Du steckst bis zu den Ellbogen in einer Kuh. Sie kalbt gerade, hat aber keine Kraft mehr, deshalb musst du jetzt eingreifen, im Geburtskanal tastest du nach den Füßen des Kalbs. Du bist aufgeregt und wild entschlossen, denn es ist zwar nicht deine erste Geburt, aber bis jetzt warst du immer nur als Helfer dabei, hast den Schwanz der Kuh hochgehalten oder beim Rausziehen des Kalbs geholfen – was auch immer dein Vater verlangt hat, der seit 25 Jahren Tiere auf dem Hof eurer Familie Tiere auf die Welt bringt. Diesmal aber ist er nicht da, in dieser kalten Winternacht bist du also auf dich allein gestellt.
Die Szene ist aus dem Leben des jungen Schriftstellers John Connell, der sie erlebt hat, als er für ein Jahr auf den Hof seiner Eltern in Irland zurückgekehrt ist. Seinen Schreibtisch in der Stadt hat er gegen den Stall eingetauscht, seine Hände, die lange nichts Härteres als eine Computertastatur gewöhnt waren, schaufeln nun Mist, reißen Futtersäcke auf und ziehen ungeborene Kälber und Lämmer auf die Welt. Connell ist erst 29, aber hinter ihm liegen schon die ersten Schritte einer vielversprechenden Karriere, eine zerbrochene Verlobung und eine schwere Depression. Eigentlich kommt er auf die Farm, um einen Roman zu schreiben. Daraus wird nichts, stattdessen schreibt er „The Cow Book” – eine Erzählung über die uralte Beziehung zwischen Mensch und Rind.
Ein verdammt unromantisches Leben
Wen soll das interessieren? Landwirte kennen die Welt, von der Connell schreibt, sie brauchen sein Buch nicht. Aber genau das macht seine Erzählung so besonders: Er hat sie für Leser geschrieben, die keine Ahnung von Rindern oder überhaupt vom Landleben haben. Für Menschen, die Kühen und Bauernhöfen im Alltag bestenfalls zweidimensional begegnen, als idyllische Bilder auf Milch– und Butterpackungen.
Gerade weil Connell beides genau kennt, die Großstadt und den Hof, kann er erklären, wie das scheinbar perfekt idyllische Landleben wirklich ist. Nämlich manchmal verdammt unromantisch. Gleichzeitig liebt er dieses Leben und warnt vor einer Realität, bei der die Tiere, die uns ernähren, nur noch weit weg auf irgendwelchen Riesenhöfen vorkommen. Rinder und Menschen waren über Jahrtausende Gefährten und haben sich gegenseitig sogar biologisch beeinflusst. Wenn wir diese Beziehung wegschmeißen, meint Connell, verlieren wir etwas Wichtiges.
Der Hof von Connells Eltern ist genau das, was man sich unter Landwirtschaft gern vorstellt: Ein kleiner Hof im Familienbesitz, mit Rindern, Schafen, Pferden, wo der Bauer jedes Tier persönlich kennt und jedes kranke Kalb zählt. Wo es noch einen Bullen gibt, der die Kühe bespringt, nicht nur tiefgekühltes Sperma aus dem Kunststoffröhrchen. Höfe wie dieser sind gesellschaftlich erwünscht, weil sie den Bauernhofbildern in unseren Köpfen entsprechen. Sie sind das Gegenteil der „Tierfabriken”, gegen die in Berlin zuletzt im Januar dieses Jahres 33.000 Menschen auf die Straße gegangen sind.
Für die Bewohner der scheinbar heilen Bauernwelt aber bedeuten sie knochenharte Arbeit, die wenig Geld abwirft und nur mit Glück ohne Verluste zu machen ist. Sie stehen unter Druck, müssen ständig wachsen, modernisieren und sich spezialisieren, wenn sie ihre Kosten decken wollen. In Deutschland schließen immer mehr kleine Tierbetriebe, dafür wachsen die Bestände der großen. Über zwei Drittel der Rinder stehen in Betrieben, die mindestens 100 Tiere halten. Kleine Höfen sind dabei nicht automatisch tierfreundlicher, denn während bei den größeren Betrieben Laufställe üblich sind, sind die Tiere bei den kleineren manchmal noch angebunden nebeneinander aufgereiht und können nur aufstehen oder sich hinlegen.
