Ich war Teil einer christlichen Keuschheitsbewegung

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Sinn und Konsum

Ich war Teil einer christlichen Keuschheitsbewegung

Shannon Ashley wollte gut sein, das Richtige tun und ein starkes christliches Mädchen sein. Also heiratete sie, um Sex haben zu dürfen.

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Vor vielen, vielen Jahren war ich eine verheiratete Frau. Seit meinem Hochzeitstag sind inzwischen 15 Jahre vergangen. Im Nachhinein gesehen, hätte ich es ganz lassen sollen. Aber seien wir ehrlich – wer ist mit zwanzig schon ein Paradebeispiel an Weisheit.

Als ich J., meinen jetzigen Ex-Mann, zum ersten Mal sah, spielte er Bass auf der Bühne eines christlichen Cafés im Südwesten von Illinois. Seine Band wurde gerade langsam in der Punkszene von St. Louis bekannt. Ich war 19. Mein erster Gedanke, als ich ihn spielen sah: „Wen wird der wohl heiraten?“ Ich spürte, dass ein Funke übersprang, und das passierte mir ziemlich selten.

Ich war im College und fühlte mich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Im Jahr zuvor hatte ich in Texas als Praktikantin bei einer pseudochristlichen Sekte namens Honor Academy („Ehrenakademie“) gearbeitet. Ich wusste nicht, dass es eine Sekte war, ich sah mich als Teil eines christlichen Dienstes, der die Welt verändern würde. Genau das wollte ich.

In der Sekte mussten wir wöchentlich „Rechenschaftskarten“ einreichen, die belegen sollten, dass wir die Regeln befolgt hatten: Dass wir unsere Aufgaben erfüllt, Ausgangssperren und Ruhezeiten eingehalten, uns überhaupt wie gute Christen benommen hatten. Wenn wir uns Filme ansehen oder Ausflüge machen wollten, musste das vorab genehmigt werden. Den ersten „X-Men“-Film auf DVD durften wir uns nicht ansehen, weil Jennifer Lawrence als „Mystique“ nur Bodypaint als Kostüm trägt. Weltliche Musik war verboten. Dating war verboten. Der häufigste Grund, warum Praktikanten von der Ehrenakademie ausgeschlossen wurden, waren „unangemessene“ Beziehungen (wenn wir zum Beispiel jemanden küssten).

Nach der Gehirnwäsche war das College mein Untergang

Ein ganzes Jahr lang war ich in dieser Umgegbung einer regelrechten Gehirnwäsche unterzogen worden. Das College war nicht nur ein Kulturschock – es war mein Untergang. Ich war völlig durcheinander, obwohl es ein ziemlich nüchterner Campus war, in einer ebensolchen Stadt, und obwohl ich nie zur typischen College-Party-Szene gehörte. Es herrschte einfach ein deutlich liberaleres Klima als in dem christlichen Umfeld, aus dem ich kam.

Wenn ich auf diese Zeit zurückblicke, sehe ich meine sexuelle Verwirrung. Zu meinem Praktikum bei der Ehrenakademie hatten Kurse gehört, die uns zeigen sollen, was im Rahmen von Dating und Ehe akzeptabel war –und was nicht. Oralsex, Masturbation und sogar bestimmte sexuelle Positionen waren verboten, selbst in der Ehe.

Im College dachten die meisten Studenten und Mitarbeiter meiner Fakultät viel liberaler in Sachen Sex als andere Erwachsene, die ich kannte. Ich lernte Menschen kennen, die positiv über Masturbation sprachen. Die Leute schienen zu denken, dass zwischen zwei verheirateten Menschen alles möglich ist – oder sogar einfach dann, wenn zwei Erwachsene einwilligen. Für viele, wenn nicht die meisten, war Homosexualität völlig normal. Für mich fühlte sich das alles gleichzeitig richtig und falsch an.

