Ich selbst gehöre zum letzten Schwung Zivildienstleistender. Ich war also Teil der letzten Generation, die einen „Freiheitseingriff“ erlitten hat – so nannte FDP-Chef Christian Lindner die Idee einer Dienstpflicht, die jetzt wieder diskutiert wird. Ich finde, dieser Vorwurf ist absurd.
Als die Bundesregierung 2011 die Wehrpflicht aussetzte, schaffte sie leider auch den Zivildienst mit ab. Dabei war der eine hervorragende Idee. Ein Jahr lang musste man sich, zwischen Schulpflicht und Uni-Stress, mit etwas anderem als Noten und Klausuren beschäftigen. Wenn heute über die Wiedereinführung eines solchen Jahres diskutiert wird, sprechen viele von Zwang. Ich finde: Der Zivildienst machte frei von Zwängen. Und genau deshalb wünsche ich ihn der jungen Generation zurück.
Ich lobe den Zivildienst auch, weil mein eigener Dienst großartig verlief. Ich verrichtete ihn in einem belgischen Alten- und Kinderheim. Wobei „verrichten“ fast zu negativ klingt: ich lernte dort ziemlich heitere Dinge, wie belgisches Französisch, das niemand sonst auf der Welt versteht; in Rekordzeit einen Spiegel putzen; betrunken Darts spielen; und wie man eine Pommes-Stanzmaschine bedient.
Es wurde getrickst, um vom Dienst befreit zu werden
Natürlich ist das nur meine Erfahrung. Allerdings gab in einer Infratest-Studie fünf Jahre vor Abschaffung des Zivildienstes kein einziger Befragter an, den Dienst ungern zu machen. Es wird Ausnahmen geben. Aber es gibt auch Menschen, die absolut nicht in das deutsche Schulsystem passen. Sollte man wegen ihnen die Schulpflicht abschaffen?
Überhaupt glaube ich bis heute nicht daran, dass auch nur eine Person wirklich zum Zivildienst oder Wehrdienst gezwungen wurde. Dafür war das System, zumindest in den letzten 20 Jahren, zu lax. Um den Dienst an der Waffe zu verweigern, reichte ein Wisch aus dem Internet. Aber schon vorher, in der Entscheidung zwischen Zivi oder Bund selbst, gab es immer inoffizielle Notausgänge.
An ein Attest über krummen Rücken oder Plattfüße kamen in meinem Jahrgang die sportlichsten Typen. Andere Vollverweigerer rauchten am Abend vor der Musterung einfach eine Tüte Gras. In meiner Heimatstadt Weimar traf man sich in den Wochen der Musterungen regelmäßig zum Ankiffen gegen den Dienst an der Waffe – es kamen auch Nichtraucher. Denn Kiffer wollte man beim Bund nicht. Und wem bei der Musterung der Cannabisstoff THC im Urin nachgewiesen wurde, der fiel durch, man wurde dann komplett vom Dienst, auch vom Zivildienst, befreit.
Es ging auch noch einfacher. Man konnte sich etwa beim Hörtest taub stellen. Ein Freund muss nach drei Kniebeugen eine brillante Schauspielleistung in Sachen Atemnot abgeliefert haben, man schickte ihn direkt als ungeeignet nach Hause. Es kursieren auch Berichte über junge Männer, die vor der Musterung Brechmittel schluckten und der Bundeswehr den Flur vollkotzten, um ausgemustert zu werden. So wurde in ganz Deutschland getrickst – laut Statistik war jeder zweite Deutsche dienstuntauglich.
Schule ist Pflicht, aber Zivildienst ist Zwang?
Natürlich kann und will nicht jeder tricksen. Man müsste über das neue Gesellschaftsjahr also trotzdem wie von einer Pflicht sprechen. Ich glaube aber, dass diese Pflicht jungen Menschen zugutekäme – egal welchen Geschlechts. Denn Schulabgänger befinden sich, zwischen Schule und Berufsleben, in einem einzigartigen Moment, der völlig frei von Pflichten ist. Vielleicht zum letzten Mal in ihrem Leben.
Es klingt paradox, aber: Warum sollte man sie nicht dazu verpflichten, diesen wertvollen Moment nicht zu verstreichen zu lassen? Und wäre diese Pflicht wirklich so schlimm, verglichen mit allen anderen Pflichten, die auf junge Menschen warten?
Als ich hörte, dass Christian Lindner ausgerechnet ein Gesellschaftsjahr nach der Schule als „Freiheitseingriff“ bezeichnete, musste ich lachen. In Deutschland wird man 9 bis 13 Jahre in ein Schulsystem gepresst, dessen preußische Züge noch deutlich erkennbar sind. Gedankliche Höchstleistungen müssen zu Uhrzeiten erbracht werden, zu denen viele Schüler noch schlafen sollten. Den Blick stur nach vorn. Heiß geführte Diskussionen werden zum Klingelzeichen einfach abgeschnitten. Und wer versagt, fliegt raus, und wird des kompletten sozialen Umfeldes beraubt. Es fällt schwer, ein zusätzliches Jahr, in dem das alles nicht so ist, als bösen Zwang anzusehen.