Mit Hipster-Bart im Kuhstall
In Irland, wo der Hof der Connells steht, sind Hühner– und Schweinezucht schon weitgehend industrialisiert. Bei der Rinderhaltung sieht es noch anders aus, die meisten Rinder werden in kleinen Herden gehalten. Irische Butter und irisches Rindfleisch sind berühmt, was auch daran liegt, dass die grüne Insel gegenüber Deutschland einen entscheidenden Vorteil hat: Dank der dünn besiedelten Landschaft und des milden Golfstromklimas ist es in Irland günstiger, die Tiere auf der Wiese grasen zu lassen, statt sie im Stall zu halten und mit Kraftfutter zu füttern. Bis zu neun Monate im Jahr verbringen die irischen Rinder auf der grünen Weide. Zu 90 Prozent fressen sie Gras und Grassilage.
Connell weiß, was ihn erwartet, als er nach Irland zurückkehrt, er ist auf dem Hof groß geworden. Aber seine Zeit in der großen weiten Welt hat ihre Spuren hinterlassen. Wenn er in Gummistiefeln vor dem Kuhstall steht, wirkt er dank Brille und Hipster-Bart wie ein Praktikant aus der Großstadt.
Auch sein Vater zweifelt daran, dass der Junge das Zeug zum Bauern hat. Als die rote Kuh in jener Winternacht kalbt, kämpft Connell deshalb nicht nur um das Leben ihres Nachwuchses. Er will seinem Vater beweisen, dass er kein verlorenes Kind ist, sondern ein Mann, der die Dinge im Griff hat.
Er schafft es, ein Seil an die Beine des Kalbs zu binden, bringt das Seil an einer Winde an, und zieht das Kalb auf die Welt. Als es den Kopf hebt, weiß er, dass es geschafft ist. Das Kalb wird leben.
Was ist so heilsam daran, Scheiße zu schaufeln?
Bevor er in diesem Stall stand, ist Connell in Australien dem Traum vom Erfolg als Autor und Filmemacher hinterhergejagt, hatte dank einer reichen Verlobten keine finanziellen Sorgen. Nach allgemein akzeptierten Maßstäben hätte er glücklich sein müssen. Aber der Stress höhlt ihn aus. Eines Morgens wacht er auf und bekommt einen Weinkrampf. Er reißt sich zusammen, weil ein Mann das halt tut, versucht weiterzumachen. Er trinkt, macht Sport, will keine Medikamente, und doch hörte das Weinen nicht auf. Innerhalb weniger Wochen zerfällt das Leben, das er sich vier Jahre lang aufgebaut hatte.
In gewisser Weise, schreibt er später, habe die Arbeit auf der Farm ihm das Leben gerettet.
Was ist das für eine Kraft, die er aus dieser Arbeit zieht? Was ist so heilsam daran, Scheiße zu schaufeln und eine Jacke zu tragen, die nach Schaf-Fruchtwasser riecht?
John Connell ist Landromantik fremd, dafür ist er zu sehr Bauernsohn. Er weiß, dass die Schweinefabriken in seinem Land wichtige Arbeitgeber sind. Und dass mit Tieren arbeiten nicht nur schön und niedlich ist, sondern bedeutet, dem Dreck und Gestank des Daseins, dem Leben und Sterben sehr nah zu sein: Weil du manchmal einem ungeborenen Lamm den Kopf mit dem Messer abhacken muss, weil sonst auch die Mutter stirbt. Weil bei den Nachbarn ein Vater und drei Söhne in der Güllegrube umkommen, da sie, betäubt von den aufsteigenden Gasen, hineinfallen. Weil eine Kuh dich spielerisch an die Wand drängt und dich dabei fast aufspießt. Der Bauer aus dem Bilderbuch hat einen sehr gefährlichen Job.
Und doch ist Connells Erzählung voller Gefühl für das harte Leben auf dem Hof und damit eine Lebensart, die immer seltener wird. Gerade weil er sie verlassen hat, um in die große weite Welt zu gehen, sieht er in den Rindern jetzt nicht mehr nur Vieh, sondern Gefährten. „Sie sind nicht nur Fleisch, sondern auch Persönlichkeiten, Erinnerungen, Gefühle. Aber das ist kein Unternehmerdenken. Und Landwirtschaft ist vor allem anderen ein Geschäft, sagt man mir”, schreibt Connell. Sein Vater gibt sich unsentimental und pragmatisch und sagt, dass für ihn eine Herde Kühe nur Geld auf Beinen sei. Wie kommt es dann, fragt sich der Sohn, dass der alte Bauer nachts aufsteht, weil er instinktiv weiß, wann eine Kuh kalbt, wann ein krankes Tier ihn braucht?
Ein Diener der Kühe
Connell beschreibt, wie wir die Kuh zu einem Gegenstand gemacht haben, eine Art nachwachsende Ressource, die endlos ausgebeutet werden kann. Das versorgt die Welt mit Steaks und Gulasch, aber es hat einen Preis, den man mittlerweile nur dann verneinen kann, wenn man ganz fest die Augen zukneift: Den Tieren geht es schlechter. Und den Menschen auch, weil diese einseitige Beziehung uns kalt und zynisch macht.