Ich erzähle das hier als Hintergrund, um zu erklären, warum ich gerade in einer Phase großerer innerer Konflikte war, als ich J. traf. Nur war mir das damals nicht klar. Ich war ein evangelikaler Snob, weil ich es nicht wirklich besser wusste. Noch immer glaubte ich an das Märchen vom Superchristen. Ich wollte gut sein, das Richtige tun und ein starkes christliches Mädchen sein. Natürlich fühlte ich mich nie gut genug, um diese Anforderungen zu erfüllen.

Wir fühlten uns schuldig, weil wir „zu weit gegangen“ waren

Für jemanden in einer Punkband war J. unglaublich konservativ. Er ging auf ein anderes College und wollte Geschichtslehrer werden. Damals glaubte ich, dass ich in ihn verliebt war. An meinem 20. Geburtstag machte er mir einen Antrag. Am Phalen Lake, dem größten innerstädtischen See von St.Louis, für mich seit meiner Kindheit ein ganz besonderer Ort. Er hatte seine Gitarre dabei und sang für mich.
Wir knutschten regelmäßig und heftig und fühlten uns danach schrecklich schuldig, weil wir „zu weit gegangen“ waren.

Ein paar Wochen vor der Hochzeit verkündete J.s Mutter plötzlich, wir wären dabei, einen riesigen Fehler zu machen – wir sollten nicht heiraten. Es war ein Schock. Sie hatte meine Brautparty organisiert und mit uns die Hochzeit geplant, ihre Ablehnung kam aus dem Nichts.

Geheiratet haben wir trotzdem, aber der Widerstand von J.s Mutter wirkte nach. Ich weiß noch, wie ich in der Nacht vor der Hochzeit in meinem Hotelzimmer im Bett lag und mich fragte, ob ich das wirklich durchziehen sollte. Ich war noch keine 21 Jahre alt. Aber J. gab mir ein Gefühl von Sicherheit. Außerdem dachte ich mir: „Morgen werde ich Sex haben.“

Ist es albern zuzugeben, dass einer der Gründe, warum ich heiraten wollte, Sex war?

So war es nunmal. Ich war eine junge Frau mit einem ganz normalen Sexualtrieb. Aber ich hatte auch Angst.

Man redet heute noch nicht offen über das Thema, aber damals ging das noch weniger: Als junge evangelikale Frau war es schwer für mich, ein positives Gefühl für Sex zu entwickeln. Ich bin streng religiös erzogen worden, und meine sexuellen Wünsche waren mir peinlich. Ich war einfach nicht im Einklang mit meinem eigenen Körper. Damals erkannte ich noch nicht die Schichten sexueller Scham, die man mir anerzogen hatte.

Ich kam frühzeitig in die Pubertät und wurde wegen meines gestörten hormonellen Gleichgewichts behandelt. Ab dem Alter von sechs Jahren gingen routinemäßige „Beckenuntersuchungen“ mit dieser Behandlung einher. Es war immer ein männlicher Arzt, der meine Geschlechtsteile untersuchte. Ich weiß noch, wie ich während dieser Termine am liebsten meinen Körper verlassen hätte, weil ich es so demütigend fand.

Meine Mutter weckte mich nachts und roch an meinen Händen

Zu Hause wollte meine Mutter vom Thema Sexualität nichts wissen. Ständig warnte sie meine Schwester und mich vor den Schrecken der sexuellen Unmoral. Ich war noch in der Grundschule, als meine Mutter mich vor der Sünde warnte, „mit mir selbst zu spielen“. Als ich acht war, sagte sie mir, ich solle vor dem Schlafengehen „brav sein“ und weckte mich dann mitten in der Nacht auf, um an meinen Händen zu riechen. Um sicher zu sein, dass ich … brav war.

Ich wusste, dass das kein normales Verhalten von Eltern war. Aber was normal war, oder wovor sie mich so hartnäckig beschützten wollte, wusste ich nicht. Als ich dann verstand, was Masturbation ist, war ich mir sicher, dass Dämonen in mich gefahren waren.

