Lange Zeit habe ich Leute für verrückt erklärt, die mir gesagt haben, dass sie Sex toll finden. Ich dachte, Sex macht man, um Kinder zu kriegen oder weil es ein Hype ist. Aber den Spaß daran hielt ich für ein Gerücht.
Erst vor zwei Jahren habe ich gemerkt, dass es eine sexuelle Orientierung gibt, die man „asexuell“ nennt. Und dass sie auf mich zutrifft. Ich spüre körperliche Erregung – aber ich habe nie Lust, mit jemandem zu schlafen. Es hat lange gedauert, bis ich das verstanden und akzeptiert habe. Denn es ist ja so, dass die ganze Gesellschaft dir suggeriert, dass du Sex wollen musst. Besonders, wenn du verliebt bist.
Ich habe schon früh gemerkt, dass ich da anders bin. Mit zwölf fiel mir auf, dass die Mädchen um mich herum komisch wurden. Auf einmal konnte ich mit ihnen nichts mehr anfangen, es ging nur noch um Flaschendrehen, Musik und Jungs, um Schminken und ums hübsch machen für die Disco. Ich fand das völlig Banane. Boybands gingen für mich gar nicht, und Schauspieler fand ich ihrer Leistungen wegen toll, nicht, weil ich in sie verknallt war. Tommy Lee Jones zum Beispiel, dessen Filme habe ich teilweise rauf- und runtergeguckt. Den hätte ich wahnsinnig gerne mal getroffen. Und gründlich ausgehorcht. Aber mehr auch nicht.
Also habe ich mich gefragt, was eigentlich meine sexuelle Orientierung ist. Ich kannte hetero, homo und bi und hatte in der Bravo gelesen, dass Mädchen sich meistens für Jungs interessieren. Bei mir war das aber nicht so. Ich habe schon für ein paar Jungs aus der Klasse geschwärmt, aber ich wollte nichts von denen. Die Mädchen haben mich aber auch nicht angezogen. Ich hatte einfach nie das Bedürfnis nach körperlicher Nähe, geschweige denn nach Küssen oder Sex.
Ein Junge flirtet mit mir – das finde ich sehr unangenehm
Mit dreizehn hat mich ein Junge im Frankfurter Zoo angeflirtet, das fand ich sehr unangenehm. Was er genau gesagt hat, weiß ich nicht mehr. Dass er mich angebaggert hat, wurde mir aus der Reaktion meiner Stiefmama bewusst, die ihn abgewimmelt hat. Um solche Situationen in Zukunft zu vermeiden und mich davor zu schützen, fing ich an, massiv zuzunehmen und mich möglichst nicht figurbetont anzuziehen. Ich hatte gehört, dass nur die hübschen Mädchen angeflirtet wurden. Das hat funktioniert, und ich war sowas von froh, dem zu entkommen.
Mit 20 Jahren hatte ich trotzdem meinen ersten Freund. Ehrlich gesagt vor allem deswegen, weil ich leider jemand bin, der sehr schlecht Nein sagen kann. Das hat man mir in meiner Familie so beigebracht. Meine Mutter hat richtig emotionale Erpressung betrieben. Wenn etwas nicht so lief, wie sie das von mir erwartet hat, war ich ein schlechter Mensch.
Meine Oma, bei der ich seit dem siebzehnten Lebensjahr wohnte, war nicht besser. Vor einigen Jahren beispielsweise weigerte ich mich, sie zur Begrüßung zu umarmen – prompt reichte sie Beschwerde bei meinem Vater ein, wie unverschämt und undankbar ich doch sei. „Du bist ein schlechter Mensch, jetzt bringst du mich zum Weinen”, hieß es oft. „Du bist wie deine Mutter“, noch öfter.
So kam es auch, dass ich nicht wagte, Nein zu sagen, als ich mit 18 sexuell missbraucht wurde, durch meinen Fahrlehrer. Der hat mich so lange bedrängt, bis ich endlich eingewilligt habe. In der Hoffnung, er würde mich dann endlich in Ruhe lassen. Es hat klein angefangen damit, dass ich meine Hand in seinen Schritt legen sollte, es ging weiter damit, dass er mich befummelte. Irgendwann hat er mich dazu gekriegt, dass ich ihn oral befriedige.
Meinen Freund habe ich 2003 auf einem Animexx-Treffen kennengelernt, das ist ein Event für Fans von Anime und Manga. Ich war schon immer ein Comic-Geek. Da war da dieser Typ, den ich sehr sympathisch fand, auch wegen seines teilweise recht schrägen Humors. Es wurde ziemlich spät und er hat mich dann nach Hause gefahren. Auf dem Weg hat er mir gesagt, dass er mich nett findet und sich mit mir eine Beziehung vorstellen könnte. Ich war total verblüfft und habe irgendwie herum gestottert. Er hat mir dann seine Nummer gegeben und ist nach Hause gefahren.