Wenn man sich Bilder von Rindern aus der Massentierhaltung ansieht, könnte man meinen, die Beziehung von Mensch und Rind sei schon immer eine gewesen, bei der das Tier den Kürzeren zieht. Tatsächlich haben in den etwa 8.000 Jahren, seit unsere Vorfahren die ersten Auerochsen gezähmt haben, nicht nur Menschen das Rind verändert, sondern auch umgekehrt. Ein Beispiel: Der Mensch ist nicht von Natur aus ein Milchverwerter. Drei Viertel der Weltbevölkerung bekommen Bauschmerzen, wenn sie Milch trinken, weil ihnen das Enzym Lactase fehlt. In Mittel– und Nordeuropa hingegen, wo die Menschen beim Übergang von der mittleren zur Jungsteinzeit sesshaft geworden sind und mit Ackerbau und Viehzucht begonnen haben, vertragen neunzig Prozent der Erwachsenen problemlos Milch — dank einer Genmutation. Gleichzeitig passten sich aber auch die Kühe dem Menschen an: Ein internationales Forscherteam hat in dieser Studie festgestellt, dass die Milchviehhaltung zu einer besonders großen Vielfalt der „Milch-Gene” bei nordeuropäischen Rindern geführt hat.
Diese Koevolution ist ein Hinweis darauf, wie eng Rind und Mensch miteinander verbunden sind. In seiner Rolle als Stallausmister, Geburtshelfer, Krankenpfleger und Futterbringer scheint Connell sich manchmal zu fragen, wer hier eigentlich wen domestiziert hat. „Ich bin ein Diener der Kühe“, schreibt er. Damit bringt er eine Idee auf den Punkt, die in der wissenschaftlichen Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung weit verbreitet ist: Sie besagt, dass die Domestizierung wilder Tiere eine Art Vertrag zwischen Mensch und Tier darstellt, der beiden Seiten Vorteile bringt. Der Mensch schützt das Tier vor Räubern, Unwetter und anderen Gefahren und sorgt für Futter, Wasser und Wärme. Das Tier wiederum „gibt” dafür, je nach Tierart, etwas zurück: Wolle, Milch oder Fleisch zum Beispiel, aber auch Schutz – wie bei Hunden – oder einfach Gesellschaft. In dieser Denkart stellt es keinen Vertragsbruch dar, wenn ab und zu ein Tier geschlachtet wird – so lange der Großteil der Herde erhalten bleibt.
Ob das ein faires Arrangement ist, darüber kann man streiten. Sicher ist wohl, dass erst die intensive Tierhaltung diesen Vertrag in totale Ausbeutung verwandelt hat. Massentierhaltung funktioniert nach dem Grundprinzip, dass maximaler Output bei minimalen Kosten erzielt werden muss. Den einzigen Vorteil, den Nutztiere dabei noch haben, ist ein Überleben durch Masse, weil es einfach enorm viele von ihnen gibt. Ansonsten wird einem Rind oder Schwein bei einer sekundengetakteten Fließbandproduktion kaum mehr Würde zugestanden als einem Schrank.
Das Wohl von Mensch und Tier lässt sich nicht trennen
Das ist ziemlich effizient, wenn das Ziel ist, die Welt mit Fleisch zu versorgen. Aber Tierwohl und Menschenwohl lassen sich nicht so säuberlich voneinander trennen, wie die hygienisch verpackte Wurst im Supermarkt suggeriert. Um das zu sehen, muss man noch nicht einmal über Nebenprodukte wie Umweltgift und antibiotikaresistente Keime Bescheid wissen.
Es reicht, Connells Geschichte zu lesen und zu verstehen, dass es dabei nicht nur um die Wurzelsuche eines jungen Iren geht. Sondern um den modernen Menschen an sich, dem Natur und Tierwelt vielleicht erst schmerzhaft fremd werden müssen, bevor er sie wieder schätzen kann. Connell jedenfalls hat so seinen Lebenswillen wiedergefunden.
„Es war natürlich nicht alles schlecht in der Stadt: Es gab Theater und Discos, Fitnessstudios und Cafés, Restaurants und junge Menschen. Doch während ich in meiner Eigentumswohnung lebte, vermisste ein Teil von mir die Kühe, diese Lebensart. Es war eine Art Einsamkeit, die ich nicht ganz in Worte fassen konnte. Jetzt denke ich, dass das Leben mit Tieren geteilt werden sollte, nicht nur mit anderen Menschen.”
Redaktion: Susan Mücke. Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacherbild: unsplash / Stijn te Strake).