In der sechsten Klasse verstand ich nicht, wie man Tampons benutzte. Die Schulkrankenschwester sagte lässig, wir könnten unsere Mütter fragen, wenn wir Probleme hätten. Als ich meine Mutter um Hilfe bat, sah sie mich an, als wäre ich ein Monster, und erklärte, das sei eine kranke und ekelhafte Bitte. „Was ist los mit dir?!“ schrie sie mich an.

Das war in den 1990er Jahren, bevor das Internet allgegenwärtig war, und ich konnte das Problem nicht einfach so googlen. Ich las verschiedene Yahoo-Seiten über Tampons und den ersten Sex, und mir wurde übel bei dem Gedanken. Gleichzeitig begegnete ich bei AOL und dem Instantmessager ICQ Männern, die versuchten, mit mir über unanständige Dinge zu reden. Das war beunruhigend.

Der Gynäkologe riet zu einem Gleitmittel

Vor unserer Hochzeit ging ich zu einem Gynäkologen, weil ich ja schon mit Tampons Probleme hatte. „Es ist sehr eng, aber es geht“, sagte er. Mir wurde schlecht. Ich weiß nicht genau, warum ich keinen Folgetermin vereinbart habe. Ich dachte, J. und ich könnten es gemeinsam bewältigen. Auch J. meinte, wir würden das schon hinkriegen.

Ich weiß nicht mehr, wie oft wir nach der Hochzeit Geschlechtsverkehr versucht haben. Ich weiß nur, dass jeder Versuch unglaublich schmerzhaft war. Je mehr ich mich bemühte, zu lächeln und es zu ertragen, desto unmöglicher wurde es. In den ersten Monaten machten mein Mann und und ich auf andere Weise rum, auch mit Oralsex. Ich fühlte mich schrecklich schuldig, und mein Selbstwertgefühl brach zusammen.

Irgendwann las ich von einem Problem namens Vaginismus.

Die Artikel darüber klangen so niederschmetternd, dass ich die Hoffnung verlor, die vaginalen Krämpfe je überwinden zu können. Irgendwie wurde es für uns normal, dass wir keinen penetrierenden Sex haben konnten. Darüber reden konnten wir auch nicht wirklich: Ich fühlte mich zu schuldig, und mein Mann hat es nicht thematisiert.

Unsere Ehe dauerte zweieinhalb Jahre. Es war die reine Zeitverschwendung. Wir lebten in einer Familienwohnung auf dem Campus der Southwestern Illinois University. J. ging zur Vorlesung und arbeitete. Ich habe nicht gearbeitet, weil ich nicht wusste, wie man Auto fährt. Ich nahm an Gewicht zu und kämpfte mit Akne. Es war furchtbar. Ich bewarb mich um einen Job in einem Spielzeugladen, aber nach dem Vorstellungsgespräch hörte ich nichts mehr davon. Ich war ein cleveres Mädchen mit Berufserfahrung, also bin ich mir sicher, dass mein Gewicht und meine entzündete Haut die Leute davon abhielten zu sehen, wer ich wirklich war.

Nicht nur mit mir selbst war ich unzufrieden, sondern auch mit J. Wir lebten uns auseinander und veränderten uns schnell. Er wollte MTV-Reality-Shows gucken und und konservative Radiosendungen hören, für beides hatte ich keine Geduld. Ich fühlte mich gefangen, als wäre ich mit einem Mitbewohner verheiratet, der mir auf die Nerven ging. Wir stritten uns wie Kinder. Weil ich immer noch so viel christliche Scham in mir trug, dachte ich, ich wäre verdammt, wenn wir uns scheiden lassen würden.

Ich versuchte, meinen gesundheitlichen Problemen auf den Grund zu gehen, aber wir hatten keine Krankenversicherung. Mein Vater half mir, einen Arzt zu finden, aber ich ging nicht hin. Ich fühlte mich hoffnungslos, wegen meines Vaginismus und auch wegen meiner Depression. Ich war noch immer Christin, und damals nahmen gute Christen keine Antidepressiva.