Kurz darauf wurden wir tatsächlich für anderthalb Jahre ein Paar. Warum ich mich darauf eingelassen habe? Verliebt war ich nicht, aber ich dachte, alle machen das, und ich müsste es jetzt auch mal tun. Und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil er doch so nett zu mir war. Im Nachhinein weiß ich: Er war ein supertoller Kerl, den ich wegen seiner ruhigen, liebevollen, unterstützenden, wenn auch etwas wortkargen Art sehr mochte. Aber das Beziehungsdings war eine ganz dumme Idee.
Ich genieße körperliche Nähe – will aber keinen Sex
Immerhin habe ich mit ihm das erste Mal gemerkt, dass ich körperliche Nähe mag. Kuscheln, einander im Arm halten, Küssen, das hatte ich alles mit ihm zum ersten Mal. Es war sehr ungewohnt am Anfang, aber irgendwie auch schön. Auch seine ersten Annäherungen auf sexueller Ebene haben mir gefallen, weil er sich sehr viel Zeit gelassen hat und sehr zärtlich war. Bedrängt hat er mich null.
Nach einem Jahr erzählte ich einer Klassenkameradin ganz nebenbei, dass wir noch nie miteinander geschlafen hatten. Sie war total schockiert und meinte, das ginge gar nicht, da würde er ja drunter leiden und das sei nicht normal. Das habe ich mir sehr zu Herzen genommen. Also habe ich mich dazu gezwungen, mit ihm Sex zu haben, ich dachte, ich muss, das gehört dazu.
Spaß gemacht hat mir das nie, auch in meinen späteren Beziehungen nicht. Es war höchstens mal ganz nett. Auf einer Skala von 1 bis 6, wenn 1 toll ist und 6 schrecklich, war es bei mir höchstens eine 3 oder 4. Von „Joa, das ist okay, aber warum machen wir das jetzt nochmal?“ – bis zu sehr schmerzhaft und unangenehm. Sicher war es nie etwas, von dem ich gesagt hätte: „Hey, das müssen wir nächste Woche noch mal machen!“
Mit 18 bin ich missbraucht worden – asexuell war ich schon davor
Lange habe ich mich gefragt, was mit mir los war, warum ich mit sexueller Anziehung so gar nichts anfangen konnte. Wenn mir eine Freundin sagte: „Der Typ da drüben ist heiß!”, dann waren das für mich nur Worthülsen. Ich bin mir sicher, dass das nicht an meiner Missbrauchserfahrung liegt. Die hatte ich ja mit 18. Wenn man bis dahin noch kein sexuelles Interesse an anderen Menschen hat, ist der Zug meiner Meinung nach abgefahren. Weder kann dieses Interesse durch ein negatives Erlebnis unterdrückt noch durch ein positives Erlebnis „erweckt“ werden – es kommt entweder im Laufe der Pubertät oder eben nicht.
Asexuell empfunden habe ich vor dem Missbrauch und auch danach. Daran hat sich nichts geändert. Einzig mein Selbstwertgefühl wurde dadurch noch schlechter und es fiel mir noch schwerer zu sagen, wenn ich etwas nicht wollte.
Es lag auch nicht daran, dass ich ein Problem mit meinem Körper habe. Ich konnte es nur nicht leiden, wenn andere Menschen auf ihn reagierten. Wenn ein Partner mich auf dem Weg zum Badezimmer ansah wie ein leckeres Törtchen und fragte, ob er mitduschen konnte. Das gefiel mir gar nicht.
Eine körperliche Reaktion ist nicht dasselbe wie Lust
Der Groschen fiel bei mir 2016, als ich begann, an meinem Roman zu arbeiten. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, eine Sexszene zu schreiben, und ich kam einfach nicht weiter damit. Die Szenen fühlten sich künstlich an. Mein Protagonist hat sich auch gesträubt. Also habe ich ein bisschen recherchiert und bin auf das AVEN-Forum gestoßen, das ist ein Forum, in dem sich Asexuelle untereinander und mit Nicht-Asexuellen austauschen können (Asexuality Visibility and Education Network). In vielen Beiträgen habe ich nicht nur meinen Protagonisten, sondern auch mich wiedererkannt – aber das habe ich erst mal weggeschoben. Ich kam mit einem der Admins, der selbst asexuell ist, ins Gespräch und habe ihm einige Passagen aus meinem Romanprojekt geschickt. Einer seiner Kommentare war: „Ich habe diese Erfahrung zwar nie gemacht. Aber ich weiß, dass körperliche Erregung im Kopf anfängt, und nicht erst, wenn einer Hand anlegt.”
Der Satz ging mir über einen Monat ständig im Kopf herum. Er arbeitete in mir. Für mich war das – so albern und unaufgeklärt sich das anhören mag – eine bahnbrechende Erkenntnis: Es mag eine körperliche Reaktion geben, wenn man Genitalien mechanisch stimuliert – aber das ist nicht das gleiche wie Lust! Sondern einfach eine Reiz-Reflex-Folge wie beim Pawlowschen Hund. Das hatte ich bis dahin völlig missverstanden – wie wohl so manche Frauen meiner Generation. Ich dachte, wenn mein Körper erregt ist, würde das bedeuten, dass ich Sex wollen würde.
