deutschland keines, an dem so viele teilnehmen wie Weihnachten.
Man kann das Fest aber auch umdeuten: Neulich war ich in einer Wohnung zu Besuch, deren Bewohner keinen Adventskranz hatten. Aber am Tag der Menschenrechte – dem 10. Dezember – zündeten sie Kerzen an. Die Autoren einer Studie der Universität Bielefeld von 2015 schreiben, dass ein Drittel der Atheist*innen in Westdeutschland und ein Viertel in Ostdeutschland sich als „spirituell” bezeichnen würden (49,3 beziehungsweise 58,8 Prozent nennen sich laut der Studie insgesamt „weder spirituell noch religiös”). Ein Ergebnis, das die Forscher verblüfft hat, die offen zugeben, dass mehr Forschung nötig ist, um dieses „rätselhafte Phänomen” besser einzuordnen. Denn was Menschen unter „Spiritualität” verstehen, ist ziemlich unklar.
Menschen erleben ekstatische Gefühle beim Meditieren, Raven und im Krieg
Vielleicht hängt dieser schwammige Begriff mit etwas zusammen, das der US-Psychologe Jonathan Haidt, ebenfalls Atheist, als Selbst-Transzendenz beschreibt – also Erfahrungen, bei denen das Gefühl des individuellen Selbst sich in etwas „Größerem” auflöst. Haidt beschreibt das menschliche Erleben wie ein Haus. Meistens führt man sein eigenes, individuelles Leben im Erdgeschoss, aber manchmal geht eine unsichtbare Tür ins Treppenhaus auf und man steigt ein Stockwerk höher auf eine Ebene, auf der das individuelle Leben weniger wichtig wird und man selbstloser fühlt, im Kollektiv denkt. Das kann beim Beten oder Meditieren passieren, aber auch, wenn man psychedelische Drogen nimmt, auf einem Rave, wenn man den Mond betrachtet – oder im Krieg.
Richtig gelesen: Es gibt Soldaten, die beschrieben haben, wie sie auf dem Schlachtfeld das ekstatische Gefühl hatten, wie ihr „Ich” sich in ein „Wir” aufgelöst hat, und ihr persönliches Überleben auf einmal keine Rolle mehr spielte.
Unklar ist, ob es einen evolutionären Sinn hat, dass Menschen ihr individuelles Selbst und damit auch ihre eigenen Interessen transzendieren können, oder ob das eine Art Fehler im System ist. Für das Überleben des Einzelnen macht diese Funktion wenig Sinn, für das von Gruppen schon. Tatsache ist, dass es sie gibt. Haidt hält sie für einen grundlegenden Teil des Menschseins, glaubt aber, dass moderne Gesellschaften es Menschen sehr schwierig machen, ein Stockwerk höher zu gehen, und sich zum Beispiel einer Sache zu widmen, die über die eigenen Interessen hinausgeht – und dass das ein Grund dafür ist, dass viele moderne Menschen ständig latent unzufrieden sind.
Es gibt Alternativen, aber es fehlen die Tempel
Vielleicht kennt Yuval Harari, der wohl bekannteste Historiker unserer Zeit, die Lösung für dieses Problem. Er hat in seinem Buch „21 Ideen für das 21. Jahrhundert” in einem Kapitel ein Manifest für den Säkularismus geschrieben, der sich nicht über die Ablehnung von Religionen definiert. Dieser Säkularismus akzeptiert sogar, dass säkulare und religiöse Werte sich in wichtigen Punkten überschneiden: beim Anspruch auf universelles Mitgefühl und Barmherzigkeit zum Beispiel. Mit einer entscheidenden Ergänzung: „Die wichtigste säkulare Verpflichtung gilt der Wahrheit, die auf Beobachtung und Evidenz und nicht auf bloßem Glauben beruht.” Genau das schaltet blinden Gehorsam und absolute Wahrheitsansprüche aus, die nicht nur bei Religionen ein Problem sind, sondern auch bei anderen Ideologien.
Säkulare Bildung, sagt er, sei „nicht negative Indoktrination, die Kindern beibringt, nicht an Gott zu glauben und sich nicht an irgendwelchen religiösen Zeremonien zu beteiligen. Vielmehr bringt säkulare Bildung Kindern bei, Wahrheit von Glauben zu unterscheiden, Mitgefühl für alle leidenden Wesen zu entwickeln, die Weisheit und die Erfahrungen aller Erdenbürger zu schätzen, frei und ohne Angst vor dem Unbekannten zu denken sowie Verantwortung für das eigene Handeln und für die Welt insgesamt zu übernehmen.”
Das Großartige an Hararis Vorschlag ist, dass er das Beste aus beiden Welten vereint: Religion und Wissenschaft, individuelle Freiheit und ein Denken im Kollektiv. Und religiöse, atheistische, zweifelnde und suchende Menschen verbindet. Jetzt fehlen nur noch die Tempel und Feste für diese Idee.
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.