Das Aus, gekritzelt auf einen Pappteller, im Briefkasten

J. begann zu rauchen und versuchte, es vor mir zu verbergen. Aber er roch immer nach Rauch, und ich fand Zigaretten und Quittungen für Zigaretten im Auto. Ich sagte ihm, dass ich nicht dumm bin und dass ich nicht gerne belogen werde. Vielleicht war ich ihm eine schlechte Frau, aber ich war immer ehrlich. Ich versuchte auch, mit ihm darüber zu reden, dass ich unglücklich war und die Liebe weg zu sein schien, weil ich hoffte, dass darüber reden helfen könnte. Stattdessen verletzte meine Offenheit seine Gefühle. Er war nicht bereit, darüber zu diskutieren.

J. fing an, später nach Hause zu kommen und sich lahme Ausreden auszudenken. Wir teilten uns ein Handy, und ich sah Text- und Sprachnachrichten von einer Schulfreundin. Nichts explizit Romantisches, aber definitiv fragwürdig. Er sagte mir, es sei keine große Sache. Aber ich wusste: Sie hatten begonnen, sich zu verabreden.

An seinem Geburtstag kam er drei Stunden zu spät von der Arbeit nach Hause. Während ich auf seine Rückkehr wartete, rief ich seine Arbeitsstelle an. Man sagte mir, dass er dort nicht mehr arbeitete. Als er schließlich kam, hatte er lächerliche Ausreden auf Lager, an die ich mich noch nicht einmal erinnern kann.

Ein paar Tage danach kam er schließlich damit raus. Auf einen Papierteller kritzelte er den Satz, dass er nicht mehr mit mir verheiratet sein wolle, und warf den Teller in unseren Briefkasten.

In. Unseren. Briefkasten.

Ich spürte gleichzeitig echten Herzschmerz und immense Erleichterung. Es war ein Schock für mich, dass er eine Affäre hatte – und er mich deswegen belog. Und dass er mich über die Auflösung unsere Ehe mit einem Pappteller in unserem Briefkasten informierte. Aber ich war auch erleichtert, dass er derjenige war, der unserer Ehe ein Ende setzte. J. brachte mich zurück nach Minnesota, und ich fing ein neues Leben an. Meine Mutter sagte, dass ich eine sexuelle Störung hätte, und erzählte den Leuten, sie habe Angst, dass ich lesbisch sei.

Meine Ehe liegt nun gefühlt eine Ewigkeit zurück. Heute finde ich es seltsam, wie absurd ich von meinem Körper getrennt war, wie sehr die Scham mein Leben bestimmt hat. Aber ich verstehe jetzt, dass eine psychische Erkrankung und Depressionen zu so etwas führen können.

Ich habe nie professionelle Hilfe für meinem Vaginismus bekommen. Stattdessen kämpfte ich noch einige Jahre lang damit. Meine Jungfräulichkeit zu verlieren, war ein seltsamer und langwieriger Prozess – es war fast unmöglich, mit Menschen darüber zu reden, die noch nie mit intensiver sexueller Scham wegen ihrer Religion zu kämpfen hatten. Wenn die Leute nach meinem ersten Mal fragen, weiß ich nicht, was ich sagen soll. Ich kann nicht sagen, wann ich „offiziell“ meine Jungfräulichkeit verloren habe.

Letztendlich möchte ich meine Geschichte erzählen, um zu zeigen, wie ein christlicher Glaube eine Person in Stücke reißen kann – und um zu zeigen, dass eine Person mit Depressionen sich praktisch mit allem abfinden kann. Sogar einer Ehe, die nie vollzogen wird.


Shannon Ashley ist alleinerziehende Mutter und Vollzeit-Autorin.Sie wünscht sich eine Gemeinschaft, die schwierige Gefühle nicht unter den Teppich kehrt, sondern über sie redet. Ihr Motto: Es geht nicht darum, makellos zu sein, es geht darum, ehrlich zu sein. Mehr Texte von ihr (auf Englisch) findet ihr auf Medium.com.

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Übersetzung: Vera Fröhlich; Redaktion: Theresa Bäuerlein; Bildredaktion: Martin Gommel.