Ein paar Wochen später kuschelte ich gerade mit einem Kumpel, als mir plötzlich klar wurde, dass ich Kuscheln und Streicheln mag, aber nicht mehr will als das – nie! Ich grinste übers ganze Gesicht und sagte zu ihm: „Hey, ich bin asexuell!“ Er war völlig verdattert.
Das ist der Moment, wo du merkst: Du hast dich gefunden.
Das ist jetzt zwei Jahre her. Mittlerweile habe ich mich sehr vielen Menschen in meinem Bekanntenkreis gegenüber geoutet, vielleicht auch zu früh und zu schnell. Im Nachhinein weiß ich, dass es besser ist zu warten, bis man sich selbst sehr sicher ist. Denn es kommt ganz schöner Gegenwind, der einen ziemlich aus der Bahn werfen kann. Fragen wie „Warst du schonmal beim Arzt?“, „Sicher, dass du nichts Hormonelles hast?“ Oder Ratschläge wie: „Du musst dich noch ausprobieren, du hast einfach nicht herausgefunden, was dir Spaß macht.“
Sex ist für mich ungefähr so spannend wie Abwaschen
Doch, habe ich! Den Scheiß mit dem Ausprobieren um fast jeden Preis habe ich hinter mir. Jemand hat mir sogar geraten, „leichte Drogen“ zu nehmen, damit ich mich fallenlassen könne. Ich habe aber gar kein Problem damit, mich fallenzulassen. Nur kann ich das eben beim Sex nicht. Das löst bei mir keine Gefühle aus, ich finde das ungefähr so spannend wie Abwaschen. Manchmal gerät man leider beim Coming Out an Menschen, bei denen man das Gefühl hat, dass sie sich von allem in ihrer eigenen Identität hinterfragt und angegriffen fühlen, was ihrer Vorstellung von „Normalität“ widerspricht.
Es hat eine Weile gedauert, bis ich meine Orientierung nicht mehr hinterfragt habe. Und die ganzen Selbstzwänge aufhörten. Sehr geholfen haben mir die Beziehungen zu zwei Männern, die auch asexuell sind. Sie haben mir gezeigt, wie schön und erfüllend Nähe ohne sexuellen Druck sein kann.
Mit meinem asexuellen Partner konnte ich sogar zusammen duschen, nackt mit ihm kuscheln. Da waren einfach nur Nähe und Wärme und Haut. Zwischen uns fiel kein einziger Blick, der sich seltsam anfühlte.
Die Gefühle eines asexuellen Mannes kann ich nachempfinden
Kuscheln mit einem asexuellen Mann fühlt sich für mich viel intensiver und viel wärmer an, weil bei einem Asexuellen nur Gefühle im Spiel sind, die ich selbst auch nachempfinden kann. Ich kann mich da voll und ganz in die Liebkosungen und Umarmungen hineinfallen lassen. Die größte Erfüllung findet nicht im Sex statt, sondern ist vorher schon da. Die höchsten Glücksgefühle kommen, wenn wir uns einfach im Arm liegen, einander ganz zart berühren, manchmal reichen nur Blicke. Wie da manchmal die Gefühle rüberschwingen, das ist ein unglaublich mächtiges Empfinden, wie eine Welle, die einen mitreißt, oder ein warmer Mantel, der einen sanft umhüllt. Das ist zwar nicht typisch asexuell, aber solche Gefühle finden Asexuelle sonst auf der sexuellen Ebene einfach nicht.
Asexuelle Beziehungen sind ansonsten gar nicht so anders, die Zuneigung ist die gleiche, sie drückt sich nur anders aus. Ein wichtiger Unterschied zu meinen früheren Beziehungen war aber, dass wir von Anfang an darüber geredet haben, wo unsere Grenzen sind, was wir möchten und was nicht. Ich mag zum Beispiel eher zarte Küsse. Zungenküsse fühlen sich auch mal ganz interessant an, sind aber nichts, was ich unbedingt brauche. Es war einfach selbstverständlich, dass wir über Konsens geredet haben. Ich glaube, dass diese Gespräche auch vielen sexuellen Beziehungen guttun würden.
Ich würde mir mehr Aufklärung in Schulen über Asexualität wünschen, aber auch mehr Figuren wie Lord Varys in Game of Thrones. Der ist zwar ein Eunuch, aber er bringt ziemlich glaubwürdig rüber, dass er noch nie Interesse an Sex hatte. Er ist meine asexuelle Ikone. Solche Figuren können dabei helfen zu verstehen, dass nicht jeder Mensch Lust auf Sex hat – und dass das okay ist. Es ist doch schade, wenn man es erst mit 50 herausfindet.
Dieser Text ist Teil der Serie „Was ich wirklich denke“, in der wir Menschen zu Wort kommen lassen, die in interessanten Berufen arbeiten oder in herausfordernden und besonderen Lebenssituation stecken. Trifft das auf dich zu und willst du davon erzählen? Dann melde dich unter: theresa@krautreporter.de
Redaktion: Susan Mücke; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacherfoto: Tanja Heffner).