„Ich weiß nicht, ob ich Glück empfinden kann”

©️ Stefanie Oemisch

Sinn und Konsum

„Ich weiß nicht, ob ich Glück empfinden kann”

Anne (50) wusste schon immer, dass sie anders ist. Locker sein, Spaß haben und einer Gruppe angehören – all das konnte sie nicht. Erst durch einen Zufall erfuhr sie vor wenigen Jahren den Grund für ihr Verhalten: Anne hat das Asperger-Syndrom, eine Variante des Autismus, die noch nie so viel Aufmerksamkeit bekommen hat wie heute. Anne beschreibt, wie die Welt mit Asperger aussieht: bunter, greller und vor allem voller Stressfaktoren.

Profilbild von Protokoll von Stefanie Oemisch

Wenn ich früher als Kind morgens aufgewacht bin und mir klar war, dass ich gleich in die Schule muss, ging es mir schlecht. Schon allein die Fahrt im Schulbus hat mir Angst gemacht. Der enge Raum, die vielen anderen Kinder und keine Fluchtmöglichkeit, für mich war das alles extrem unangenehm.

Die anderen Kinder haben das natürlich gemerkt und mich gehänselt, sie nannten mich komisch und lachten mich aus. Ich hätte mich wehren und durchboxen müssen, aber wie das geht, wusste ich nicht. Auch in der Schule wurde es nicht besser. Ich konnte mich mit meinen Mitschülern nicht austauschen, Spaß haben oder mich einer Gruppe anschließen. Lieber blieb ich allein.

Früher dachte ich, mein Egoismus sei falsch

Auch meine Eltern haben mich nicht verstanden. Sie sahen nur ein Kind, das sich extrem zurückzog, am liebsten alleine im Freien unterwegs war und auf plötzliche Reize sehr gestresst reagiert hat. Sogar Blätter, die vom Wind aufgewirbelt wurden, haben mich erschreckt. Die Blätter bedeuteten, dass plötzlich etwas Unerwartetes auf mich zukam, auf das ich reagieren musste. Für mich der blanke Horror.

Meine Eltern machten sich Sorgen und gingen das erste Mal mit mir zu einem Neurologen, als ich gerade vier Jahre alt war. Der konnte jedoch nichts Ungewöhnliches feststellen. Für ihn war ich ein normales Kind. Das Asperger-Syndrom kannte damals, in den frühen Siebzigern, noch keiner. Ich habe trotzdem gemerkt, dass ich nicht ganz normal bin und habe in den folgenden Jahrzehnten viel Zeit in Psychotherapien verbracht. Immer mit dem Wunsch, mit den richtigen Methoden endlich ein besserer oder normaler Mensch zu werden. Ich bin eine Person, die vor allem an sich selbst denkt und der die anderen Leute ziemlich egal sind. Ich dachte, das wäre ein Fehler. Heute weiß ich: Das ist Teil des Aspergers.

„Asperger ist für mich keine Krankheit, sondern es ist einfach, wie ich bin.“

Das Asperger-Syndrom zu definieren ist schwierig. Es gibt einen Spruch, der sagt: „Kennst du einen Asperger, kennst du einen Asperger.” Und das stimmt. Wir „Aspis” sind alle unterschiedlich. Es gibt einige, die in einem Heim wohnen und sich nur mit sich selbst beschäftigen, aber es gibt auch jene, die einen „normalen” Alltag schaffen, so wie ich. Für mich passt der Begriff Reizfilterschwäche extrem gut.

Wie ich damit die Welt wahrnehme, ist schwer zu beschreiben. Es ist, als hätte ich zwanzig Augen, mit denen ich gleichzeitig Dinge sehe und wahrnehme. Dabei kann ich nicht zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden oder Dinge auch einfach mal ausblenden. In meinem Hinterkopf laufen verschiedenste unbewusste Prozesse gleichzeitig ab, und ich denke noch Minuten später über Symbole, Zeichen und Beschreibungen nach, die ich irgendwo gesehen habe. Alles unbewusst und ohne, dass ich diese Gedanken aktiv steuern kann.

Das ist sehr anstrengend, aber es hilft mir auch, denn ich kann dadurch sehr schnell Probleme lösen. Wenn ich beispielsweise auf einer Kamera eine Serienbezeichnung sehe, denke ich unterbewusst darüber nach, was diese bedeuten könnte. Die Antworten kommen plötzlich zu mir, oft kann ich aber die Lösungswege hinterher nicht nachvollziehen. Genauso ist es beim Arbeiten. Ich denke nicht über die IT-Probleme nach, die Lösungen kommen einfach. Wegen meiner „zwanzig Augen” kann ich aber in keine Fußgängerzone gehen. Denn dort stürzen so viele Eindrücke gleichzeitig auf mich ein, dass mein Kopf einfach dichtmacht. Dann bin ich zu nichts mehr zu gebrauchen. Nur noch ins Bett gehen hilft – nicht, weil ich müde bin, sondern weil ich nicht mehr kann.