In seinem Rundumschlag gegen die Dienstpflicht argumentierte Lindner: „Der Staat ist kein Volkserzieher.“ Jeder solle selbst entscheiden, welchen Weg man geht. Aber er irrt sich. Im Jahr 2006 bestätigte das Bundesverfassungsgericht: Der Staat legitimiere die Schulpflicht als „Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags“. Und vielleicht sollte man das Gesellschaftsjahr genau so ansehen: als zusätzliches Schuljahr. Nur eben eines, das ohne Mint-Fächer, Fristen, Klausuren, Mund halten und Stillsitzen auskommt.
Der Zivildienst befreit – vom Mief der Heimat, vom Leistungsdruck
Und danach? Vier von fünf Abiturienten wollen nach der Schule an die Uni. Nicht, weil sie es müssen. Oder doch? Denn wo der Staat seinen Erziehungsauftrag beendet, übernehmen andere. Eltern, die das Staatsexamen ihres Kindes fest einplanen. Der Arbeitsmarkt, der blutjunge Berufseinsteiger fordert. Arbeitgeber, die einen lückenlosen Lebenslauf als Einstellungskriterium ansehen. Unternehmen, die Studenten unter Vertrag nehmen und einen schnellen Studienabschluss zur Voraussetzung machen.
Für viele gilt: Je zügiger, je schmerzloser alles vorbeigeht, desto besser. Aber beim sturen Durchpowern der akademischen Grade bleibt etwas auf der Strecke.
Im Zivildienst muss man nichts beweisen, es gibt dort keine Noten. Der Dienst ist an sich recht zwecklos. Er hilft nicht beim Aufnahmeverfahren an der Uni noch gilt er bei den meisten Arbeitgebern als besondere Qualifikation. Dafür liegt sein Wert woanders. In einer Welt, in der auf Schulbank möglichst Hörsaal folgen soll, ist er eine Übung in Gelassenheit. Er ist eine Befreiung.
Zuerst hat mich der Zivildienst vom Mief der Heimat befreit. Ich wollte den Dienst nicht im Altenheim gegenüber ableisten. Ich bewarb mich auf Programme in Sydney, in Kalifornien und an der vietnamesischen Küste. Am Ende bekam ich meinen Einsatzort zugewiesen: Lüttich, in Belgien. Lüttich ist eine graue Stadt, im Winter wie im Sommer. Ich hätte mir aufregenderes vorstellen können. Damit sei auch gleich der Vorwurf entkräftet, ein gelungener Zivildienst sei an besondere Privilegien geknüpft. Ich ging damals dort hin, wo nur noch ein Restplatz übrig war, und wurde trotzdem glücklich.
Vielleicht stört Lindner etwas ganz anderes
Ich musste auch nicht neidvoll auf Freundinnen gucken, die jetzt ein Jahr lang die Welt bereisten. Mich hatte es ja auch in die Ferne verschlagen. Noch dazu mit einem klaren Auftrag. Im Zivildienst, meiner einjährigen Verpflichtung zur Gelassenheit, konnte ich auch länger darüber nachdenken, was ich eigentlich mit meinem Leben anstellen wollte – anstatt dies kurzfristig vor den Abiturprüfungen tun zu müssen.
Ich wohnte in Lüttich zusammen mit zwei anderen Freiwilligen im Dachgeschoss einer Einrichtung namens „Balloir“. Wir bekamen Kost, Logis und ein Taschengeld, das auch für belgische Bierspezialitäten reichte. Das „Balloir“ war gleichzeitig Altenheim und Kinderheim. Eine bizarre, aber auch total sinnvolle Mischung. Für die Kinder und Alten mussten wir ganz ähnliche Aufgaben übernehmen: morgens das Frühstück füttern, vormittags Spaziergänge machen, mittags alle zum Essen einsammeln, nachmittags Fritten stanzen und vielleicht noch ein paar Bastelarbeiten. Den 90-Jährigen legten wir abends alte Chansons auf, im Kampf gegen Alzheimer.
Dann setzte Karl-Theodor zu Guttenberg in Berlin die Wehrpflicht aus. Es kamen keine Deutschen mehr nach Lüttich. Ich gebe es ja zu: Hätte ich nicht gemusst, ich wäre nie und nimmer in das graue Lüttich gegangen. Sondern an einen Ort, der mir etwas geschuldet hätte. Ein fremdes Land, das mir eine Sprache beibringt. Die Uni, die mir akademische Grade verleiht. Vielleicht direkt ein Job, für Geld und Karriere. Lüttich, eine Art Sneak Preview des Lebens, ein Ort frei von Erwartungen, wäre mir verborgen geblieben.