Als ich meine Diagnose bekam, wollte ich vor einen Zug springen

Erst seit drei Jahren weiß ich, dass ich das Asperger-Syndrom habe – bei der Diagnose war ich schon 47. Eine Freundin, deren Mann in einer Behindertenwerkstatt arbeitet, hat mich gefragt, ob ich mich je auf Autismus habe testen lassen. Sie glaubte, in meinem Verhalten einige Symptome zu erkennen, die dazu passen. Für mich war diese Theorie absurd, aber ich habe trotzdem den Test gemacht. Vielleicht auch, um meiner Freundin und mir selbst zu beweisen, dass ich doch normal bin.

Um vorab andere Krankheitsbilder wie Depressionen, Schizophrenie und Psychosen ausschließen zu können, reiste ich immer wieder nach Berlin zur Charité. Die Ärzte und Psychologen stellten mir viele Fragen und analysierten mich entsprechend. Wie genau, habe ich nie verstanden. Erst danach ging der eigentliche Asperger-Test los. Ich musste Sätze, Bilder und Zahlenreihen vervollständigen und mir Fotos von Menschen ansehen, aus deren Gesichtern ich schließen sollte, welche Emotionen sie zeigen. Die Ärzte waren sich sofort sicher, dass ich Asperger habe. „Das ist absolut eindeutig“, teilten sie mir mit. Ich war schockiert. Mit dieser Diagnose hatte ich nicht gerechnet.

Mein erster Gedanke war, dass ich am besten gleich vor den Zug springen sollte. Ich wollte nicht „behindert” sein, keine ernsthafte Macke haben, die nicht mehr weggeht. Denn die Diagnose Asperger bedeutete für mich, dass ich die Hoffnung aufgeben musste, dass es nochmal besser werden würde. Bis dahin bin ich immer fleißig zur Therapie gegangen und habe versucht, an mir zu arbeiten. Von da an war mir klar, dass ich für immer so bleiben werde. Denn Asperger kann man nicht heilen.

Mit etwas Abstand kann ich heute sagen, dass die Diagnose auch eine Erleichterung war. Denn sie hat mir den Druck genommen, mich ändern zu müssen. Ich weiß jetzt, dass ich auch beim fünfzigsten Mal an einer lauten Party keinen Spaß haben werde. Also zwinge ich mich nicht mehr zu solchen Dingen, sondern lasse es einfach. Damals dachte ich aber erst, es sei besser, wenn mein Leben einfach zu Ende wäre.

Durch die Unterstützung meiner Frau habe ich mich jedoch fürs Leben entschieden. Im Rückblick kann ich sagen: Durch die späte Diagnose habe ich gelernt, mich anzupassen, und konnte so viel Selbstbewusstsein entwickeln, dass ich sogar als Selbstständige arbeiten kann. Andererseits habe ich aber auch viel mehr Schrammen auf der Seele, die andere und ich selbst mir zugefügt haben.

Jede Entscheidung, die ich nicht treffen muss, erspart mir Stress

Mittlerweile habe ich mir einen Alltag aufgebaut, der mit möglichst wenig Stress verbunden ist. Da mich zu viele Eindrücke ermüden, habe ich mein Umfeld sehr reizarm gestaltet. Ich wohne auf dem Land, arbeite als IT-Beraterin von zu Hause aus und plane mein Leben extrem durch, damit es zu möglichst wenigen Überraschungen kommt. Ich meide öffentliche Verkehrsmittel, Urlaub mache ich in meinem eigenen Wohnmobil, weil ich das gut kenne. Die Etiketten von Shampoo- und Duschgel-Flaschen entferne ich nach dem Kauf, sonst lese ich bei jeder Dusche die Namen und Inhaltsstoffe. In meiner Stammkneipe bestelle ich immer die gleichen Getränke: erst Milchkaffee, dann ein alkoholfreies Hefeweizen und zuletzt ein Bitterlemon. Es spart mir einfach Stress, wenn ich mir darüber keine Gedanken machen muss.

Es ist mir extrem wichtig, dass ich trotz Asperger einem geregelten Arbeitsleben nachgehen kann. Denn die Arbeit fordert mich. Wenn ich wirklich vertieft bin und mich auf einen Prozess fokussiere, kann ich unheimlich schnell arbeiten. Aber nach drei Stunden bin ich so erschöpft, dass ich nicht mehr weitermachen kann.