Vielleicht sähe Lindner das alles ähnlich. Vielleicht störte ihn, als er gegen die Dienstpflicht wetterte, auch etwas völlig anderes als die Gesetzeslage oder der angebliche Freiheitseingriff. Später verriet er es. Es mache ökonomisch keinen Sinn, sagte Lindner, „junge Menschen ein Jahr von Ausbildung und Beruf fernzuhalten“. In anderen Worten: Der Staat verdient kein Geld an jungen Menschen, die zwischen benutzten Rentnerlaken und krümeligen Frühstückstabletts auf Sinnsuche gehen. Und deshalb sollte der Staat solche Exkursionen auch nicht unterstützen.
Der Zivildienst bringt … nichts – das ist das Schöne an ihm
Ich machte im Zivildienst Erfahrungen, über die sich nicht genau sagen lässt, wozu sie gut sein sollen. Erst recht nicht ökonomisch gesehen. Und vielleicht geht es genau darum: dass manche Fragen unlösbar sind. Dass man mit manchen Rätseln anders umgehen muss, als sie mit aller Gewalt zu lösen. Man gewinnt Menschen lieb, sieht ihnen beim Altern zu – dann sterben sie. Da kann man nix machen. Eine Tatsache, von der man nichts mitbekommt, bis sie einem im echten Leben entgegenschlägt. Im Zivildienst habe ich sie zigmal erlebt.
An alles hat man heute Erwartungen, daran haben wir uns gewöhnt. Neulich las ich mir die Amazon-Bewertungen für einen Dosenöffner durch. Was gäbe es heute für ein größeres Geschenk als ein Jahr, das einfach gar nichts bringen muss?
Der Zivildienst bringt dir weder durchdefinierte Soft Skills noch Schlüsselqualifikationen, das ist das Schöne an ihm. So gesehen ist auch die Forderung sinnlos, anstelle einer neuen Dienstpflicht einfach den Bundesfreiwilligendienst attraktiver zu bewerben. Attraktiver, da geht es nur wieder ums Abwägen. Macht es sich gut im Lebenslauf, wenn ich als sozial engagiert gelte? Kann ich als Zivi vielleicht was abstauben, eine Fremdsprache oder eine Bescheinigung, die ich während des Medizinstudiums ohnehin machen müsste? Kann ich Zeit sparen? So ließe sich ein freiwilliges Jahr wohl bewerben. Nur ginge das völlig am eigentlichen Sinn des Zivildienstes vorbei.
Die vielen Freiwilligendienste, die seit 2011 versuchten, den Zivildienst zu ersetzen, scheitern kolossal – vor allem, weil die finanziellen Richtlinien fehlen. Zivis wurden noch wie Bundis bezahlt, der Fairness halber. Als Freiwilliger muss man heute fast draufzahlen. Auf Twitter kann man sich dieser Tage durchlesen, wohin das führt:
https://twitter.com/mauerunkraut/status/1027123444138295297
https://twitter.com/ThomasOHV/status/1026809502002241537
Der Zivildienst war einmal gratis, man verdiente sogar ganz gut. Dass heute Menschen beziehungsweise ihre Eltern bereit sind, für eine ähnliche Erfahrung Geld draufzulegen, zeigt, wie wertvoll diese ist.
Eine Sache, die nicht viel verspricht, aber alles hält
Leider argumentieren die Fürsprecher des Gesellschaftsjahres aus anderen Gründen, wie ich finde: den falschen. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer sagte: „Eine Dienstpflicht kann dazu beitragen, sowohl die Herausforderungen im Sozialen als auch bei der Verteidigung unseres Landes besser zu bewältigen.“
Das Argument ist schwach, weil es nicht stimmt. Der Vorschlag von der Dienstpflicht war erst wenige Stunden alt, da äußerten Caritas, Diakonie und das Rote Kreuz schon Bedenken daran, ihre Strukturen mit ungelernten Kräften zu fluten. Und die Bundeswehr? Sie hat ihre Rekrutierungsprobleme vor allem in komplizierten Jobs wie dem des Hubschraubermechanikers oder des Spezialisten für Antriebsturbinen. Jetzt wieder Tausende Schulabgänger durch die Kasernen zu schleusen, warnen manche, wäre bei der Suche nach wirklichen Experten nur hinderlich.
Die Dienstpflicht kann nicht Risse kitten, denen die Politik zu lange beim Wachsen zugesehen hat: die klamme Bundeswehr, die unattraktiven Pflegeberufe. Das hat sie aber auch nie getan. Es entstünden „keine Lücke in unserer Pflegearbeit“, kommentierte 2011 eine ostdeutsche Pflegedienstleiterin die Abschaffung des Zivildienstes. „Es sind die Zivis und die FSJler, die für die 1.000 kleinen Dinge Zeit hatten.“
Das Gesellschaftsjahr müsste das werden, was der Zivildienst immer war. Eine Sache, die nicht viel verspricht, aber dafür alles hält. Die niemand Konkurrenz macht und trotzdem eine wichtige Aufgabe erfüllt. Ein bisschen wie ein Dosenöffner.
Redaktion Rico Grimm. Schlussredaktion Vera Fröhlich. Aufmacherbild: Martin Gommel.
In einer früheren Version hieß es, die Schulpflicht würde in Deutschland 12, nicht 9 Jahre dauern. Wir haben das korrigiert.