Der Kontakt mit anderen Menschen bei der Arbeit fällt mir erstaunlicherweise leicht. Ich habe mir über die Jahrzehnte hinweg eine Art Show antrainiert, dank derer die Menschen, mit denen ich zu tun habe, mich nicht komisch finden. Das bedeutet: Ich zwinge mich, meinem Gegenüber in die Augen zu schauen, ihm die Hand zu geben und so zu tun, als sei ich locker, auch wenn ich hinter der Fassade extrem gestresst bin. Falls ich dann doch mal in die Situation komme, einem Kunden verklickern zu müssen, wieso er mich in kein Hotel einbuchen kann, in dem 150 andere Leute beim Frühstück sitzen, sage ich einfach: „So viele Menschen sind nichts für mich.” Die meisten geben sich damit zufrieden, nur selten stellt dann noch jemand tiefere Fragen. Mein Asperger-Syndrom ist nicht geheim, aber ich wähle sehr genau aus, wem ich davon erzähle.

Andere Menschen sind im Umgang mit mir oft unbeholfen

Meine engen Bekannten wissen zum großen Teil von meiner Asperger-Diagnose und gehen mittlerweile locker damit um. Sie verstehen, dass von meiner Seite wenig kommt und sie sich um den Kontakt bemühen müssen. Manchmal sind sie ein bisschen unbeholfen und unsicher, weil sie zum Beispiel nicht wissen, ob sie mich umarmen können. Dann gehe ich einen Schritt auf sie zu und zeige ihnen, dass es okay ist. Es ist meine Aufgabe dafür zu sorgen, dass sich Menschen im Umgang mit mir wohlfühlen, nicht ihre. Mit Samthandschuhen möchte ich keinesfalls angefasst werden.

Der einzige Mensch, bei dem ich wirklich so sein kann, wie ich bin, ist meine Frau. Wir haben uns 2002 in einer Phase kennengelernt, in der ich gerade aus einer Ehe kam und eigentlich keine Beziehung wollte. Doch sie hat mir von Anfang an signalisiert, dass sie mich und meine Bedürfnisse komplett ernstnehmen will. Sie ist wild entschlossen, mich so zu akzeptieren wie ich bin. Wir geben uns gegenseitig extrem viel Halt – manchmal bin ich erstaunt, dass ich das überhaupt kann. Wenn ich genervt bin, was extrem schnell passiert, ist meine Frau die einzige, die noch in meiner Nähe sein darf. Ich vertraue ihr eben – und sie hat noch nie versucht, mich zu ändern.

Ich weiß nicht, ob das Konzept Beziehung und Liebe für mich funktioniert

Trotzdem stelle ich mir immer wieder die Frage, ob ich überhaupt lieben kann und ob das Konzept Beziehung für mich funktioniert. Nicht, weil meine Frau die falsche Person wäre oder ich mich nicht öffnen mag, sondern weil ich nicht weiß, ob ich überhaupt lieben kann. Mit meinen Kindern ist das ähnlich, so hart das klingt. Ich wollte früher so gerne normal sein und habe deshalb in meiner ersten Ehe drei Kinder bekommen. Ich dachte, das gehört eben dazu. Meine Kinder sind mittlerweile alle erwachsen und wohnen nicht mehr bei mir. Ab und zu treffen wir uns, manchmal laden sie mich zum Essen ein. Aber die ungewohnte Umgebung, die Gespräche, die Lautstärke stressen mich so sehr, dass ich das Essen nur herunterschlinge und am Ende nicht mehr weiß, wie es geschmeckt hat. Die Diagnose Asperger hat meine Kinder kaum getroffen. Für sie ändert sich nichts, außer, dass es für mein Verhalten jetzt einen Namen gibt.

Ich weiß auch nicht, ob ich Glück empfinden kann. Ich glaube, ich bin in der Lage eine Art Zufriedenheit zu fühlen, aber es gibt keine wirklichen Glücksschübe in mir. Denn auch positive Momente sind für mich sehr anstrengend. Von meiner ersten Hochzeit habe ich vor lauter Stress gar nichts mitbekommen, die zweite fand also nur mit meiner Frau, meiner großen Tochter und mir statt. Wenn ich nun im Urlaub einen Sonnenuntergang sehe, dauert es extrem lange, bis mein Stresspegel so weit unten ist, dass ich irgendwann etwas Schönes empfinden kann. Wenn es überhaupt passiert.

Es wäre viel einfacher, ein Leben nur für mich zu führen. Aber ich glaube, ich würde auch vieles verpassen. Deshalb halte ich an der Beziehung zu meiner Frau und meiner Familie fest, denn es ist schön, nicht alleine zu sein.


In unserer Serie „Was ich wirklich denke“ lassen wir Menschen sprechen, die interessante Berufe haben, die in herausfordernden oder besonderen Lebenssituationen stecken oder die etwas Ungewöhnliches erlebt haben. Trifft das auf dich zu und willst du davon erzählen? Dann melde dich unter: theresa@krautreporter.de


Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.